Urteil des OLG Karlsruhe vom 17.10.2002

OLG Karlsruhe: treu und glauben, satzung, öffentliche aufgabe, tarifvertrag, lückenfüllung, rente, anpassung, auflösung, unterliegen, versorgung

OLG Karlsruhe Urteil vom 17.10.2002, 12 U 56/02
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 18.01.2002 - 6 O 243/01 - wird zurückgewiesen.
2. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 18.01.2002 - 6 O 243/01 - wie folgt abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
3. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Zwangsvollstreckung kann durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abgewendet werden,
wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
5. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
1
I. (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO)
2
Auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochten Urteils wird Bezug genommen. Zum besseren Verständnis wird insoweit wiederholend
ausgeführt:
3
Der Kläger begehrt von der Beklagten mit Wirkung vom 01.01.2001 eine höhere Zusatzversorgung, bei der seine Vordienstzeiten voll
angerechnet werden sowie rückwirkend ab dem 01. Mai 1993 die Berücksichtigung der Lohnsteuer nach Steuerklasse III / 0.
4
Der am ..... 1934 geborene Kläger bezieht seit dem 02. September 1991 eine Versorgungsrente der Beklagten. Seit dem... 1992 ist er wieder
verheiratet (I 19). Bei der Berechnung der Versorgungsrente hat die Beklagte seit der Verrentung des Klägers Vordienstzeiten zur Hälfte
angerechnet und in den Mittelungen bei der Berechnung des Nettoversorgungssatzes für die Lohnsteuer die Lohnsteuerklasse I / 0
zugrundegelegt (Mitteilung vom 14.03.1995 AH 1-33, AH 9). Mit Schreiben vom 30.04.2001, eingegangen bei der Beklagten am 02.05.2001 (I
27/39; AH 35-41) hat der Kläger der Beklagten die Heirat mitgeteilt und die Berücksichtigung beantragt. Mit Mitteilung vom 23.07.2001 hat die
Beklagte rückwirkend zum 01.06.2001 bei der Errechnung des fiktiven Nettoarbeitsentgeltes nach § 41 Abs. 2 c der Satzung die Steuerklasse III /
0 zugrundegelegt (I 43 ff., 85).
5
Mit der am 28.06.2001 erhobenen Klage begehrt der Kläger noch vollumfänglich Anerkennung der Steuerklasse III / 0. Mit Schriftsatz vom
01.08.2001 wurde der Rechtsstreit bezüglich der ab dem 01.06.2001 verlangten Berücksichtigung der Steuerklasse III / 0 für erledigt erklärt (I 43).
Die Beklagte hat der Erledigungserklärung zugestimmt.
6
Das Landgericht hat mit Urteil vom 18.01.2002, auf das Bezug genommen wird, festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab dem
01.01.2001 eine Versorgungsrente für Versicherte auf der Grundlage einer gesamtversorgungsfähigen Zeit von 535 Monaten zu gewähren,
längstens bis zu dem Zeitpunkt, an dem im Rahmen einer Satzungsreform zu den Vordienstzeiten (§ 42 Abs. 2 VBLS) eine neue, geänderte
Regelung wirksam wird.
7
Im Übrigen hat das Landgericht - soweit die Hauptsache nicht für erledigt erklärt worden ist - die Klage als unbegründet abgewiesen, soweit der
Kläger die zugrunde der Steuerklasse III / 0 bereits vor Antragstellung rückwirkend bis 01. Mai 1993 begehrt.
8
Hiergegen wenden sich die Berufungen der Parteien jeweils soweit, als sie im ersten Rechtszug unterlegen sind.
9
Die Parteien ergänzen und vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen. Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die vorbereitenden
Schriftsätze Bezug genommen.
