Urteil des OLG Karlsruhe vom 08.11.2010

OLG Karlsruhe: schöffengericht, beweiswürdigung, beweismittel, abrede, augenschein, daten, auflage, grenzwert, laden, schweigen

OLG Karlsruhe Beschluß vom 8.11.2010, 2 Ws 405/10
Leitsätze
Zum besonderen Umfang einer Sache im Sinne von § 24 Abs 1 Nr 3 GVG
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts ... vom 23. September 2010 dahin abgeändert, dass das
Hauptverfahren vor der Großen Strafkammer des Landgerichts ... eröffnet wird.
Gründe
I.
1
Mit der 91 Seiten umfassenden Anklage vom 12.06.2009, eingegangen beim Landgericht ... am 17.06.2009, beschuldigt die Staatsanwaltschaft
...die Angeklagten der gewerbsmäßigen, bei den Angeklagten Ziff. 1 bis 3 bandenmäßigen, unerlaubten Veranstaltung eines Glückspiels in vier,
drei, zwei Fällen, im Übrigen in je einem Fall. Den Angeklagten liegt zur Last, zahlreiche Unterhaltungsspielgeräte, die keine Bauartzulassung
und keine Zulassungszeichen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt besessen hätten, ohne Erlaubnis in den von ihnen betriebenen
Spielhallen zu Geldspielgeräten umfunktioniert und hierdurch hohe Einnahmen erzielt zu haben.
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Mit der Anklage erstrebt die Staatsanwaltschaft neben der Verurteilung der Angeklagten auch die Einziehung der Spielgeräte, den Verfall von
sichergestelltem Bargeld und die Anordnung von Wertersatz im Gesamtbetrag von rund 4 Millionen Euro bei den Angeklagten und drei
Einziehungs- und Verfallsbeteiligten.
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Mit Beschluss vom 23.09.2010 hat die Strafkammer das Hauptverfahren eröffnet und die Anklage zur Verhandlung vor dem erweiterten
Schöffengericht zugelassen. Sie ist der Auffassung, dass das Verfahren keinen besonderen Umgang i. S. von § 24 GVG aufweise, so dass eine
Zuständigkeit der Großen Strafkammer nicht begründet sei.
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Gegen diesen am 05.10.2010 zugestellten Beschluss hat die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde erhoben, die am 11.10.2010 beim
Landgericht ... einging.
II.
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Die sofortige Beschwerde ist begründet.
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Von „besonderem Umfang" im Sinne von § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG ist auszugehen, wenn die Sache von den üblicherweise von den Amtsgerichten
zu verhandelnden Fällen abweicht und sich deutlich aus der großen Masse der Verfahren, die den gleichen Tatbestand betreffen, heraushebt
(KK-Hannich StPO 6.Aufl. § 24 GVG Rn 6b; Meyer-Goßner StPO 53. Aufl. § 24 GVG Rn 7), wenn sie mithin wegen einer Vielzahl von Angeklagten
und/oder einer Vielzahl von Zeugen, wegen besonderer Schwierigkeiten bei der Beweiswürdigung oder wegen absehbar langer
Verfahrensdauer so umfangreich ist, dass sie auch durch die Zuziehung eines weiteren Richters am Amtsgericht gem. § 29 Abs. 2 GVG nicht
sachgerecht bewältigt werden kann (OLG Köln NStZ-RR 2009, 117f). Dabei ist der Grundsatz, dass bewegliche Zuständigkeitsregelungen im
Hinblick auf die knappen Ressourcen der Rechtspflege so auszulegen sind, dass die Zuweisung umfangreicher Fälle mit besonderen
Schwierigkeiten der Beweiswürdigung und langer Verfahrensdauer an Gerichte höherer Ordnung geboten ist (Senat in StV 2003, 13f.; KG NStZ-
RR 2005, 28f), zu beachten.
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Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs ist ein besonderer Umfang des Verfahrens im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der
Strafkammer offensichtlich gegeben.
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Die gegenwärtig aus sieben Bänden bestehenden Hauptakten umfassen über 4.000 Aktenseiten. Hinzukommen ausweislich des
Schlussberichts der Kriminalpolizei 19 Bände Nebenakten. Die angeklagten Taten erstrecken sich über einen Zeitraum von vierzehn Monaten.
Das Verfahren richtet sich gegen fünf Angeklagte, die zu den Anklagevorwürfen entweder schweigen oder sie in Abrede stellen. Dazu kommen
drei Verfalls- oder Einziehungsbeteiligte. Bei dieser Sachlage ist zu erwarten, dass die auf 28 Seiten der Anklage aufgelisteten Beweismittel in
der Hauptverhandlung mindestens zu einem erheblichen Teil verwendet werden müssen. Dort sind 77 Zeugen, mehrere
Sachverständigengutachten, weit über 100 Urkunden - gewerberechtliche Erlaubnisse, Handelsregisterauszüge, Kassenbücher etc. - und über
50 Augenscheinsobjekte verzeichnet. Das sichergestellte Videomaterial, das möglicherweise in der Hauptverhandlung in Augenschein
genommen werden muss, umfasst über 160 Stunden Aufnahmezeit. Ferner hat die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 17.08.2009 zu
Anträgen der Verteidiger, das Verfahren vor dem Amtsgericht zu eröffnen, nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass es im Rahmen der
Beweisaufnahme erforderlich sein kann, die von den 53 Spielgeräten abgespeicherten Daten in die Hauptverhandlung einzuführen und mit
anderen Beweisergebnissen in Beziehung zu setzen. Von den benannten Zeugen sind vierundzwanzig in Frankreich zu laden, und es ist
abgesehen von den damit möglicherweise verbundenen Verfahrensverzögerungen zu erwarten, dass ein Teil von ihnen unter Zuhilfenahme von
Dolmetschern vernommen werden muss.
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Bei einer zusammenfassenden vorläufigen Bewertung dieser Umstände erachtet der Senat es als durchaus wahrscheinlich, dass die
Hauptverhandlung in der vorliegenden rechtlich und tatsächlich schwierigen Sache den in der Literatur gelegentlich genannten „Grenzwert“ von
sechs Tagen (Heghmanns in StV 2003, 14 und DRiZ 2005, 290) um ein Vielfaches überschreiten wird. Allein die Vernehmung der Zeugen kann
auch bei günstigem Verlauf ohne weiteres zehn Tage in Anspruch nehmen. Der sehr erhebliche, mehrere Tage erfordernde
Einarbeitungsaufwand kommt hinzu. Ein solcher Verfahrensumfang kann bei einem Amtsgericht auch nicht durch das gemäß § 29 Abs. 2 GVG
erweiterte Schöffengericht aufgefangen werden, denn das erweiterte Schöffengericht nach § 29 Abs. 2 GVG ist kein gesonderter Spruchkörper
mit eigenen Personalressourcen (KK-Hannich StPO 6. Auflage § 29 GVG Rn 6). Die Bestimmung erlaubt es lediglich, im Rahmen des
allgemeinen schöffengerichtlichen Dezernats bei umfangreichen Verfahren einen weiteren Richter beizuziehen. Für Verfahren mit dem hier
eindeutig gegebenen besonderen Umfang verbleibt es jedoch bei der Zuständigkeit der Großen Strafkammer.
10 Der angefochtene Beschluss war deshalb dahin abzuändern, dass die Anklage zur Verhandlung vor der Großen Strafkammer zugelassen wird.