Urteil des OLG Karlsruhe vom 29.11.2004

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OLG Karlsruhe Beschluß vom 29.11.2004, 1 Ss 157/04
Strafaussetzung zur Bewährung: Besondere Umstände für eine günstige Sozialprognose trotz mehrfachen Bewährungsbruchs
Leitsätze
1. Ist der Angeklagte mehrfach bewährungsbrüchig, so bedarf es des Vorliegens besonderer Umstände, um erneut eine positiven Prognose stellen
zu können.
2. Solche können sich daraus ergeben, dass sich der Angeklagte zur Überwindung einer bestehenden und die Straftaten auslösenden Alkoholsucht
einer Therapie unterzogen und bereits über einen längeren Zeitraum ein straffreies Leben ohne Alkoholkonsum geführt hat. Mit diesen Umständen
muss sich der Tatrichter im Urteil auseinander setzen.
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts U. vom 19. Mai 2004 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen
aufgehoben, soweit die Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Strafkammer des Landgerichts U. zurückverwiesen.
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht Z. verurteilte den Angeklagten am 11. Juni 2003 wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung und wegen
Urkundenfälschung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung. Das Gericht ordnete außerdem eine
isolierte Fahrerlaubnissperre von drei Jahren und ein Fahrverbot von drei Monaten an.
2
Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch - insbesondere auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung - beschränkte Berufung des
Angeklagten verwarf das Landgericht U. am 19. Mai 2004 mit der Maßgabe als unbegründet, dass das Fahrverbot entfällt.
3
Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten.
II.
4
Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.
5
Der allein zur Nachprüfung stehende Rechtsfolgenausspruch begegnet hinsichtlich der verhängten Strafen keinen durchgreifenden Bedenken.
Soweit es das Landgericht abgelehnt hat, die verhängte Freiheitsstrafe von neun Monaten zur Bewährung auszusetzen, hält die Begründung
einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie leidet an einem Erörterungsmangel.
6
Dem Tatrichter kommt bei der Beantwortung der Frage, ob die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen ist, weil zu erwarten ist,
dass der Angeklagte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen wird und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine
Straftaten mehr begehen wird (§ 56 Abs. 1 StGB), ein weiter Bewertungsspielraum zu, in dessen Rahmen das Revisionsgericht jede
rechtsfehlerfrei begründete Entscheidung hinzunehmen hat. Ein Eingreifen kommt nur bei Rechts- und Ermessensfehlern in Betracht.
7
So liegt es hier. Die Würdigung des Landgerichts ist unvollständig und daher rechtlich zu beanstanden, weil sie nicht alle für die
Prognoseentscheidung bedeutsame Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen hat.
8
Ausschlaggebend für die Ablehnung einer günstigen Sozialprognose war für die Kammer ersichtlich das wiederholte und massive
Bewährungsversagen des Angeklagten, der die ihm durch das Amtsgericht K im Jahre 1996 wegen einer einschlägigen Straftat bewilligte
Strafaussetzung zur Bewährung nunmehr zum vierten Mal und darüber hinaus außerdem die ihm durch das Amtsgericht Z im Oktober 2000
bewilligte Bewährung gebrochen hat. Dieses strafrechtlich relevante Vorleben des Angeklagten, insbesondere sein bisheriges
Bewährungsverhalten, ist freilich ein gewichtiger Prognosefaktor. In solchen Fällen mehrfachen Bewährungsversagens bedarf es daher
regelmäßig besonderer Umstände, um erneut eine positiven Prognose stellen zu können (vgl. Senat NJW 2003, 1263 ff.; BayObLG NStZ-RR
2003, 105 f.). Eine erneute Strafaussetzung zur Bewährung darf aber auch nicht von vornherein und nur aufgrund des Bewährungsversagens
abgelehnt werden (vgl. BGH, NStZ 1983, 454; StV 1991, 346 f.; Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl., § 56 Rn. 6). Eine umfassende Abwägung aller
Prognosefaktoren ist in Fällen des Bewährungsbruchs jedenfalls dann unerlässlich, wenn nunmehr neue Umstände vorliegen, die prognostisch
günstig sein können, weil sie auf eine Änderung der bisher strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen hindeuten.
9
Insoweit hat die Strafkammer zwar festgestellt und „zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt“, dass er seit der Begehung der
verfahrensgegenständlichen Taten im Dezember 2002 ein straffreies Leben ohne Alkoholkonsum geführt hat, seiner Arbeit bei der Firma Lidl
nachgegangen ist und sich - möglicherweise auch aus Furcht vor dem drohenden Strafvollzug - einer Gesprächstherapie unterzogen hat, um
seinen Umgang mit Alkohol auch in bisher kritischen Situationen in den Griff zu bekommen. Bei dieser Sachlage hätte das Landgericht sich
erkennbar mit der Frage auseinander setzen müssen, ob angesichts der daraus ersichtlichen Stabilisierung des Angeklagten und seiner
gezeigten Bereitschaft, seine Persönlichkeitsmängel therapeutisch anzugehen, jetzt von einer Strafaussetzung zur Bewährung erwartet werden
könnte, dass er diese Chance nutzt und künftig keine Straftaten mehr begeht. Es ist zu besorgen, dass das Landgericht mit dem zutreffenden,
wenn auch ohne nähere Erörterung der Einzelheiten erfolgten Hinweis auf das mehrfache Bewährungsversagen des Angeklagten seine jetzigen
Lebensumstände zu seinem Nachteil nicht hinreichend gewichtet hat.
10 Auf dem Erörterungsmangel kann das Urteil hinsichtlich der Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung beruhen. Die - bei Annahme einer
negativen Sozialprognose regelmäßig überflüssigen - Erwägungen der Strafkammer, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Verteidigung
der Rechtsordnung geboten sei, ist auch nicht tragfähig begründet. Eine solche Annahme liegt im Übrigen fern, da auch bei der rechtstreuen
Bevölkerung sich die Auffassung durchgesetzt hat, dass eine therapeutische Aufarbeitung persönlichkeitsbedingter Regelverstöße eher geeignet
ist, künftig Straftaten zu vermeiden als kurzfristiger Strafvollzug.