10
II. (§ 540 Abs. 1 Nr. 2 ZPO)
11 Zur Berufung der Beklagten:
12 Die Beklagte ist nicht verpflichtet, ab dem 01.01.2001 eine Versorgungsrente für Versicherte auf der Grundlage einer gesamtversorgungsfähigen
Zeit von 535 Monaten zu gewähren, längstens bis zu dem Zeitpunkt, an dem im Rahmen einer Satzungsreform zu den Vordienstzeiten (§ 42 Abs.
2 VBLS) eine neue, geänderte Regelung wirksam wird.
13 Die Rentenbezieher, zu denen die klagende Partei gehört, werden nach Auffassung des Senats von der Entscheidung des BVerfG vom
22.3.2000 nicht unmittelbar betroffen. Insoweit ist die Satzung der Beklagten - isoliert betrachtet - nicht unwirksam, obwohl sie in §§ 42 Abs.2, 40
VBLS eine Schlechterstellung gegenüber sonstigen Leistungsbeziehern der Beklagten enthält. Das BVerfG hat ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass die Regelung für die eine noch relativ kleine Gruppe darstellenden Rentenbezieher, zu denen die klagende Partei gehört, noch als
zulässige Typisierung und Generalisierung im Rahmen einer komplizierten Materie angesehen werden kann. Nur für die jüngere
Versichertengenerationen gilt dies nicht mehr. Hier ist nach Auffassung des BVerfG, welcher der Senat beitritt, eine Art. 3 Abs.1 GG
entsprechende Regelung zu schaffen. Die Rentenbezieher, zu denen die klagende Partei gehört, können eine Anpassung ihrer Bezüge jedoch
allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung mit den Versicherten einfordern, die als derzeit noch Versicherte von der Entscheidung
des BVerfG vom 22.3.2000 betroffen sind. Für die letztgenannte Gruppe lag bis zur Entscheidung des Senats keine der Entscheidung des BVerfG
vom 22.3.2000 entsprechende Neuregelung in der Satzung der Beklagten zur Berücksichtigung von Vordienstzeiten vor, weshalb die
Rentenbezieher, zu denen die klagende Partei gehört, derzeit auch keine zusätzlichen Leistungen einfordern können. Der Vorgabe des BVerfG
vom 22.3.2000 kann für die jüngere Versichertengeneration nach Auffassung des Senats allein schon dadurch entsprochen werden, dass eine
für die Zeit ab 1.1.2001 - auch rückwirkend - geltende Regelung getroffen wird. Erst in diesem Rahmen wird die Regelung der
Leistungsansprüche des hier interessierenden Personenkreises mit zu regeln sein.
14 Selbst wenn man annehmen wollte, über Art. 3 Abs. 1 GG sei für die klagende Partei die Halbanrechnung in § 42 Abs. 2 VBLS unzulässig
geworden, könnte dies der Klage auch in dem beschränkten Umfang, wie dies das Landgericht annimmt, nicht zum Erfolg verhelfen. In diesem
Zusammenhang muss nämlich die besondere Rechtsnatur der Beziehungen der Parteien dieses Rechtsstreits beachtet werden. Der hier infrage
stehende Versicherungsvertrag ist ein zivilrechtlicher Gruppenversicherungsvertrag, bei dem die Arbeitgeber als Beteiligte Versicherungsnehmer
und die versorgungsberechtigten Arbeitnehmer Versicherte sind (BGH VersR 1988, 575). Innerhalb dieser Rechtsbeziehungen kommt der
Satzung der Beklagten die Bedeutung von AGB zu. Sie unterliegt damit der richterlichen Inhaltskontrolle, wobei zu prüfen ist, ob Verstöße gegen
§ 9 AGBG, § 242 BGB und - da die Beklagte eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt - gegen Grundrechte - insbesondere das Gleichheitsgebot -
vorliegen (BGH VersR 1999, 210). Wegen der Einordnung der Rechtsbeziehungen als Gruppenversicherungsvertrag ist dabei vorrangig auf die
Interessen der Gruppe der betroffenen Versicherten abzustellen, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, ob die Neuregelung für den im Einzelfall
belasteten Versorgungsberechtigten Wirkungen entfaltet, die nicht beabsichtigt sein können und auch im Rahmen einer Härteklausel
berücksichtigt werden müssten (vgl. BGH VersR 1988, 575). Nicht der Inhaltskontrolle unterliegen allerdings so genannte maßgebende
