Urteil des OLG Karlsruhe vom 17.02.2003

OLG Karlsruhe: fahrverbot, geschwindigkeitsüberschreitung, aufmerksamkeit, einwirkung, höchstgeschwindigkeit, nachlässigkeit, härte, fahrlässigkeit, innerorts, ausnahmefall

OLG Karlsruhe Beschluß vom 17.2.2003, 1 Ss 167/02
Verkehrsordnungswidrigkeit: Fahrverbot bei beharrlicher Pflichtverletzung; Übersehen eines Verkehrszeichens wegen grob pflichtwidrig
unterlassener Aufmerksamkeit
Leitsätze
Auf ein sog. Augenblicksversagen wegen bloßen Übersehens eines Verkehrszeichens kann sich derjenige nicht berufen, der durch sein vorheriges
sorgfaltswidriges Verhalten selbst in grob nachlässiger Weise zu seiner eigenen Unaufmerksamkeit beigetragen hat.
Das gilt auch für den Fall einer beharrlichen Pflichtverletzung nach §4 Abs. 2 Satz 2 BKatV, wenn bei einer innerörtlichen
Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h die an sich erlaubte Höchst-geschwindigkeit von 50 km/h in erheblicher Weise (hier: 9 km/h) überschritten
wird.
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts K. vom 27. September 2002 wird kostenpflichtig als unbegründet
verworfen.
Gründe
I.
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Das Amtsgericht hat die Betroffene wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 60 Euro
verurteilt und ihr gleichzeitig für die Dauer von einem Monat untersagt, Kraftfahrzeuge jeglicher Art im Straßenverkehr zu führen. Nach den
Feststellungen hatte sie am 27.02.2002 gegen 11.58 in Karlsruhe die Kaiserstraße vom Durlacher Tor kommend in Richtung W-Straße mit einer
Geschwindigkeit von 59 km/h befahren und dabei die dort angebrachte Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h missachtet.
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Hiergegen wendet sich die Betroffene mit ihrer Rechtsbeschwerde, mit welcher sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt und den
Wegfall des verhängten Fahrverbots anstrebt.
II.
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Der Rechtsbeschwerde bleibt ein Erfolg versagt.
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1. Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung nach §§ 41 Abs. 2 Nr. 7, 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO, 24 StVG ist vorliegend
in Rechtskraft erwachsen, da das Rechtsmittel wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt worden ist. Zwar hat der Verteidiger eine
solche Begrenzung nicht ausdrücklich erklärt, jedoch ergibt sich dies aus der Begründung der Rechtsbeschwerde zweifelsfrei (vgl. BGH NJW
1956, 756 f.; LR-Hanack, StPO, 25. Aufl. 1999, § 344 Rn. 9; die Entscheidung OLG Köln VRS 101, 218 ff. betrifft eine andere Fallgestaltung).
Diese wendet sich nur gegen das Fahrverbot, in dessen Verhängung sie eine unzumutbare Härte für die Betroffene sieht. Dass der Schuldspruch
selbst nicht der Anfechtung unterliegen soll, ergibt sich auch daraus, dass die Betroffene die ihr vorgeworfene Geschwindigkeitsüberschreitung
vor dem Amtsgericht nicht in Abrede gestellt und der Verteidiger in seinem Schlusswort auf die Verhängung einer erhöhten Geldbuße unter
Wegfall des Fahrverbot angetragen hat.
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Das Rechtsmittel erfasst gleichwohl den gesamten Rechtsfolgenausspruch, da zwischen der Höhe der Geldbuße und der Anordnung des
Fahrverbots eine Wechselwirkung besteht, die eine Beschränkung der Rechtsbeschwerde innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs allein auf die
Verhängung des Fahrverbots ausschließt (BGHSt 24, 11 ff.; OLG Karlsruhe NZV 1996, 206 f.; VRS 97, 198 f.).
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2. Die Verfahrensrüge ist nicht näher ausgeführt und deshalb bereits unzulässig.
