Urteil des OLG Hamm vom 18.11.2003
OLG Hamm: kreisverkehr, fahrbahn, kreisel, verschulden, beurteilungsspielraum, geschwindigkeit, fahrzeug, betriebsgefahr, breite, umgestaltung
Oberlandesgericht Hamm, 27 U 87/03
Datum:
18.11.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
27. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
27 U 87/03
Vorinstanz:
Landgericht Arnsberg, 1 O 622/02
Normen:
§§ 2, 9 a StVO
Leitsätze:
1.
Das Rechtsfahrgebot gilt auch im einspurigen Kreisverkehr. Es
bezweckt hier die Verminderung der Geschwindigkeit durch die
Kurvenfahrt und schützt insoweit den von rechts einfahrenden Verkehr.
2.
Ein "Schneiden" der Kreisbahn durch Ausnutzung der Fahrbahn bis zum
äußersten linken Rand ist daher regelmäßig unzulässig.
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 19. März 2003 verkündete
Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg teilweise abgeän-
dert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin
3337,97 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 12. Juli
2002 zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Berufung wird im übrigen zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten zu 65 % und die
Klägerin zu 35 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe (abgekürzt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO):
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Die Klägerin verlangt Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich in
einem einspurigen Kreisverkehr mit vier Zubringerstraßen ereignet hat, kurz
nachdem sie in den Kreisel hineingefahren ist. Das vom Beklagten zu 1) gesteuerte
Kraftfahrzeug rammte den Pkw der Klägerin im linken hinteren Bereich, nachdem
der Beklagte zu 1) die von der Klägerin aus gesehen in Fahrtrichtung vorherige
Zufahrt in den Kreisel benutzt und - unstreitig - über die gekennzeichnete Mittelinsel
des Kreisels hinweg gefahren war, weil er die von ihm aus gesehen in gerader
Richtung gegenüber liegende Ausfahrt benutzen wollte. Die Parteien streiten
darüber, welches Fahrzeug sich zuerst im Kreisverkehr befunden hat. Das
Landgericht hat die Klage abgewiesen.
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Die Berufung hat im erkannten Umfang Erfolg.
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Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Ersatz von zwei Dritteln
des ihr anlässlich des Verkehrsunfalls vom 27. Januar 2002 entstandenen
Schadens gemäß §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 18 StVG, 3 PflVG.
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Das Landgericht ist zwar davon ausgegangen, die Klägerin sei erst nach dem
Beklagten zu 1) in den Kreisverkehr eingefahren. Insoweit ist der Senat jedoch an
die Feststellungen im Tatbestand des angefochtenen Urteils nicht gebunden. Der
Tatbestand ist in sich widersprüchlich und entfaltet keine Beweiskraft i.S.d. § 314
ZPO (vgl. BGH NJW 1999,1339). Zwar ist die besagte Feststellung in seinem
unstreitigen Teil enthalten, bei der Darstellung des streitigen Vorbringens der
Klägerin ist jedoch deren Behauptung wiedergegeben, sie habe an der Einmündung
angehalten und niemanden bemerkt. Wenngleich es damit an der Darstellung der
eigentlich wesentlichen Behauptung der Klägerin, sich zuerst im Kreisverkehr
befunden zu haben, fehlt, ergibt sich deshalb auch aus dem Tatbestand selbst, dass
die Klägerin behaupten wollte, es habe sich kein vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug im
Kreisverkehr befunden.
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Nach dem Ergebnis des vom Senat deshalb eingeholten
Sachverständigengutachtens haben beide Parteien den
Unabwendbarkeitsnachweis i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG bereits aus dem Grunde nicht
geführt, weil nicht festgestellt werden kann, welches der Kraftfahrzeuge zuerst in
den Kreisverkehr gefahren ist. Der Sachverständige hat überzeugend ausgeführt,
aus technischer Sicht sei keine der von den Parteien geschilderten Varianten als
wahrscheinlicher anzusehen.
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Mit diesem Ergebnis lässt sich aber nicht die Abweisung der Klage rechtfertigen.
Nach ständiger Rechtsprechung dürfen bei der Ausgleichspflicht mehrerer
Unfallbeteiligter gemäß § 17 StVG nur tatsächlich bewiesene Umstände
herangezogen werden. Daraus folgt nach allgemeinen Beweisgrundsätzen, dass im
Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der eine Halter
die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen zum Verschulden gereichen.