Grundentscheidungen der beteiligten Sozialpartner. Bei solchen Grundentscheidungen bleibt es dem Konsens der Sozialpartner vorbehalten, in
welchem Maß die Versorgung der Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes und deren Hinterbliebenen an die Versorgung der
Beamten angeglichen werden soll. Gerichte haben diese Entscheidungen grundsätzlich hinzunehmen (vgl. BGH VersR 1988, 575; 1986, 259;
1986, 360). Die Grundrechte und insbesondere das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG sind lediglich innerhalb des durch die Grundentscheidungen
gezogenen Rahmens von Bedeutung. In diesem Zusammenhang soll auch darauf hingewiesen werden, dass der Gesetzgeber nunmehr in § 310
Abs. 4 Satz 3 BGB n.F. Tarifverträge den Rechtsvorschriften gemäß § 307 Abs. 3 BGB n.F. gleichgestellt und damit Tarifvertragsbestimmungen
nur umsetzende Geschäftsbedingungen - mit Ausnahme der Unklarheitenregelung des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB n.F. - der Inhaltskontrolle nach
§§ 307, 308 und 309 BGB n.F. entzogen hat.
15 Die Bindung an die Grundentscheidungen der Tarifpartner hat insbesondere für die Frage einer ergänzenden Vertragsauslegung zur Schließung
einer Regelungslücke Bedeutung. Im Gegensatz zu den klassischen Fällen der ergänzenden Vertragsauslegung haben die Parteien dieses
Rechtsstreits selbst hinsichtlich der Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses nur eingeschränkte Gestaltungsmacht. Auch ein vertragliches
Austauschverhältnis besteht zwischen beiden Parteien regelmäßig nicht. Das Grundleistungsangebot kann die Beklagte nicht selbst gestalten,
sondern sie hat insoweit das von den Sozialpartnern ausgehandelte Ergebnis umzusetzen. Die Versicherten sind dagegen nur Begünstigte
eines Drittverhältnisses, wobei allerdings ihre Begünstigung wiederum eine Gegenleistung aus ihrem Beschäftigungsverhältnis darstellt.
16 Nach Auffassung des Senats kommt eine ergänzende Auslegung der Satzung grundsätzlich nur außerhalb des Bereichs in Betracht, der zu den
Grundentscheidungen der beteiligten Sozialpartner zählt, also bei den Regelungen, die auch einer richterlichen Inhaltskontrolle unterliegen.
Anders verhält es sich bei den Grundentscheidungen. Die Tarifvertragsparteien haben hier einen Entscheidungsspielraum und eine
Einschätzungsprärogative. Den Tarifvertragsparteien wird bereits von der Verfassung besondere Sachnähe zugetraut. Die Sachgerechtigkeit
einer Gruppenbildung können sie in der Regel besser einschätzen als ein Gericht. Im übrigen sind - was systembedingt hinzunehmen ist -
tarifliche Regelungen oft das notwendig kompromisshafte Ergebnis kontroverser Vertragsverhandlungen, weshalb an ihre Systemgerechtigkeit
nur äußerst geringe Anforderungen gestellt werden können. Nach der Rechtsprechung des BAG ist eine unbewusste tarifliche Regelungslücke in
einem Tarifvertrag von den Gerichten durch eine ergänzende Auslegung nur dann zu schließen, wenn sich unter Berücksichtigung von Treu und
Glauben ausreichende Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien ergeben. Fehlt es hieran, kommt eine
Lückenschließung nur dann in Betracht, wenn eine bestimmte Regelung nach objektiver Betrachtung zwingend geboten ist. Gibt es bei
tatsächlicher und rechtlicher Betrachtung mehrere Möglichkeiten, eine festgestellte Tariflücke zu schließen, bedarf es grundsätzlich einer
Entscheidung der Tarifvertragsparteien (BAG MDR 2001, 1173; BAGE 32, 364; BAGE 54, 30). Damit wird der Tarifautonomie Vorrang vor dem
allgemeinen Gleichheitssatz eingeräumt. Art. 9 Abs. 3 GG wird hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereichs von Tarifverträgen nur durch das
Verbot der Willkür des Art. 3 Abs. 1 GG und durch die Diskriminierungsverbote begrenzt. Die gebotene Berücksichtigung der Tarifautonomie kann
nicht ohne die aufgezeigten Folgen für die Problematik der ergänzenden Auslegung der Satzung der Beklagten bleiben.
