Urteil des OLG Hamm vom 12.03.2009
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Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss OWi 55/09
Datum:
12.03.2009
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss OWi 55/09
Vorinstanz:
Amtsgericht Minden, 15 OWi 26/08
Tenor:
1.
Die Sache wird dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern
übertragen.
2.
Die Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.
3.
Die Kosten des Rechtsmittels trägt der Betroffene.
Gründe
1
I.
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Das Amtsgericht hat den Betroffenen mit dem angefochtenen Urteil wegen fahrlässiger
Nichtbefolgung eines Wechsellichtzeichens (Rotlichtverstoß von mehr als einer
Sekunde) zu einer Geldbuße von 187,50 Euro verurteilt und ein einmonatiges
Fahrverbot (unter Gewährung der sog. "Viermonatsfrist") angeordnet (§§ 37 Abs. 2, 49
StVO, 24, 25 Abs. 2a StVG).
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Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde und rügt die
Verletzung materiellen Rechts.
4
II.
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Die Sache war zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dem Bußgeldsenat in
der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen (§ 80a Abs. 3 OWiG). Die Frage, ob ein
qualifizierter Rotlichtverstoß (Nr. 132.2. BKatV) bei einer gezielten Ampelüberwachung
aufgrund einer Schätzung eines Polizeibeamten, die auf Mitzählen ("eiundzwanzig,
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zweiundzwanzig") basiert, festgestellt werden kann, wird innerhalb des
Oberlandesgerichts unterschiedlich beantwortet. Der seinerzeitige 5. Senat für
Bußgeldsachen verneinte dies generell (NZV 2001, 177), während der erkennende
Senat dies grundsätzlich bejaht (NZV 2002, 577 und Beschl. v. 24.09.2007
– 3 SsOWi 620/07). Bei dieser Entscheidung handelt es sich um eine solche des
Einzelrichters Q.
7
III.
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Die zulässig erhobene Rechtsbeschwerde war als unbegründet zu verwerfen, da die
Nachprüfung des Urteils aufgrund der Beschwerderechtfertigung keinen Rechtsfehler
zum Nachteil des Betroffenen ergeben hat (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO).
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Näherer Erörterung bedarf lediglich, ob die Feststellung, dass die Lichtzeichenanlage
bei Überfahren der Haltelinie durch den Betroffenen bereits mehr als eine Sekunde "rot"
zeigte, von der Beweiswürdigung getragen wird.
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Darin heißt es, dass der Zeuge T, ein Polizeibeamter, am Tattage am Tatort eine
gezielte Rotlichtüberwachung durchführte. Aufgrund seiner Aufzeichnungen (an den
Vorfall selbst hatte er keine Erinnerung mehr) gab er an, dass er ca. 12 -13 Meter
entfernt von der Haltelinie gestanden und freie Sicht auf die Ampelanlage gehabt habe.
Zum Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie durch den Betroffenen habe die Ampel
schon zwei Sekunden "rot" gezeigt. Er habe beim Umspringen der Ampel auf "rot" in
Gedanken die Sekunden in Form von Zahlen von 21 an aufwärts gezählt und habe so
die Zeit, die bis zum Überfahren der Haltelinie durch den Betroffenen verstrichen war,
schätzen können. Er setze die Dauer der Rotphase eher zu niedrig als zu hoch an.
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Grundsätzlich kann – jedenfalls bei einer gezielten Ampelüberwachung – die
Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes aufgrund der Schätzung von
Polizeibeamten festgestellt werden, wenn der Polizeibeamte durch Zählen
("einundzwanzig, zweiundzwanzig") zu einer Schätzung gelangt, wonach die
Rotlichtphase bei Überfahren der Haltelinie schon mindestens zwei Sekunden
andauerte. Diese Schätzung muss aber für das Tatgericht und das
Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar sein. Deswegen muss das tatrichterliche Urteil
Feststellungen dazu enthalten, nach welcher Methode die Zeit geschätzt wurde und
Angaben zum Ablauf des Rotlichtverstoßes, zur Entfernung des Fahrzeugs zur
Lichtzeichenanlage und zu einer ggf. vorhandenen Haltelinie treffen (OLG Hamm
Beschl. v. 24.09.2007 – 3 SsOWi 620/07 – juris; OLG Hamm NZV 2002, 577; OLG
Düsseldorf VRS 93, 462, 463 f.; OLG Hamburg NZV 2005, 209, 210; OLG Köln VRS
106, 214, 215; vgl. auch OLG Jena Beschl. v. 29.10.2003 – 1 Ss 138/03 - juris).
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Entgegen der vom seinerzeitigen 5. Senat für Bußgeldsachen vertretenen Ansicht, dass
bei qualifizierten Rotlichtverstößen auch bei gezielter Ampelüberwachung eine
Schätzung durch Zählen nicht ausreiche (NZV 2001, 177, 178), ist der erkennende
Senat der Ansicht, dass dies durchaus der Fall sein kann, wenn die oben genannten
Voraussetzungen erfüllt sind.
