Urteil des OLG Hamm vom 29.03.2007

OLG Hamm: rechtskräftiges urteil, haftbefehl, fluchtgefahr, untersuchungshaft, verfügung, tatverdacht, strafverfahren, bewährung, haftgrund, verhinderung

Oberlandesgericht Hamm, 2 Ws 88/07
Datum:
29.03.2007
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 88/07
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, 21 KLs 10 Js 407/05 I 8/06
Tenor:
Der Haftbefehl des Landgerichts Bochum vom 06. März 2006 (21 KLs 10
Js 407/05 I 8/06) wird aufgehoben.
Die Landeskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die
dem Angeklagten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen.
G r ü n d e :
1
I.
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Das Landgericht Bochum hat in dieser Sache gegen den Angeklagten durch Haftbefehl
vom 06. März 2006 (AZ: 21 KLs 10 Js 407/05 I 8/06) die Untersuchungshaft angeordnet,
die auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt worden
ist. Die Staatsanwaltschaft Bochum hatte zuvor unter dem 21. Februar 2006 gegen den
Beschwerdeführer wegen schwerer räuberischer Erpressung Anklage erhoben, die die
zuständige Strafkammer durch Eröffnungsbeschluss vom 30. November 2006 zur
Hauptverhandlung zugelassen hat. In diesem Beschluss ist zudem die "Fortdauer der
Untersuchungshaft" angeordnet worden. Eine weitere Entscheidung über die
Aufrechterhaltung der Haftanordnung ist seitdem – mit Ausnahme der jetzigen
Nichtabhilfeentscheidung vom 20. März 2007 – nicht ergangen.
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Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, in den Abendstunden des 08. November 2001
die Spielhalle "Spielstube" in S überfallen und die Spielhallenaufsicht unter Vorhalt
eines Messers mit einer 20 cm langen Klinge zur Herausgabe des Wechselgeldes und
des in einem Tresor befindlichen Bargeldes gezwungen sowie unter Ausnutzung der
Zwangslage des Opfers aus einer Ledertasche weitere 1.000,00 DM entnommen zu
haben. Die Tatbeute soll etwa 2.000,00 DM betragen haben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl und die Anklageschrift der
Staatsanwaltschaft Bochum Bezug genommen.
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Der vielfach vorbestrafte Angeklagte befindet sich seit dem 03. März 2005 für andere
Strafverfahren ununterbrochen in Untersuchungs- oder Strafhaft. So hat ihn das
Amtsgericht Hameln durch – sogleich rechtskräftiges – Urteil vom 29. März 2004 (AZ: 10
Ds 2011 Js 89565/03 (32/04)) wegen Diebstahls und Computerbetruges zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten mit Strafaussetzung zur
Bewährung verurteilt. Die Bewährung wurde zwischenzeitlich widerrufen. Durch –
ebenfalls sogleich rechtskräftiges – Urteil vom 30. Mai 2005 (AZ: 10 Ls 1543 Js
90910/04 (1/05)) hat es ihn u. a. wegen Diebstahls und vorsätzlicher Körperverletzung
mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren belegt, die der Angeklagte unter
Anrechnung von Untersuchungshaft seit dem 03. März 2005 verbüßt. Das Ende der
Strafzeiten ist auf den 01. Februar 2008 notiert. Für das vorliegende Verfahren ist
aufgrund des Haftbefehls Überhaft notiert, die ab dem 02. Februar 2008 zu vollziehen
wäre.
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Mit Verfügung vom 30. November 2006 hat der Vorsitzende der zuständigen
Strafkammer Termin zur Hauptverhandlung mit zunächst einem Fortsetzungstermin
anberaumt. Mit Beschluss vom 14. Februar 2007 hat das Landgericht am vierten
Hauptverhandlungstag das Verfahren ausgesetzt, weil der Angeklagte versehentlich
nicht aus der Justizvollzugsanstalt T (bei I) vorgeführt worden war und innerhalb der
gesetzlichen Frist eine Fortsetzung der Hauptverhandlung wegen anderweitiger
dienstlicher Verhinderung der Beisitzerin nicht möglich gewesen sein soll. Daraufhin ist
die Hauptverhandlung ausgesetzt worden, wobei ein neuer Termin von Amts wegen
bestimmt werden sollte.
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Der Angeklagte hat gegen den bestehenden Haftbefehl mit Schriftsatz seines
Verteidigers vom 15. März 2007 unter näherer Begründung Beschwerde eingelegt, der
das Landgericht durch Beschluss vom 20. März 2007 nicht abgeholfen und sie dem
Senat zur Entscheidung vorgelegt hat.
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II.
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Die Haftbeschwerde ist gemäß § 310 Abs. 1 StPO zulässig und hat im Ergebnis auch in
der Sache Erfolg.
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1.