17 Um eine solche Grundentscheidung handelt es sich aber bei der hier in Rede stehenden Behandlung von Vordienstzeiten, die in § 4 Abs. 1 c des
Versorgungstarifvertrages eine ausdrückliche Regelung erfahren hatte. Hierbei ist zu beachten, dass - wie bereits das BVerfG feststellt - von der
erforderlichen Neuregelung allein des von der Halbanrechnung betroffenen Kreises der Versicherten eine ganz erhebliche Gruppe der
gegenwärtigen und künftigen Leistungsbezieher betroffen ist. Im weiteren Zusammenhang sind - auch dies spricht das BVerfG an - sonstige
Anpassungen der Leistungen der Beklagten eingefordert. Darüber hinaus stehen - wie dem Senat und den Beteiligten aus anderen noch nicht
abschließend entschiedenen Rechtsstreiten bekannt ist - über den Satzungstext hinausgehende zusätzliche Leistungen im Bereich der Bezüge
der Versicherten aus den neuen Bundesländern sowie der unter die Fremdrentenregelung fallenden Leistungsbezieher zur Diskussion. Der
finanzielle Umfang der in Rede stehenden Maßnahmen geht - ohne dass es auf die genauen Zahlen ankäme - an die Substanz der
Zusatzversorgung. Damit stellt sich die erforderliche Neuregelung zumindest in dem erweiterten Zusammenhang als Maßnahme dar, die aus
Sicht der Tarifvertragsparteien das bisherige Regelungssystem in Frage stellt und Anlass bieten kann, auch systemverändernde tarifpolitische
Entscheidungen anzustreben. Hier wird das System bildlich gesprochen nicht nur unter Beachtung des Gleichheitsgebotes abgerundet, sondern
in seinen bisherigen Grundlagen betroffen.
18 Richtig ist allerdings, dass bei grundlegenden Verfassungsverstößen die Tarifhoheit nicht dazu führen kann, dass ein rechtsfreier Raum entsteht.
Eine Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung zur Beseitigung augenfälliger und grober Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG kommt
danach aus dem Gebot der Rechtsgewährung dann in Betracht, wenn - neben dem Satzungsgeber auch - die Sozialpartner bewusst untätig
bleiben (BAG BB 1983, 1034). Aber selbst unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich für die Entscheidung des vorliegenden Falls nicht anderes.
19 a) Allerdings müsste - böten sich dann für eine Regelung mehrere Möglichkeiten an, die alle im Rahmen des Spielraumes der
Tarifvertragsparteien liegen - nach den überkommenen Regeln der Lückenfüllung regelmäßig diejenige Ergänzungsmöglichkeit ausgewählt
werden, die dem Regelungssystem des Tarifvertrages am nächsten kommt und keine ergänzende oder zweckändernde rechtspolitische
Entscheidung erforderlich macht (BAG BB 1983, 1034). Dem entspricht auch die landgerichtliche Entscheidung. Nach Auffassung des Senats
kann diese Bindung aber für Fälle wie den vorliegenden wegen der Besonderheit der hier in Rede stehenden Regelungslücke nicht gelten.
