Urteil des OLG Hamm vom 17.09.2007

OLG Hamm: jugendstrafrecht, freiheitsberaubung, rüge, körperverletzung, meinung, pflichtverteidiger, bedrohung, strafzumessung, biographie, gefahr

Oberlandesgericht Hamm, 2 Ss 380/07
Datum:
17.09.2007
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ss 380/07
Vorinstanz:
Amtsgericht Herne-Wanne, 9 Ds 22 Js 237/07 (52/07)
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird, soweit der Angeklagte wegen
Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit gefährlicher
Körperverletzung und wegen Bedrohung verurteilt worden ist, mit den
zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere
Abteilung des Amtsgerichts Herne-Wanne zurückverwiesen.
G r ü n d e :
1
I.
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Das Amtsgericht –Jugendgericht- Herne-Wanne hat den Angeklagten am 11. Juni 2007
wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher
Körperverletzung und wegen Bedrohung unter Einbeziehung des Urteils vom 21. März
2005 zu einer Jugendstrafe von neun Monaten kostenpflichtig verurteilt.
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Ein ausdrücklicher Teilfreispruch hinsichtlich einer dem Angeklagten ebenfalls
vorgeworfenen Freiheitsberaubung ist zwar in den Urteilsgründen, nicht aber im Tenor
des Urteils geschehen.
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Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte am 12. Juni 2006 ein als Berufung bezeichnetes
Rechtsmittel eingelegt. Nach der Zustellung des vollständigen Urteils am 20. Juni 2007
hat der inzwischen vom Landgericht Bochum dem Angeklagten beigeordnete
Verteidiger das Rechtsmittel mit am 20. Juli 2007 beim Amtsgericht Herne-Wanne
eingegangenen Schriftsatz als Revision bezeichnet. Zur Begründung der Revision
erhebt der Angeklagte neben der materiellen Rüge die Rüge der Verletzung formellen
Rechts, die er auf die Verletzung von § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO stützt.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO
als unbegründet zu verwerfen.
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II.
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Das Rechtsmittel ist zulässig. Es hat auch in der Sache –zumindest vorläufig- Erfolg und
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an
eine andere Abteilung des Amtsgerichts -Jugendrichter- Herne-Wanne.
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1. Unschädlich ist, dass der Angeklagte sein Rechtsmittel zunächst mit Schreiben
vom 12. Juni 2007 ausdrücklich als Berufung bezeichnet hat und mit Schriftsatz
seines Verteidigers innerhalb der Rechtsmittelbegründungsfrist mitgeteilt hat, das
Rechtsmittel als Revision zu führen. Es ist gefestigte Rechtsprechung, dass der
Rechtsmittelführer, der in der Rechtsmitteleinlegungsfrist Berufung eingelegt hat,
innerhalb der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO noch erklären
darf, von der ursprünglich gewählten Berufung zur Revision überzugehen (so auch
Senat am 4. Dezember 2006 (2 Ss 413/06), BGHSt 5, 338 = NJW 1954, 687).
Diese Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom
03. Dezember 2003 in 5 StR 249/03 = NJW 2004, 789 f) im Übrigen nochmals
bekräftigt. Daran ändert auch nichts, dass das Landgericht Bochum als
Berufungsgericht durch die Bestellung des Pflichtverteidigers des Angeklagten
bereits tätig geworden ist.
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2. Die Revision hat schon mit der formellen Rüge –zumindest vorläufig- Erfolg. Der
Angeklagte hat zu Recht einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO geltend gemacht.