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Zwar ist weiterhin von einem dringenden Tatverdacht auszugehen, zumal die
Beurteilung des – von dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger angezweifelten –
dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender
Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren ohnehin nur in
eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht unterliegt.
Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren
Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser
Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten
Verfahrensstand noch fortbesteht oder dies nicht der Fall ist. Das Beschwerdegericht hat
demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Kenntnisse über den Verlauf der
Beweisaufnahme (vgl. BGH StV 2004, 142 m.w.N.; StV 1991, 525). Zwar ist die
Hauptverhandlung zur Zeit ausgesetzt, die Strafkammer hat aber in ihrem
Nichtabhilfebeschluss vom 20. März 2007, auf den zur Vermeidung von
Wiederholungen Bezug genommen wird, die für ihre Entscheidung maßgeblichen
Gründe näher dargelegt. Die Bewertung der Strafkammer betreffend den dringenden
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Tatverdacht ist danach - worauf es allein entscheidend ankommt - jedenfalls nicht
unvertretbar (vgl. BGH a.a.O.).
2.
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Auch besteht weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.
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Diese ist immer dann anzunehmen, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es
wahrscheinlicher macht, dass ein Angeklagter sich dem Strafverfahren entzieht als dass
er sich ihm zur Verfügung halten werde (vgl. KK-Boujong, StPO, 5. Aufl., § 112 Rdnr. 15;
Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 112 Rdnr. 17). Die im Strafverfahren zu erwartenden
Rechtsfolgen sind dabei zu berücksichtigen. Ist mit der Verhängung einer hohen Strafe
zu rechnen, so sind die Anforderungen an das Hinzutreten weiterer Umstände umso
niedriger anzusetzen (vgl. KK-Boujong, a.a.O., Rdnr. 18 mit weiteren Nachweisen).
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Davon ist hier auszugehen, da der geschiedene Angeklagte über keine ausreichenden
sozialen Bindungen verfügt. Bei einer Gesamtbetrachtung der Lebensumstände des
Angeklagten erscheint es dem Senat deshalb wahrscheinlicher, dass er sich bei einer
Entlassung aus der jetzigen Haft dem Verfahren entzieht als dass er sich den
Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung hält.
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Auch wenn die Tat bereits mehrere Jahre zurückliegt, hat der Angeklagte eine
mehrjährige Strafe zu erwarten, wobei die späte Anklageerhebung darauf
zurückzuführen ist, dass erst Mitte 2005 aufgrund eines DNA-Abgleichs die Person des
Angeklagten als Tatverdächtiger identifiziert werden konnte.
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Die Fluchtgefahr wird auch nicht dadurch ausgeräumt, dass sich der Angeklagte derzeit
zur Verbüßung anderer Strafen in Strafhaft befindet und das Strafende auf den 01.
Februar 2008 notiert ist. Es ist im konkreten Fall zwar nicht damit zu rechnen, dass der
Angeklagte in absehbarer Zeit vorzeitig entlassen und ein Strafrest zur Bewährung
ausgesetzt wird. Gleichwohl ist damit der Haftgrund der Fluchtgefahr aber nicht
entfallen, worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend
hingewiesen hat (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 22. Mai 2003 in 2 Ws
116/03 = StraFO 2003, 273 m. w. Nachw.; OLG Koblenz MDR 1969, 950; OLG Hamm
NJW 1971, 1956; OLG Karlsruhe Justiz 1972, 321; OLG Düsseldorf NJW 1982, 1826;
OLG Köln NStZ 1991, 605 mit ablehnender Anmerkung Möller NStZ 1991, 606, die sich
zur Begründung ihrer gegenteiligen Auffassung auf die Entscheidungsbefugnisse des
Anstaltsleiters nach dem Strafvollzugsgesetz beruft ; KK-Boujong, StPO, 5. Aufl., § 112
Rdnr. 15, 57; Lemke in Heidelberger Kommentar zur StPO, 3. Aufl., § 112 Rdnr. 17;
Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rdnr. 17; Löwe-Rosenberg-Dünnebier, StPO, 25. Aufl., §
112 Rdnr. 88; Paeffgen NStZ 1992, 482).
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3.
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Gleichwohl ist aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falles die
Aufrechterhaltung der Haftanordnung und die daraus folgende Überhaftnotierung
unverhältnismäßig, weil der Beschleunigungsgrundsatz nicht hinreichend beachtet
worden ist. Diesem vor allem in Haftsachen geltenden Grundsatz hat auch das
Bundesverfassungsgericht gerade in seiner jüngsten Rechtsprechung besonderes
Gewicht beigemessen (vgl. vor allem BVerfG NJW 2005, 2612; 2005, 3485; 2006, 668;
2006, 672; 2006, 677; 2006, 1336; StV 2006, 251 jeweils m. w. Nachw.). Der
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Beschleunigungsgrundsatz gilt nicht nur, wenn die Untersuchungshaft vollzogen wird,
sondern auch, wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist oder er, wie im
vorliegenden Fall, wegen Überhaftnotierung derzeit - noch - nicht vollzogen wird, weil
damit auch Einschränkungen der Freiheit verbunden sind.