20 b) Eine Beschränkung der ergänzenden Vertragsauslegung auf Beseitigung von Ungleichheiten im bisherigen System würde nach den unter 2
dargelegten Gründen in unzulässiger Weise in die Tarifhoheit eingreifen. Damit wird nur scheinbar von dem Grundsatz abgewichen, dass mit der
ergänzenden Vertragsauslegung in erster Linie auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen ist. Zwar sollen regelmäßig die Grundzüge
des konkreten Vertrages "zu Ende gedacht" werden. Dabei sind in erster Linie Anhaltspunkte heranzuziehen, die sich dem übrigen Vertragsinhalt
und den sonstigen im Zeitpunkt des Vertragsschlusses gegebenen Umständen entnehmen und die auf den tatsächlichen Willen der Parteien
schließen lassen. Hierauf ist aber die Ermittlung des für die ergänzende Auslegung maßgebenden hypothetischen Parteiwillens nicht beschränkt;
dieser ist vielmehr unter Einbeziehung einer objektiven Abwägung der beiderseitigen Interessen zu ermitteln (vgl. BGHZ 90, 69, 76, BGHZ 123,
281). Hierzu zählt bei Grundentscheidungen der Tarifpartner auch der stets anzunehmende Vorbehalt, bei einer Gefährdung des gesamten
Regelungssystems dieses im Grundsatz neu zu verhandeln und zu regeln.
21 c) Bei der ergänzenden Auslegung der Bestimmungen eines durch Tarifvertrag grundsätzlich geregelten Systems zusätzlicher Altersversorgung
kann nicht außer Betracht bleiben, dass - abgesehen vom einzelnen Leistungsbezieher in seiner konkreten, oft bedrängten Situation - nach
gegenwärtig allgemeiner Einschätzung - auf deren Richtigkeit es hierbei nicht ankommt - die Systeme der sozialen Sicherung an ihre Grenzen
stoßen in dem Sinne, dass eine Ausweitung, möglicherweise auch schon die Beibehaltung der bisherigen Leistungen die sie tragende
Volkswirtschaft überlasten. Rückwirkungen einer solchen Überlastung auf die Systeme der sozialen Sicherung werden ebenfalls allgemein
befürchtet. In diesem Zusammenhang werden deshalb gegenwärtig aus Gleichheitsgründen erforderliche Anpassungen von Leistungen, soweit
es um nicht nur eine unbedeutende Anzahl von Fällen geht, nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Aufstockung von Leistungen gesehen,
sondern - von Bestandschutzgesichtspunkten abgesehen - als Leistungsanpassungen auf allgemein geringerem Niveau. Dass die hier
angesprochenen Tarifvertragsparteien eine andere Sicht vertreten bzw. für durchsetzbar gehalten haben, konnte wohl schon das Landgericht mit
hinreichender Berechtigung nicht annehmen.
22 d) Das aber bedeutet nach Auffassung des Senats angesichts des insgesamt ungeklärten, erheblichen zusätzlichen Leistungsvolumens für eine
die Tarifhoheit nicht stärker als unbedingt erforderlich einschränkende ergänzende Auslegung der Satzung der Beklagten, dass die vom
Landgericht bereits herausgearbeitete und auch von BVerfG nicht verworfene -systemsprengende - Lösung einer allgemeinen
Nichtberücksichtigung von Vordienstzeiten nicht nur dem Kreis der möglichen Regelungen zugehört, sondern ihr als dem hypothetischen Willen
der Tarifvertragsparteien am ehesten entsprechenden Instrument zur Auflösung der Ungleichbehandlung der Vorzug gebührt hätte. Allerdings
verkennt der Senat die sich dadurch einstellenden Schwierigkeiten nicht. Im Falle bewusster Untätigkeit der Tarifpartner würde eine
entsprechende Vertragsergänzung lediglich zu einer Versagung des erweiterten Leistungsbegehrens der benachteiligten Gruppe führen,
während der die Ungleichbehandlung mit begründende erhöhte Leistungsbezug der bevorzugten Gruppe tatsächlich fortbestünde. Dieser
Gesichtspunkt spricht letztlich doch deutlich für den vom Landgericht eingeschlagenen Lösungsweg.