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3. Auch die aufgrund der erhobenen Sachrüge erfolgte Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum
Nachteil der Betroffenen ergeben. Insbesondere ist das vom Amtsgericht verhängte Fahrverbot - die Geldbuße entspricht dem Regelfall nach
Nr.11.3.5 BKat - im Ergebnis nicht zu beanstanden, da gegen die Betroffene innerhalb der Frist eines Jahres vor seit der Entscheidung des
Amtsgerichts, nämlich am 29.05.2001, wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung um mindestens 26 km/h eine seit 05.07.2001 rechtskräftige
Geldbuße festgesetzt worden war und sie nunmehr erneut eine Geschwindigkeitsüberschreitung von mindestens 26 km/h begangen hat, was als
Regelfall nach § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV einen beharrlichen Pflichtverstoß i.S.d. § 25 Abs. 1 S.1 StVG indiziert, der regelmäßig der Denkzettel- und
Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbots bedarf (BGH NZV 1992, 117, 119; BayObLG NZV 1994, 327; OLG Köln NStZ-RR 1996, 52; OLG
Karlsruhe VRS 88, 476).
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a. Allerdings hat das Amtsgericht die Einlassung der Betroffenen, sie habe das die Geschwindigkeit beschränkende Verkehrsschild übersehen,
weil sie als in Karlsruhe Ortsfremde verstärkt auf Straßenschilder habe achten müssen und durch ein die Straßenbahnschienen verbotswidrig
benutzendes Fahrzeug abgelenkt worden sei, in den Urteilsgründen hingenommen, ohne die Glaubwürdigkeit dieser Angaben zu hinterfragen
und sich damit auseinander zu setzen. Eine solche nähere Befassung ist aber immer dann geboten, wenn ein Betroffener besondere Umstände
geltend macht, welche gegen die Annahme sprechen, das Verkehrsschild sei aufgrund grober Nachlässigkeit übersehen worden. Zur
Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Einlassung der mangelnden Wahrnehmung eines Verkehrszeichens kann es dabei insbesondere auf die
konkrete Aufstellung der Beschilderung und die baulichen Verhältnisse der befahrenen Straße ankommen, da sich oftmals einem
pflichtbewussten Fahrer die angeordnete Geschwindigkeitsbegrenzung geradezu aufdrängen muss (Senat, Beschluss vom 27.03.2001, 1 Ss
29/01; OLG Karlsruhe DAR 1998, 153; BayObLG NZV 1999, 4 ff.; OLG Naumburg ZfSch 2000, 318 f; Thüringer OLG OLG-NL 1995, 189; OLG
Hamm DAR 1999, 327; OLG Rostock DAR 1999, 277 f.).
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b. Beruht ein Verkehrsverstoß aber lediglich auf einer augenblicklichen Unaufmerksamkeit, wie sie jeden sorgfältigen und pflichtbewussten
Verkehrsteilnehmer einmal unterlaufen kann, so ist die Verhängung eines Fahrverbots nicht angezeigt, wenn der Verstoß nur auf einfacher
Fahrlässigkeit beruht (grundlegend BGHSt 43, 241 ff.; OLG Köln VRS 97, 375: „einzelnes Verkehrszeichen am linken Fahrbahnrand“). In solchen
Fällen des „Augenblicksversagens“ indiziert zwar der in der BKatV beschriebene Regelfall (hier: § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV) das Vorliegen einer
groben bzw. - wie hier - beharrlichen Pflichtverletzung i.S.d. § 25 Abs.1 StVG, es fehlt jedoch an einer ausreichenden individuellen
Vorwerfbarkeit. Ein Fahrverbot ist nämlich nur dann veranlasst, wenn der Verstoß auch subjektiv auf besonderes grobem Leichtsinn,
Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit beruht und einen so hohen Grad an Verantwortungslosigkeit aufweist, dass es zur Einwirkung auf d.
Betroffenen grundsätzlich eines ausdrücklichen Denkzettels durch ein Fahrverbot bedarf (vgl. ausführlich OLG Karlsruhe VRS 100, 460 ff., 463).