Bleiben die Unfallursache und damit die ein Verschulden ergebenden Umstände
ungeklärt, kommt bei gleicher Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge eine hälftige
Schadensteilung in Betracht (BGH NJW 1996, 1405 m.w.N.). Im vorliegenden Fall
hat der ungeklärte Streit der Parteien darüber, wer zuerst in den Bereich des
Kreisverkehrs gefahren ist, also nicht zur Folge, dass eine der Parteien voll, die
andere dagegen nicht haftet. Die Unaufklärbarkeit des Geschehens geht vielmehr
grundsätzlich zu Lasten beider Parteien.
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Dennoch kommt eine gleichmäßige Schadensteilung im Streitfall nicht in Betracht.
Denn in die Abwägung sind hier besondere Umstände einzubeziehen, nach denen
ein Verschulden des Beklagten zu 1) und eine damit verbundene erhöhte
Betriebsgefahr des von ihm gesteuerten Fahrzeugs festzustellen ist. Der Beklagte
zu 1) hat eingeräumt, die Mittelinsel des Kreisels befahren und damit gegen § 9 a
Abs. 2 StVO verstoßen zu haben. Das Schneiden der durch die Kreisfahrbahn
beschriebenen Kurve unter Mitbenutzung der Mittelinsel ist grundsätzlich verboten
(Hentschel, 37. Aufl., § 9a StVO, Rdnr. 14). Ein Ausnahmefall i.S.v. § 9 a Abs. 2
StVO liegt nicht vor.
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Der Sachverständige hat hierzu im Termin ausgeführt, dass der Beklagte zu 1) den
Unfall hätte vermeiden können, wenn er der kreisförmig verlaufenden Fahrbahn
gefolgt und hierbei nicht scharf an der linken Fahrbahnbegrenzung entlang gefahren
wäre. Wäre der Beklagte dagegen unter Ausnutzung der vollen Fahrbahnbreite an
deren äußersten linken Rand gefahren, hätte es ebenfalls zum Zusammenstoß
kommen können. Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen kommt es für die
Entscheidung darauf an, ob der Beklagte den äußersten linken Rand der
einspurigen Kreisfahrbahn hätte befahren dürfen. Denn Schäden, die auch bei
einem rechtmäßigen Verhalten des Schädigers entstanden wären, werden vom
Schutzzweck der Haftungsnormen regelmäßig nicht erfasst (vgl. BGH NJW 2000,
661).
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Der Beklagte zu 1) hätte die Fahrbahn nicht bis zu ihrem äußersten linken Rand
befahren dürfen. Dies folgt aus dem auch im Kreisverkehr geltenden
Rechtsfahrgebot. In Rechtsprechung und Literatur ist grundsätzlich unumstritten,
dass das Rechtsfahrgebot aus § 2 Abs. 2 StVO auch im Kreisverkehr gilt (vgl. OLG
Schleswig, VM 1959, 65; Hentschel, § 2 StVO, Rdnr. 31), wobei allerdings
angenommen wird, dass es wenigstens im geballten innergroßstädtischen Verkehr
weitgehend an Bedeutung zurücktritt (vgl. OLG Celle, VM 1966, 45). Die zitierte
Rechtsprechung zum Rechtsfahrgebot im Kreisverkehr betrifft jedoch Sachverhalte,
in denen mehrere nebeneinander gelegene Fahrspuren vorhanden sind (vgl. auch
OLG Saarbrücken, NJW 1973, 2216).
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Das Rechtsfahrgebot gilt grundsätzlich aber auch im einspurigen Kreisverkehr. In
der Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch innerhalb einer Fahrbahn "möglichst
weit rechts" gefahren werden muss. Das Rechtsfahrgebot bestimmt insoweit nicht
nur, welche von mehreren nebeneinander gelegenen Fahrbahnen zu benutzen ist,
sondern gilt auch in der jeweiligen Fahrbahn selbst, also auch im Einbahnverkehr.
Was "möglichst weit rechts" ist, hängt ab von der Örtlichkeit, der Fahrbahnart und -
beschaffenheit, der Fahrgeschwindigkeit, den Sichtverhältnissen, dem
Gegenverkehr und anderen Umständen. Dabei hat der Kraftfahrer - innerhalb der
Fahrbahn - einen gewissen Beurteilungsspielraum, solange er sich soweit rechts
hält, wie es im konkreten Fall im Straßenverkehr "vernünftig" ist (BGH NZV 1996,
444; VersR 1990, 573; OLG Hamm DAR 2000, 265). Hieraus folgt, dass die
Benutzung des äußersten linken Randes der Fahrbahn regelmäßig nur dann erlaubt
ist, wenn besondere Umstände - etwa eine außergewöhnlich schmale Straße,
schlechte Sicht oder Hindernisse am rechten Fahrbahnrand - dies erfordern.