23 e) Die weiteren Voraussetzungen für eine ergänzende Auslegung haben jedoch weder zum Zeitpunkt der landgerichtlichen Entscheidung
vorgelegen noch liegen sie jetzt vor. Wie dargelegt kommt eine Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung zur Beseitigung
augenfälliger und grober Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG aus dem Gebot der Rechtsgewährung nur dann in Betracht, wenn die Sozialpartner
untätig bleiben. Steht eine Neuregelung an und betrifft sie den Streitgegenstand, so wäre der Rechtsstreit auszusetzen (BAG BB 1983, 1034).
Eine Untätigkeit der Sozialpartner kann hier nicht angenommen werden. Richtig ist zwar, dass die Satzung der Beklagten nicht bis zum
31.12.2000 geändert worden war. Ohne eine Grundentscheidung der Tarifvertragsparteien war die Beklagte insoweit aber selbst nicht
handlungsfähig. Die Halbanrechnung ist als § 4 Abs.1 c Bestandteil des Versorgungstarifvertrags. Die Regelungslücke selbst hat sich erst mit
dem 1.1.2001 aufgetan. Dass die Tarifvertragsparteien die schwierige Neuregelung danach in einer Weise hintangestellt haben, die eine
gerichtliche Entscheidung zur Lückenfüllung erforderlich gemacht hätte, kann nicht festgestellt werden.
24 Zwischenzeitlich liegt der Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (Tarifvertrag
Altersversorgung - ATV) vom 1.3.2002 vor. Nach dessen Präambel wird das bisherige Gesamtversorgungssystem mit Ablauf des 31.12.2000
geschlossen und durch ein an dem Grundsatz der Betriebstreue anknüpfendes Punktemodell ersetzt. Vordienstzeiten werden - abgesehen vom
Bestandsschutz - nicht mehr berücksichtigt, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
25 Über diese im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegende Grundentscheidung der Tarifvertragsparteien können die ordentlichen
Gerichte sich nicht hinwegsetzen. Für eine ergänzende Auslegung der bisherigen Satzung, die zu einer Leistungserhöhung für die klagende
Partei führen würde, bleibt kein Raum.
26 Zur Berufung des Klägers:
27 Die Berufung des Klägers, mit der dieser bei der Berechnung seines fiktiven Arbeitsnettoentgeltes eine Berücksichtigung der Steuerklasse III / 0
rückwirkend nach seiner Wiederverheiratung ab 01. Mai 1993 begehrt, ist in der Sache ohne Erfolg.
28 Die Beklagte kann sich - wie der Senat mit Urteil vom 29.03.2001 (12 U 173/00) entschieden hat - bei der Berücksichtigung von Änderungen der
Voraussetzungen für die Steuerklassen, die bei der Berechnung des fiktiven Arbeitsnettoentgeltes nach §§ 41 Abs. 1 a - c VBLS zugrunde zu
legen sind, nicht nur auf die Fälle einer Neuberechnung nach § 55 a VBLS und einer Anpassung nach - dem (erst) mit Wirkung vom 1.1.2002
entfallenen - § 56 Abs. 1 VBLS beschränken. Die Beklagte ist vielmehr gehalten, die den Antragsteller begünstigende Steuerklasse dem fiktiven
Nettoarbeitsentgelt ab dem 01. des Monats zugrunde zu legen, der auf den Eingang der Mitteilung folgt (Urteil des Senats vom 29.03.2001, 12 U
173/00). Hiervon ist das Landgericht zutreffend ausgegangen. Der Senat teilt auch die weiteren Erwägungen des Landgerichts und nimmt auf
diese zustimmend Bezug.
