Urteil des OLG Karlsruhe vom 31.08.2006

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OLG Karlsruhe Beschluß vom 31.8.2006, 1 AK 39/06
Europäischer Haftbefehl: Ausschreibung zur Festnahme im Schengener Informationssystem
Leitsätze
1. Eine Ausschreibung eines Mitgliedstaates der Europäischen Union im Schengener Informationssystem (SIS)
zur Festnahme eines Verfolgten gilt nur dann als Europäischer Haftbefehl i.S.d. §§ 83a Abs.1 und 2 IRG, wenn
diese eine ausreichende Beschreibung der Tatumstände enthält (Fortführung von Senat StV 2005, 232 = StraFO
2005, 165 = VRS 108, 297).
2. Ermöglicht eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) nicht einmal eine zureichende Prüfung
der Strafbarkeit des Verfolgten und eine Subsumtion unter einen Straftatbestand, so ist auch der Erlass eines
vorläufigen Auslieferungshaftbefehls nicht möglich.
3. Im Falle einer Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) ist die kurzfristige Beiziehung von
weiteren Haftunterlagen durch das Oberlandesgericht nicht angezeigt, wenn eine unverzügliche Entscheidung über
die Haftfrage geboten ist.
Tenor
1. Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe auf Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls wird
abgelehnt.
2. Der Verfolgte ist unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
Gründe
1 Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe auf Erlass einer Haftanordnung kann nicht entsprochen
werden.
2 Der am 23.8.2006 festgenommene Verfolgte ist Bezugsperson einer Ausschreibung der französischen
Justizbehörden im Schengener Informationssystem (SIS) aufgrund eines Haftbefehls des Gerichts in
C./Frankreich vom 28.7.2006. Hierin wird ihm unter dem Gesichtspunkt der bandenmäßig begangenen Hehlerei
folgendes vorgeworfen:
3
„Am 6.2.2002 wird ... im Tunnel von F. nach M. angehalten/festgenommen, als er Möbel und Gegenstände
transportierte, die aus einem Diebstahl stammen, der in der Nacht vom 5.2.2002 auf den 6.2.2002 in C.
begangen wurde, wobei die Tat bandenmäßig begangen wurde“.
4 1. Die Voraussetzungen zum Erlass eines Auslieferungshaftbefehls liegen nicht vor. Zwar reicht nach § 83a
Abs.2 IRG hierfür auch eine Ausschreibung des Verfolgten im Schengener Informationssystem (SIS) aus,
erforderlich ist aber auch insoweit, dass diese die in § 83a Abs.1 IRG bezeichneten Angaben enthält. Danach
bedarf es insbesondere einer ausreichende Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen
wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Tatbeteiligung der gesuchten Person (§ 83a Abs.1 Nr. 5
IRG), welche in Fällen, in denen - wie hier - die Tat nicht ersichtlich und nachvollziehbar zu den in § 81 Nr. 4
IRG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 RbEuHb bezeichneten Deliktsgruppen gehört, auch die nach Art.3 Abs. 1 IRG gebotene
Prüfung möglich ist, ob das dem Verfolgten vorgeworfene Verhalten nach deutschem Recht strafbar ist. Hieran
fehlt es, weil die Ausschreibung in diesem wesentlichen Punkt (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 10.8.2006, 1
AK 30/06) lückenhaft ist. Nach dieser wird dem Verfolgten weder die Begehung eines Diebstahls noch eine
strafrechtlich relevante Beteiligung an einem solchen oder an der Weiterverwertung der Tatbeute vorgeworfen,
sondern ihm liegt lediglich der Transport aus einem Diebstahl stammender Möbel und Gegenstände zur Last.
Dies wäre aber nach deutschem Recht nach § 259 StGB nur dann als strafbewehrt anzusehen, wenn der
Verfolgte von der Vortat - zumindest in Form des bedingten Vorsatzes - gewusst und in dieser Kenntnis den
Transport durchgeführt hätte. Hierzu enthält die Ausschreibung keine Angaben. Eine gegenteilige Bewertung
verschließt sich trotz der zeitlichen Nähe zwischen Diebstahl und Transport der Beute deshalb, weil der
Verfolgte bei seiner Anhörung vor dem Haftrichter angegeben hat, das Transportgut auf einem Flohmarkt gekauft
und der französischen Polizei bei der Fahrzeugkontrolle sogar entsprechende Kaufquittungen vorgelegt zu
haben. Hinzu kommt, dass die Ausschreibung auch jeden Hinweis auf den Wert des Transportgutes vermissen
lässt und damit eine Prüfung, ob und inwieweit der Verfolgte in Bereicherungsabsicht i.S.d. § 259 StGB
gehandelt hat, nicht möglich ist.
5 2. Auch der von der Generalstaatsanwaltschaft K. beantragte Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls
(zu dieser Möglichkeit vgl. Senat StV 2005, 232) scheidet aus Rechtsgründen aus, weil auch hierfür eine
Tatbeschreibung erforderlich ist, die eine zureichende Prüfung einer Strafbarkeit des Verfolgten und eine
Subsumtion unter einen Straftatbestand ermöglicht (vgl. Senat, Beschluss vom 15.8.2005, 1 AK 40/05,
Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2006, § 16 Rn. 16 m.w.N.). Auch
dieser Anforderung wird die in der Ausschreibung erfolgte Umschreibung des dem Verfolgten vorgeworfenen
Verhaltens nicht gerecht.
6 3. Der Senat hat die Vornahme von weiteren Ermittlungsmaßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts,
insbesondere die kurzfristige Beiziehung von Haftunterlagen der französischen Justizbehörden, erwogen,
hiervon jedoch aus folgenden Gründen abgesehen:
7 Der Verfolgte verfügt in Italien über einen festen Wohnsitz, so dass er als Bürger der Europäischen Union nicht
als wohnsitzlos angesehen werden kann. Seine Einlassung, er habe der Polizei anlässlich der Fahrzeugkontrolle
seine Wohnanschrift in Italien angegeben, erscheint nach Aktenlage ebenso glaubhaft, wie seine Bekundung, in
der Folgezeit trotz seiner Erreichbarkeit nichts mehr von den französischen Justizbehörden gehört zu haben,
zumal der Haftbefehl des Gerichts in C./Frankreich vom 28.7.2006 mehr als vier Jahre nach dem der
Ausschreibung zugrunde liegenden Vorfall ergangen ist. Bei dieser Sachlage vermag der Senat nicht davon
auszugehen, dass sich der Verfolgte einem Ermittlungs- oder Strafverfahren der französischen Justizbehörden
entziehen wollte und eine solche Befürchtung für die Zukunft bestehen würde. Hinzu kommt, dass die
Ausschreibung auch keine Angaben zum Wert des Transportgutes trifft, so dass - auch einer Haftanordnung
entgegenstehende - etwaige Auslieferungshindernisse nach § 73 Satz 2 IRG nicht beurteilt werden können.
8 Bei dieser Sachlage war ein Zuwarten im Hinblick auf etwaige weitergehende Erkenntnisse aus den eigentlichen
Haftanordnungen der französischen Justizbehörden nicht möglich, sondern unverzüglich - die Akten gingen erst
am 30.8.2006 beim Oberlandesgericht ein - über die Haftfrage des sich aufgrund einer bloßen
Festnahmeanordnung nach § 19 IRG schon acht Tage in Haft befindlichen Verfolgten zu entscheiden. Dies
führte zu Ablehnung des Erlasses eines - auch vorläufigen - Auslieferungshaftbefehls und zur unverzüglichen
Anordnung der Freilassung des Verfolgten.