Urteil des OLG Hamm vom 12.02.2010
OLG Hamm (wiedereinsetzung in den vorigen stand, termin, stpo, behandelnder arzt, verteidiger, hauptverhandlung, pflichtverteidiger, stand, wiedereinsetzung, verschulden)
Oberlandesgericht Hamm, 3 Ws 51/10
Datum:
12.02.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ws 51/10
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 3 Ns 56/09
Leitsätze:
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der
Berufungshauptverhandlung, wenn der Angeklagte auf die Auskunft
seines Verteidigers vertraut, die dem Verteidiger aufgrund einer
Erkrankung nicht mögliche Teilnahme an der Hauptverhandlung werde
aufgrund der Tatsache, dass er als Pflichtverteidiger beigeordnet worden
sei, zu einer Aufhebung des Hauptverhandlungstermins führen, der
Angeklagte brauche daher zu dem anberaumten Termin nicht zu
erscheinen.
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Dem Angeklagten wird auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhand-
lung gewährt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die in diesem Ver-
fahren dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen werden
der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
1
I.
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Der Angeklagte hat gegen das Urteil des Jugendschöffengerichts Bielefeld vom
20.05.2009 Berufung eingelegt. Termin für die Berufungshauptverhandlung wurde auf
den 14.12.2009, 9.00 Uhr anberaumt. Ausweislich eines Vermerkes der Geschäftsstelle
des Landgerichts Bielefeld teilte der Pflichtverteidiger des Verurteilten am 14.12.2009
um 8.15 Uhr telefonisch mit, dass er zum heutigen Hauptverhandlungstermin nicht
erscheinen könne, da er bettlägerig erkrankt sei. Eine entsprechende ärztliche
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Bescheinigung werde er noch im Laufe des Tages per Fax übersenden. Der Angeklagte
erschien in der Hauptverhandlung nicht. Durch Urteil des Landgerichts Bielefeld vom
14.12.2009 wurde darauf hin gem. § 329 StPO die Berufung des Angeklagten
verworfen, da der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne genügende
Entschuldigung ausgeblieben sei und auch nicht in zulässiger Weise vertreten gewesen
sei. Zur Begründung ist ausgeführt, zwar habe der Verteidiger des Angeklagten
fernmündlich mitgeteilt, er sei bettlägerig erkrankt; dies allein entschuldige das
Ausbleiben des Angeklagten im Termin jedoch nicht, zumal keine nachvollziehbare
Erklärung dafür vorliege, aus welchem Grund der Angeklagte selbst zum Termin nicht
erschienen sei.
Der Verteidiger übersandte noch am 14.12.2009 eine ihn betreffende, von dem Zahnarzt
H I1 in I ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den 14.12.2009, die per Fax
am selben Tage gegen 13.25 Uhr beim Landgericht Bielefeld eingegangen ist.
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Mit Schriftsatz vom 18.12.2009 beantragte der Pflichtverteidiger des Angeklagten
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der
Berufungshauptverhandlung am 14.12.2009. Zur Begründung führt er aus, er habe am
Sonntag, den 13.12.2009 an erheblichen Zahnschmerzen gelitten, die sich im Laufe des
Sonntags derart gesteigert hätten, dass abzusehen gewesen sei, dass er Montag, den
14.12.2009 sofort morgens seinen Zahnarzt würde aufsuchen müssen. Er habe alsdann
noch am Sonntag den Angeklagten angerufen und ihm mitgeteilt, dass er den Termin
am Montag nicht wahrnehmen könne sowie, dass in Anbetracht der Tatsache, dass er
als Pflichtverteidiger beigeordnet worden sei, infolge seiner Abwesenheit der Termin am
Montag, dem 14.12.2009 aufgehoben werde und der Angeklagte deshalb nicht nach C
fahren müsse. Nach dem erfolgten Zahnarztbesuch am Morgen des 14.12.2009 habe
ihn sein behandelnder Arzt als dienstunfähig angesehen, was durch Vorlage einer
entsprechenden Bescheinigung beim Landgericht nachgewiesen worden sei.
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Zur Glaubhaftmachung des vorgetragenen Sachverhalts nahm Rechtsanwalt I2 auf die
seinem Schriftsatz beigefügte eidesstattliche Versicherung vom 18.12.2009 Bezug.
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Die Strafkammer hat mit Beschluss vom 30.12.2009 den Wiedereinsetzungsantrag des
Angeklagten zurückgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt, allein aufgrund der
Auskunft seines Verteidigers über eine vermeintliche zukünftige Vorgehensweise der
Kammer auf eine – zudem nach der Darstellung des Verteidigers des Angeklagten zu
diesem Zeitpunkt noch gar nicht erfolgte – Mitteilung habe sich der Angeklagte, der über
die Folgen eines unentschuldigten Ausbleibens mit der Terminsladung belehrt worden
sei, noch nicht sicher darauf verlassen dürfen, dass er tatsächlich bei Gericht nicht zu
erscheinen brauche. Vielmehr hätte er sich bei dieser Sachlage am Morgen des
Terminstages, zumal frühestens zu diesem Zeitpunkt etwas hätte durch die Strafkammer
veranlasst werden können, zumindest durch eine telefonische Rückfrage bei Gericht
vergewissern müssen, ob der Hauptverhandlungstermin stattfinden werde.
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Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Angeklagten.
8
II.
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Die sofortige Beschwerde ist zulässig und hat in der Sache auch Erfolg.