Ihm hätte als Heranwachsendem vom Amtsgericht gemäß §§ 68 Nr.1 JGG, 140
Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden müssen. Im
Jugendgerichtsverfahren ist dem Heranwachsenden gemäß §§ 109 Abs. 1, 68
Nr. 1 JGG ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Bestellung auch für einen
Erwachsenen geboten wäre. Darin sieht die allgemeine Meinung eine Verweisung
auf die Vorschrift des § 140 StPO (vgl. u.a. OLG Hamm NJW 2004, 1338; OLG
Koblenz StV 2007, 3; Senatsbeschluss vom 26. April 2004 in 2 Ss 54/04 = NStZ-
RR 2006, 26; jew. m.w.N.). Danach ist die Mitwirkung eines Verteidigers in der
Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn
wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die
Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass
sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. Die "Schwere der Tat", die sich
vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung richtet, gebietet
nach wohl überwiegender Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung und
der Auffassung der Literatur (vgl. dazu Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., § 140 Rn 23
ff. m.w.N.) die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich dann, wenn eine
Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist. Dies gilt im
Jugendstrafrecht auf jeden Fall auch. Ob die Beiordnung eines Pflichtverteidigers
sogar schon dann in jedem Fall erforderlich ist, wenn eine Jugendstrafe droht (so
LG Gera, StraFo 1998, 270 = StV 1999, 654), braucht vorliegend nicht entschieden
zu werden. Der Senat hatte bereits in seinem Beschluss vom 26. April 2004 (Az.: 2
Ss 54/04 = NStZ–RR 2006, 26) angemerkt, dass aufgrund des im Jugendstrafrecht
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– im Gegensatz zu den §§ 38 ff StGB für Erwachsene - drohenden Mindestmasses
der Jugendstrafe von sechs Monaten manches dafür spricht, der Auffassung des
Landgerichts Gera zu folgen. Die Frage kann aber vorliegend offen bleiben, weil
das Amtsgericht neben der drohenden Freiheits-Jugendstrafe, welche es immerhin
mit neun Monaten bemessen hat, weitere Umstände hätte berücksichtigen
müssen, die im Zusammenhang mit der Strafhöhe die Beiordnung eines
Pflichtverteidigers erforderlich machten. Bei der Strafgrenze von einem Jahr
handelt es sich nicht um eine starre Grenze, sondern es sind vielmehr auch
sonstige Umstände zu berücksichtigen, die in Zusammenhang mit der verhängten
bzw. drohenden Strafe dazu führen können, dass die Mitwirkung eines
Verteidigers auch bei einer niedrigeren Strafe geboten erscheint. Neben der Frage
eines möglichen Bewährungswiderrufs wegen der zu verhängenden Strafe
können dabei auch, gerade im Jugendstrafrecht, andere Gesichtspunkte eine
Rolle spielen. Denn gerade im Jugendstrafrecht ist wegen der in der Regel
geringeren Lebenserfahrung des jugendlichen oder heranwachsenden
Angeklagten und seiner daher größeren Schutzbedürftigkeit eher die Beiordnung
eines Pflichtverteidigers erforderlich als im Erwachsenenstrafrecht (vgl. Beschluss
des Senats vom 06. März 2006 in 2 Ss 8/06 = BeckRS 2006 05711) Unter
Berücksichtigung der demgemäss vorzunehmenden Abwägung aller Umstände
war vorliegend die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich. Abzustellen ist
zunächst auf die drohende Freiheits-Jugendstrafe, die das Amtsgericht immerhin
mit neun Monaten verhängt hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mit dem
einbezogenen Urteil des Amtsgerichts Herne-Wanne vom 21. März 2005 bereits
eine Schuldfeststellung gemäß § 27 JGG erfolgt und die Entscheidung über die
Verhängung der Jugendstrafe für die Dauer von zwei Jahren zurückgestellt
worden war. Diese Vorverurteilung musste im Fall der Verurteilung
mitberücksichtigt werden. Die tragenden Erwägungen, die das Amtsgericht zur
Verhängung der nicht zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von neun
Monaten bewogen haben, beruhten ausweislich der Urteilsgründe insbesondere
auf dem Bewährungsversagen des Angeklagten.
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Neben den Vorwürfen, die der Verurteilung zugrunde liegen, war dem Angeklagten
darüber hinaus eine Freiheitsberaubung vorgeworfen worden. Nach Durchführung
der Beweisaufnahme dazu durch Vernehmung mehrerer Zeugen ist insoweit eine
Verurteilung nicht erfolgt. Gleichwohl war dieser nicht unerhebliche Vorwurf bei der
Frage der Höhe der zu erwartenden Strafe zu berücksichtigen.
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Übersehen werden darf auch nicht, dass die Sach- und Rechtslage nicht einfach war.
Zu beiden Tatkomplexen ist eine Beweisaufnahme durch Vernehmung mehrerer
Zeugen durchgeführt worden, die aufgrund der Vorwürfe eine zumindest nicht
einfache Beweiswürdigung erforderlich machte.