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Es ist gesetzlich nicht ausgeschlossen, dass sich ein Gericht die notwendige
Überzeugung von einem qualifizierten Rotlichtverstoß über eine Schätzung eines
Zeugen verschafft. Es muss lediglich – nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 261 StPO nach seiner
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freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheiden. Es
genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit,
demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen (BGH NStZ-RR 2005, 149;
BGH NStZ 1988, 236; Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. § 261 Rdn. 2 m.w.N.). Es gibt
keinen Grund, warum der Tatrichter sich diese Überzeugung nicht aufgrund einer
Schätzung eines Polizeibeamten unter Einhaltung der oben genannten
Voraussetzungen verschaffen können sollte. Eine Schätzung ist zwar mit
Unsicherheiten versehen. Indes sind diese bei Einhaltung der dargestellten
Voraussetzungen soweit ausgeschaltet, dass ein ausreichendes Maß an Sicherheit
erreicht wird. Bei einer gezielten Rotlichtüberwachung ist den tätigen Polizeibeamten
bekannt, worauf es ankommt. Ihre Wahrnehmung ist daher entsprechend geschärft.
Kommen sie durch Zählen
("einundzwanzig, zweiundzwanzig") zu dem Schätzergebnis, dass die Rotlichtphase
schon zwei Sekunden andauerte, so bleiben keine vernünftigen Zweifel, dass die
Rotphase jedenfalls mehr als eine Sekunde andauerte.
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Etwaigen Schätzungenauigkeiten wird durch das Erfordernis, dass durch die Methode
des Nachzählens mindestens eine Rotphase von zwei Sekunden (jede der gedanklich
ausgesprochenen Zahlen "einundzwanzig, zweiundzwanzig" entspricht bei normaler
Sprechgeschwindigkeit – wenigstens – einer Sekunde) geschätzt werden muss,
hinreichend Rechnung getragen. Da die Polizeibeamten bei einer gezielten
Rotlichtüberwachung wissen, worauf es ankommt, ist ausgeschlossen, dass sie schon
vor Umspringen der Ampelanlage auf "rot" zu zählen beginnen. Es gibt auch keinen
vernünftigen Grund für die Annahme, dass der Beamte, der unter besonderen
Strafandrohung des § 344 Abs. 2 S. 2 StGB steht, etwa durch bewusstes besonders
schnelles Zählen versucht, einen Autofahrer zu Unrecht wegen eines qualifizierten
Rotlichtverstoßes zu belangen. Ein unbewusstes zu schnelles Zählen kann angesichts
von Ausbildung bzw. Erfahrung des Beamten und angesichts des Umstandes, dass, er
bei einer gezielten Rotlichtüberwachung weiß, worauf es ankommt und seine
Wahrnehmung besonders geschärft ist, ebenfalls ausgeschlossen werden. Ist darüber
hinaus auch ihre Beobachtungsposition so, dass sie sowohl Ampel, als auch den
Vorbereich und die Haltelinie im Blick haben, können keine Zweifel bestehen, dass
wenn sie aufgrund der Zählmethode zu einer Schätzung von mindestes zwei Sekunden
hinsichtlich des Andauerns der Rotlichtphase gelangen, diese jedenfalls mehr als eine
Sekunde bis zu ihrem Überfahrenwerden angedauert hat.
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Der Vorsitzende des (inzwischen wieder neu eingerichteten) 5. Strafsenats hat
mitgeteilt, dass dort an der Rechtsprechung des früheren 5. Strafsenats nicht
festgehalten wird. Auch die übrigen Strafsenate haben mitgeteilt, dass dort die
Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes im Rahmen einer gezielten
Ampelüberwachung durch Zählen in der oben beschriebenen Weise für zulässig
erachtet wird. Eine tragende Abweichung von der Entscheidung des Oberlandesgerichts
Brandenburg vom 03.08.1999 (2 SsOWi 101B/99 – juris) liegt nicht vor, da dort ein
Schätzung auf der Grundlage von Zählen bis zur Zahl "dreiundzwanzig" für
ausreichend, nicht aber für zwingend erforderlich erachtet wurde. Auch der
Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 04.11.2002 (DAR 2003, 85) lässt
sich nicht entnehmen, dass dort ein Zählen bis zur Zahl "dreiundzwanzig" zwingend für
erforderlich erachtet wird.
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Die eingangs genannten Voraussetzungen für eine Feststellung des qualifizierten
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Rotlichtverstoßes aufgrund der Zählmethode sind hier eingehalten. Das Urteil teilt mit,
dass es sich um eine gezielte Rotlichtüberwachungsmaßnahme handelte, das
Vorhandensein einer Haltelinie, die Beobachtungsposition des Zeugen und dass dieser
ca. 20 Meter vor der Ampel überblickte, wobei das Fahrzeug des Betroffenen, bei
Umspringen der Ampel auf "rot" noch gar nicht in seinem Blickfeld war, also noch weiter
als 20 Meter entfernt gewesen sein muss. Das Urteil teilt zwar nicht ausdrücklich mit,
dass der Zeuge bis "zweiundzwanzig" zu Ende gezählt hat (vgl. dazu OLG Köln VRS
106, 214, 215 f.). Dies lässt sich jedoch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe
hinreichend entnehmen, wenn es heißt, dass er eine Rotphase von zwei Sekunden
durch Zählen von einundzwanzig aufwärts ermittelt habe.
IV.
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Die Kosten des Rechtsmittels trägt der Betroffene (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1
StPO).
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