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Dem Angeklagten war unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses
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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der
Berufungshauptverhandlung gem. § 329 Abs. 3 StPO i. V. m. § 44 StPO zu gewähren,
da ihn kein Verschulden hinsichtlich der Versäumung der Berufungshauptverhandlung
trifft. Allerdings war das Fernbleiben des Angeklagten am Hauptverhandlungstermin
nicht schon deshalb entschuldigt, weil sein Verteidiger nach dessen glaubhaft
gemachten Angaben krankheitsbedingt nicht in der Lage war, an dem
Hauptverhandlungstermin teilzunehmen. Entschuldigen kann den Angeklagten aber
auch das Vertrauen
auf einen - auch unberechtigten - Rat oder Hinweis des Verteidigers (vgl.
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Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 329 Rdnr. 29; OLG Hamm, Beschluss vom 06.03.2006
– 4 SsOWi 44/06 -; BeckRS 2006, 08808; NStZ-RR 1997, 113). Der Hinweis seines
Verteidigers, dass eine Pflicht des Angeklagten vor Gericht zu erscheinen, nicht
bestehe, ist aber nicht unbeschränkt und in jedem Falle geeignet, ein Verschulden des
Angeklagten auszuschließen. Vielmehr ist das Vertrauen auf einen derartigen Hinweis
des Verteidigers dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn sich dem Angeklagten nach der
konkreten Sachlage Zweifel aufdrängen müssen, ob der Hinweis seines Verteidigers
zutreffend ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 06.03.2006 – 4 SsOWi 44/06; BeckRS
2006, 08808 m. w. N.).
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Im vorliegenden Verfahren durfte der Angeklagte auf die Erklärung seines Verteidigers
vertrauen, so dass der Umstand, dass der Angeklagte sich auf dessen Hinweis
verlassen hat, ihm nicht als Verschulden zur Last gelegt werden kann. Es sind keine
Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Verteidiger des Angeklagten in der
Vergangenheit unzuverlässig gearbeitet hat und deshalb der Angeklagte Anlass hatte,
dessen Erklärung in Zweifel zu ziehen und zu überprüfen. Die Ausführungen des
Verteidigers des Angeklagten, aufgrund seiner Beiordnung als Pflichtverteidiger werde
seine Abwesenheit im Hauptverhandlungstermin am 14.12.2009 dazu führen, dass
dieser Termin aufgehoben werde, war insofern zutreffend und für den Ange-
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klagten als juristischen Laien auch plausibel, als eine Verhandlung in der Sache gegen
den Angeklagten ohne Mitwirkung seines Pflichtverteidigers bzw. eines an dessen
Stelle beigeordneten Pflichtverteidigers nicht hätte stattfinden dürfen und es bei einem
nur kurzfristigen Ausfall des bereits beigeordneten Pflichtverteidigers in der Regel
geboten ist, an Stelle der Bestellung eines neuen Pflichtverteidigers gem. § 145 Abs. 1
S. 2 StPO eine Aussetzung der Hauptverhandlung zu beschließen, um dem
Angeklagten einen Verteidigerwechsel zu ersparen (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 145
Rdnr. 9). Es wäre außerdem angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden
Zeitspanne kaum möglich gewesen, am Morgen des Terminstages noch rechtzeitig vor
Beginn der Hauptverhandlung um 9.00 Uhr einen neuen Verteidiger ausfindig zu
machen, der zur Übernahme der Pflichtverteidigung bereit gewesen wäre. Ein neu
bestellter Pflichtverteidiger hätte sich außerdem erst in die Sache einarbeiten müssen
und hätte daher mit großer Wahrscheinlichkeit gem.
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§ 145 Abs. 3 StPO eine Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung
beantragt. Der Verteidiger hatte allerdings bei seiner Mitteilung an den Angeklagten
übersehen, dass der Gesichtspunkt der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2
StPO erst bei einer Verhandlung zur Sache hätte berücksichtigt werden müssen und
dass auch erst mit Beginn der Sachverhandlung Anlass für eine Prüfung einer
Aussetzung der Hauptverhandlung wegen Verhinderung des Pflichtverteidigers
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bestanden hätte (vgl. OLG Hamm, NJW 1970, 1245; Bayrisches Oberstes Landgericht,
Urteil vom 24.03.1999 – 5 St RR 245/98 -, zitiert nach juris) sowie dass sich die Frage
einer Verhandlung zur Sache wiederum erst dann gestellt hätte, wenn der Angeklagte
zur Hauptverhandlung erschienen wäre. Diese rechtlichen Zusammenhänge lagen für
einen juristischen Laien aber keineswegs auf der Hand, ihr Erkennen erforderte
vielmehr detailliertere Fachkenntnisse auf dem Gebiet des Strafprozessrechts, über die
der Angeklagte sicherlich nicht verfügte. Es kann dem Angeklagten daher nicht als
Verschulden zur Last gelegt werden, dass er die Richtigkeit der ihm von seinem
Pflichtverteidiger erteilten Auskunft nicht in Zweifel gezogen hat. Da der Verteidiger des
Angeklagten nach den Ausführungen im Wiedereinsetzungsgesuch die Aussetzung
bzw. Verlegung des Hauptverhandlungstermins als sichere Folge seines
Nichterscheinens zu diesem Termin geschildert hatte, gereicht es dem Angeklagten
auch nicht zum Verschulden, dass er sich nicht am Morgen des 14.12.2009 zusätzlich
beim Landgericht Bielefeld danach erkundigt hatte, ob der Termin tatsächlich wegen der
krankheitsbedingten Verhinderung seines Pflichtverteidigers nicht stattfinden würde.
Dem Angeklagten war daher unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der
Berufungshauptverhandlung zu gewähren.
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III.
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Die Kosten- und Auslagenentscheidung hinsichtlich der gewährten Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand beruht auf § 473 Abs. 7 StPO, im Übrigen auf einer entsprechenden
Anwendung des § 473 Abs. 1, Abs. 3 StPO.
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