Auch bei einem beharrlichen Pflichtenverstoß i.S.d. § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV muss die
Geschwindigkeitsüberschreitung auf einem Mangel an rechtstreuer Gesinnung beruhen (OLG Hamm NStZ-RR 1999, 374 ff.; OLG Braunschweig
DAR 1999, 273 f.), woran es bei einem bloßen „Augenblicksversagen“ in der Regel fehlen wird.
10 c. Dass sich das Amtsgericht mit diesen Fragen, insbesondere des Vorliegens eines Augenblicksversagens, nicht auseinandergesetzt hat,
berührt den Bestand des Urteils ebenso wie die Wirksamkeit der Rechtsfolgenbeschränkung (vg. oben II. 1) nicht.
11 Auf nur „einfache Fahrlässigkeit“ kann sich nämlich derjenige nicht berufen, welcher die an sich gebotene Aufmerksamkeit in grob
pflichtwidriger Weise unterlassen hat (BGHSt 43, 241 ff.). Wer etwa während der Fahrt sein Autotelefon benutzt (KG, Beschluss vom 19.01.2000,
2 Ss 319/99), intensiv auf Wegweiser achtet (Senat VRS 98, 385 ff.) oder in einen Kreuzungsbereich zu schnell einfährt (BayObLG DAR 1999,
559 f.) kann nicht geltend machen, er habe nur versehentlich ein Verkehrszeichnen nicht wahrgenommen, denn durch sein vorheriges
sorgfaltswidriges Verhalten hat er selbst in grob nachlässiger Weise zu seiner eigenen Unaufmerksamkeit beigetragen. Eine grob pflichtwidrige
Missachtung der gebotenen Aufmerksamkeit liegt aber auch dann vor, wenn der Verkehrsteilnehmer nicht nur die durch Zeichen 274
angeordnete Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h, sondern auch die innerörtlich zulässige Geschwindigkeit von 50 km/h in erheblicher Weise
überschreitet. In einem solchen Fall beruht der Verkehrsverstoß nicht auf einer augenblicklichen Unaufmerksamkeit, sondern auf der
Nichtbeachtung weiterer Sorgfaltspflichten (OLG Köln DAR 2001, 469 f.).
12 So liegt der Fall auch hier, da die Betroffene die innerörtlich zulässige Geschwindigkeit mit gemessenen 59 km/h nicht eingehalten hat. Zwar
deutet die Höhe der Überschreitung um 9 km/h nicht auf ein bewusstes und gewolltes Verhalten hin (so aber OLG Köln a.a.O.; vgl. auch krit.
deutet die Höhe der Überschreitung um 9 km/h nicht auf ein bewusstes und gewolltes Verhalten hin (so aber OLG Köln a.a.O.; vgl. auch krit.
Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Auflage 2003, StVG, § 25 Rn. 23 m.w.N.), dies ist aber auch nicht erforderlich. Es genügt, wenn sich die
Missachtung der gebotenen Aufmerksamkeit aus anderen Umständen ergibt. Von einer unerheblichen Überschreitung der an sich erlaubten
innerstädtischen Geschwindigkeit kann bei einem Tempo von 59 km/h ohnehin nicht die Rede sein (ähnlich KG, Beschluss vom 26.07.2001, 2 Ss
305/00 „Überschreitung um 11 km/h“; vgl. auch Nr. 11.3.1 BKat, welcher hierfür ein Bußgeld von EUR 15 vorsieht), zumal - wie dem Senat von
Amts wegen bekannt - die Fahrbahn zu Beginn der Kaiserstraße in Karlsruhe auf eine Fahrspur je Fahrtrichtung verengt ist, was an sich schon
die Reduzierung der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit nahe legt. Auch ist zu sehen, dass die Betroffene ihrer eigenen Einlassung
zufolge ortsfremd war und deshalb ein besonders vorsichtiges Fahrverhalten angezeigt gewesen wäre. Schließlich zeigen die beiden
einschlägigen Vorverurteilungen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung und die bereits einmal erfolgte vergebliche Einwirkung durch ein
Fahrverbot, dass es die Betroffene mit der Einhaltung der Vorschriften im Straßenverkehr nicht so genau nimmt. Im Rahmen einer
Gesamtabwägung ist der Senat daher der Ansicht, dass trotz des Zusammenwirkens entlastender Umstände (Wiederholungsfall nach § 4 Abs 2
Satz 2 BKatV, Übersehen eines Verkehrszeichens, keine vorsätzliche Tat) die Anordnung eines Fahrverbots wegen der Beharrlichkeit der
Pflichtverletzung angezeigt ist.