29 Die Satzung der Beklagten sieht keine Verpflichtung vor, ohne Antrag die Steuerklasse III / 0 rückwirkend der Berechnung der
Versorgungsbezüge zugrunde zu legen. Das Antragserfordernis stellt - worauf das Landgericht zutreffend hingewiesen hat - klar, dass es der
Entscheidungsbefugnis des Versorgungsempfängers vorbehalten bleiben soll, ob bei der Berechnung seiner Versorgungsrente die Steuerklasse
III / 0 oder I / 0 zu berücksichtigen ist. Der Versorgungsempfänger muss damit selbst prüfen und entscheiden, ob die Steuerklasse I / 0 oder III / 0
zugrunde zu legen ist. § 55a Abs.2 VBLS legt bei einer Neuberechnung der Rente fest, dass nur auf vorherigen Antrag eine andere nach § 41
Abs. 2 a bis 2 c maßgebende Steuerklasse zugrunde zu legen ist, wenn eine der Voraussetzungen des § 41 Abs. 2 c Satz 1 a und damit eine
Änderung der Steuerklasse von I / 0 zu III / 0 eingetreten ist. In § 41 Abs. 2 c Buchstabe a sind im einzelnen die Voraussetzungen für die
Steuerklasse III / 0 definiert. Insoweit hält die Satzung auch einer Inhaltskontrolle stand. Die Steuerklassen sind - zumindest was den
verheirateten Versorgungsrentenberechtigten - betrifft, nicht nur allgemeinverständlich gefasst, sondern folgen insoweit auch einer allgemein
verstanden Unterscheidung des für Bezüge und Belastungen mit maßgebenden Familienstands. Ebenso offenbar ist dem Berechtigten, dass
Leistungserhöhungen regelmäßig einen Antrag voraussetzen. Die Regelung ist daher weder überraschend oder unklar noch benachteiligt sie
die Berechtigten in unangemessener Weise. Dass sich - wie der Kläger meint -aus dem Wegfall des § 56 VBLS etwas anderes herleiten lässt,
trifft schon im Hinblick auf die oben zitierte Senatsentscheidung nicht zu. Nicht zu folgen vermag der Senat auch der Auffassung des Klägers,
eine satzungsgemäße Rückwirkung einer zwischenzeitlichen Auflösung der Ehe erfordere im Gegenzug eine ebensolche, von einem Antrag
unabhängige Berücksichtigung der Eheschließung für die Vergangenheit. Dabei wird übersehen, dass der Leistungsempfänger es jederzeit in
der Hand hat, leistungsverbessernde Umstände mitzuteilen, während die Beklagte darauf angewiesen ist, dass sie von
leistungseinschränkenden Veränderungen - pflichtgemäß durch den Leistungsempfänger - in Kenntnis gesetzt wird.
30 Das Klageziel ist auch nicht unter schadensrechtlichen Gesichtspunkten zu erreichen. Eine nebenvertragliche Informations- und
Belehrungspflicht der Beklagten besteht insoweit nicht. Dass sich im Fall der Eheschließung Steuerklasse und Bezüge ändern können, darf als
allgemein bekannt auch von der Beklagten vorausgesetzt werden. Diese positiven finanziellen Wirkungen sind weit eher Allgemeingut als die
vom Kläger herangezogenen Besonderheiten der gesetzlichen Rente und der anders strukturierten Rente im prämienfinanzierten privaten
Versicherungsverhältnis. Auf die Kenntnis von Rentenberatern und versicherungsmathematische Berechnungen kommt es dabei nicht an.
Entscheidend ist vielmehr, dass die Beklagte in Fällen der Eheschließung grundsätzlich davon ausgehen kann, dass auch ein über die
diesbezüglichen Regelungen der Satzung nur unzureichend informierter Rentenberechtigter jedenfalls bei ihr nachfragen und auf diesem Weg
auf das Erfordernis der Antragstellung hingewiesen werden wird. Diese berechtigte Erwartung steht der Annahme einer allgemeinen, nicht durch
konkrete Umstände veranlassten Informations- und Belehrungspflicht der Beklagten entgegen.
III.
31 Die Entscheidung über die Kosten folgt aus §§ 91, 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711,
108 Abs. 1 Satz 2 ZPO.
32 Die Revision ist gem. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zuzulassen.