Noch nicht zu beanstanden ist allerdings die Verfahrensweise bis zum Beginn der
Hauptverhandlung, auch wenn die Tatzeit bereits im November 2001 lag. Denn erst
Mitte 2005 konnten die am Tatort aufgefundenen Spuren aufgrund der anderweitig
ermittelten DNA-Analyse dem Angeklagten zugeordnet werden. Es wurde nach
Durchführung weiterer kriminalpolizeilicher Ermittlungen sodann im November 2005
seitens der Staatsanwaltschaft ein Gutachten zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des
Angeklagten in Auftrag gegeben, das der psychiatrische Sachverständige zeitnah unter
dem 05. Februar 2006 erstellt hat. Unter dem 21. Februar 2006 hat die
Staatsanwaltschaft Bochum daraufhin Anklage vor dem Landgericht Bochum – große
auswärtige Strafkammer Recklinghausen – erhoben, die dem Angeklagten mit
Verfügung des Vorsitzenden der Strafkammer vom 01. März 2006 zugestellt worden ist.
Im April 2006 fand ein Verteidigerwechsel statt, worauf entsprechend dem Antrag des
jetzigen Verteidigers ein Identitätsgutachten eines rechtsmedizinischen
Sachverständigen aus E eingeholt wurde, das – nach zwischenzeitlicher Verlegung des
Angeklagten in die Justizvollzugsanstalt E – Ende November 2006 vorlag. Bereits durch
Beschluss vom 30. November 2006 hat die Strafkammer sodann das Hauptverfahren
eröffnet und Termin zur Hauptverhandlung auf den 09. Januar 2007 mit zunächst nur
einem für erforderlich erachteten Fortsetzungstermin bestimmt. Während der laufenden
Hauptverhandlung wurde der rechtsmedizinische Sachverständige aufgrund neuer
Erkenntnisse um eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme gebeten, die
inzwischen unter dem 13. März 2007 zu den Akten gelangt ist.
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Letztlich nicht mehr hinnehmbar sind jedoch die Umstände, unter denen die
Hauptverhandlung am 14. Februar 2007 ausgesetzt worden ist, zudem mit ungewissem
Neubeginn.
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Dass nämlich der auch während der Hauptverhandlung weiterhin in der
Justizvollzugsanstalt T inhaftierte Angeklagte zu dem Fortsetzungstermin am 14.
Februar 2007 nicht vorgeführt worden und daher nicht erschienen ist, liegt im
Verantwortungsbereich der Justiz bzw. ist dieser zuzurechnen. Dem Schreiben des
Leiters der Justizvollzugsanstalt T vom 12. März 2007 an den Verteidiger des
Angeklagten ist zu entnehmen, dass ausschließlich ein dortiges Verwaltungs-versehen
hierfür ursächlich war und im Ergebnis zu einer zeitlich nicht absehbaren Verzögerung
des Verfahrens geführt hat. Warum die Strafkammer dann aber nicht den von ihr
benannten "Durchlauftermin" am 16. Februar 2007 und sodann den an sich möglichen
Fortsetzungstermin am 06. März 2007 wahrgenommen hat, um die Hauptverhandlung
fortzusetzen, ist nicht nachvollziehbar. Notfalls hätten die zur Begründung der
Verhinderung aufgeführten anderweitigen Anhörungstermine der Beisitzerin in der
Strafvollstreckungskammer aufgehoben bzw. verlegt werden müssen, zumal es sich
insoweit um eine Zweitzuweisung handelt. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in
seinem Beschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05 – entschieden, dass eine
Strafsache binnen angemessener Frist zum Abschluss gebracht werden muss und der
Abbruch einer Hauptverhandlung notfalls durch einen "überobligationsmäßigen Einsatz
der Richterbank", der hier - soweit nach Aktenlage ersichtlich - nicht einmal nötig
gewesen wäre, zu vermeiden ist (BVerfG, NJW 2006, 668, 671). Da nach einem
Aktenvermerk des Vorsitzenden mit dem Neubeginn der Hauptverhandlung aufgrund
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der Belastung der Strafkammer mit anderen Haftsachen frühestens im September 2007
zu rechnen ist, führt die gebotene Abwägung zwischen dem Interesse der Rechtspflege
an der Aufrechterhaltung des Haftbefehls und dem Freiheitsrecht des Angeklagten zur
Aufhebung des nunmehr länger als ein Jahr bestehenden Haftbefehls.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 467, 473
StPO.
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