13 d. Es liegt auch kein Fall vor, in welchem ausnahmsweise von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen werden kann, weil der
Sachverhalt zu Gunsten der Betroffenen eine derart erhebliche Abweichung vom Normalfall aufweist, dass der notwendige Warneffekt auch ohne
Verhängung eines Fahrverbots durch bloße Erhöhung der Geldbuße erreicht werden kann (§ 4 Abs. 4 BKatV). Ein solcher Ausnahmefall kann
insbesondere dann vorliegen, wenn das Fahrverbot zu einer beruflichen Härte ganz außergewöhnlicher Art wie dem Existenzverlust bei einem
Selbständigen oder dem Verlust des Arbeitsplatzes bei einem Arbeitnehmer führen würde (OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 313 f.;2001, 344 f.).
Hiervon kann jedoch nicht ausgegangen werden.
14 Nach den getroffenen Feststellungen ist die Betroffene seit Januar 2002 als Außendienstmitarbeiterin tätig und vertreibt Finanzdienstleistungen
... . Räumlich ist sie für Süddeutschland, die Schweiz und Österreich zuständig, wobei sie wegen wahrzunehmenden Terminen auch in
ländlichen Gebieten auf ihr Kraftfahrzeug (jährliche Fahrleistung 35.000 km) angewiesen ist und nicht auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen
kann.
15 Diese Feststellungen rechtfertigen ein Absehen vom Fahrverbot jedoch nicht. Berufliche Folgen auch schwerwiegender Art reichen für die
Annahme eines Ausnahmefalles nicht aus, da sie mit einem Fahrverbot sehr häufig verbunden sind. Der Betroffenen ist es daher grundsätzlich
zuzumuten, diese Nachteile durch Inanspruchnahme von Urlaub, der vorrübergehenden Beschäftigung eines Fahrers oder der Kombination
dieser Maßnahmen auszugleichen (OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 313). Auch wenn das Amtsgericht keine Feststellungen zu ihren
Einkommensverhältnissen getroffen hat, bestehen vorliegend in Anbetracht der beruflichen Stellung der Betroffenen keine Bedenken an der
zeitlich begrenzten Zumutbarkeit derartiger Ersatzmaßnahmen, ggf. muss ein Kredit aufgenommen werden.
16 Dass ein Verlust des Arbeitsplatzes allein wegen der Anordnung des Fahrverbots drohen würde (zu den hierfür notwendigen Feststellungen
einer nachgewiesenen tatsächlichen Gefahr der Kündigung, vgl. OLG Koblenz NZV 1997, 48; OLG Celle NZV 1996, 182), hat das Amtsgericht
nicht festgestellt und ist auch der Rechtsbeschwerde nicht zu entnehmen.
17 Bei dieser Sachlage hat das Amtsgericht zu Recht von der Möglichkeit der Erhöhung der Geldbuße unter Wegfall des Fahrverbots abgesehen. In
Anbetracht von zwei einschlägigen Vorverurteilungen bedarf es vorliegend einer nachdrücklichen Einwirkung, um die Betroffene zukünftig zu
verkehrsgerechten Verhalten zu veranlassen. Durch Bemessung der Dauer des Fahrverbots auf einen Monat hat das Amtsgericht dabei den
persönlichen Umständen der Betroffenen ausreichend Rechnung getragen.
III.
18 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 473 StPO, 46 OWiG.