Derjenige Kraftfahrer, der die Fahrbahn trotz genügender Breite ohne Not bis zum
äußersten linken Rand ausnutzt, überschreitet den ihm zustehenden
Beurteilungsspielraum.
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Gegen eine Übertragung dieser Grundsätze auf den einspurigen Kreisverkehr lässt
sich nicht einwenden, dass sich der Schutzzweck des Rechtsfahrgebotes auf den
Schutz des Gegen- und des Überholverkehrs auf der gleichen Straße bezieht (vgl.
BGH VersR 1958, 550), der im Kreisverkehr mit nur einer Fahrbahn nicht vorkommt.
Denn das Rechtsfahrgebot rechtfertigt sich dort aus hiervon unabhängigen Gründen.
Die - gerade in jüngster Zeit zunehmende - bauliche Umgestaltung von
Straßenkreuzungen oder Einmündungen zum Kreisverkehr bezweckt die
Herabsetzung des Risikos von Zusammenstößen im Kreuzungsbereich sowie die
Förderung des Verkehrsflusses. Die Verkehrsteilnehmer werden durch die
Straßenführung dazu gezwungen, ihre Geschwindigkeit zu vermindern. Hierdurch
und durch die besondere Vorfahrtsregelung im Kreisel soll das gefahrlose Einreihen
in den fließenden Verkehr gefördert werden. Mit dieser Zielsetzung ist es nicht zu
vereinbaren, dass Kraftfahrer unter voller Ausnutzung der vorhandenen
Fahrbahnbreite die Kreisbahn "schneiden", um sich gegenüber solchen
Fahrzeugen, die erst noch in den Kreisel einfahren wollen, einen Vorteil zu
verschaffen. Zwar steht dem Kraftfahrer im Kreisverkehr grundsätzlich ein erweiterter
Beurteilungsspielraum zu, weil ihm durch einfahrende Fahrzeuge von rechts Gefahr
drohen kann. Er hat sich aber grundsätzlich an die vorgeschriebene Kreisbahn zu
halten und darf nicht ohne vernünftigen Grund bis an deren äußersten linken Rand
fahren, wenn nicht besondere Umstände dies gebieten. Ein hiervon abweichendes
Verhalten lässt sich mit Sinn und Zweck des Kreisverkehrs nicht vereinbaren. Denn
gerade durch die Kurvenfahrt soll die Geschwindigkeit verringert werden.
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Der Schutzzweck von §§ 2 Abs. 2, 9a StVO betrifft folglich Unfälle der hier
geschehenen Art. Das in die Abwägung einzubeziehende Verschulden des
Beklagten zu 1) ist mit der Quote von zwei Dritteln zu Lasten der Beklagten
angemessen berücksichtigt.
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Im Hinblick auf die von der Klägerin geltend gemachten einzelnen
Schadenspositionen steht ihr der Betrag von 104,94 EUR nicht zu. Die Beklagten
haben die Notwendigkeit zweimaligen Abschleppens bestritten. Die Klägerin hat zur
Erläuterung dieser Kosten nicht vorgetragen.
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Die Schadenspauschale ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats nur in Höhe
von 20,00 EUR begründet.
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Es ergeben sich folgende berücksichtigungsfähige Schäden:
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Wiederbeschaffungswert abzgl. Restwert 4.400,00 EUR
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Kosten des Gutachtens 494,16 EUR
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Abschleppkosten 92,80 EUR
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Schadenspauschale 20,00 EUR
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5.006,96 EUR
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Der Klägerin stehen hiervon 2/3, also 3337,97 EUR zu. Der Betrag ist ab dem 12.
Juli 2002 zu verzinsen, nachdem die Beklagte zu 3) die Regulierung des Schadens
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mit Schreiben vom 11. Juli 2002 abgelehnt hat. Die weitergehende Zinsforderung ist
mangels Verzugs unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen
Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung
der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Der Bundesgerichtshof hat
sich zum Rechtsfahrgebot innerhalb einer Fahrbahn abschließend geäußert (vgl.
BGH NZV 1996, 444). Dem ist der Senat gefolgt.
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