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Nach allem war somit die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers geboten. Da das
Amtsgericht dessen Beiordnung unterlassen hat, ist das angefochtene Urteil
rechtsfehlerhaft und musste aufgehoben werden und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Herne-Wanne zurückverwiesen
werden.
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III.
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1. Der Senat weist für die neue Hauptverhandlung darauf hin, dass das Urteil auch
im Rechtsfolgenausspruch bisher fehlerhaft ist und die Revision insoweit mit der
Sachrüge ebenfalls Erfolg gehabt hätte.
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Das Amtsgericht hat die Verhängung der Jugendstrafe unter Einbeziehung des
Urteils vom 21. März 2005 im wesentlichen damit begründet, dass er aus dieser
Verurteilung nichts gelernt habe und die nunmehr manifest gewordenen schädlichen
Neigungen einen Umfang erreicht hätten, der die Verhängung einer Jugendstrafe von
neun Monaten erforderlich mache.
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Diese Strafzumessungserwägungen sind unvollständig und fehlerhaft, § 267 Abs. 3
S. 1 StPO.
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Der Senat hat schon wiederholt darauf hingewiesen, dass unter Berücksichtigung des
§ 54 Abs. 1 JGG an die Begründung der Rechtsfolgenentscheidung im
Jugendstrafrecht besondere Anforderungen zu stellen sind (vgl. Senatsbeschluss
vom 13. August 2001 in 2 Ss 710/01, http://www.burhoff.de ). Erforderlich ist eine
besonders sorgfältige Begründung der festgesetzten Sanktion. Dazu gehört neben
der gründlichen Auseinandersetzung mit der Biographie des Angeklagten eine
Bewertung seiner Tat im Zusammenhang mit seinen Lebensverhältnissen sowie eine
eingehende Begründung für die Erforderlichkeit der verhängten Rechtsfolgen (vgl.
OLG Jena NStZ-RR 1998, 119 = StV 1998, 340). Damit im Rechtsmittelverfahren
überprüft werden kann, ob eine einheitliche Wertung und nicht nur eine unzulässige
rechnerische Berücksichtigung oder gar eine Würdigung des einbezogenen Urteils
als bloße Vorstrafe der verschiedenen Straftaten vorgenommen wurde, muss im Fall
der Einbeziehung eines Urteils auch der diesem zugrundeliegende Sachverhalt und
in den Gründen eine Gesamtwürdigung aller der Einbeziehung unterliegenden Taten
vorgenommen werden (BGH, StV 1989, 308; Eisenberg, JGG, 12. Aufl., § 31 Rn. 62
m.w.N.). Diesen Erfordernissen werden die Strafzumessungserwägungen des
Amtsgerichts in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
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Das Amtsgericht hat weder den der Verurteilung vom 21. März 2005
zugrundeliegenden Sachverhalt noch die seinerzeit für die Strafzumessung
wesentlichen Gesichtspunkte mitgeteilt, obwohl es insbesondere das
Bewährungsversagen und die Tatsache, dass es sich um eine ähnlich gelagerte Tat
gehandelt haben soll, zur Begründung der Erforderlichkeit der Jugendstrafe
herangezogen hat.
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Auch im Übrigen lassen die vom Amtsgericht vorgenommenen Erwägungen eine
Prüfung nicht zu, ob beim Angeklagten schädliche Neigungen vorliegen, die die
Verhängung einer Jugendstrafe erforderlich machen. Schädliche Neigungen sind
erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel, die ohne längere Gesamterziehung des
Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.
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Februar 2006 in 1 Ss 432/05 = NStZ 2007, 45). Jugendstrafe ist zwar, wie aus § 18
Abs. 2 JGG folgt, in erster Linie Erziehungsstrafe, sie dient aber auch dem Schutz der
Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des jugendlichen bzw. heranwachsenden
Angeklagten. Deshalb setzt ihre Verhängung auch eine sogenannte negative
Kriminalprognose im Sinne einer persönlichkeitsspezifischen Rückfallgefahr voraus
(vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 07. Dezember 1999 in 2 Ss 1237/99 = StraFo 2000,
127 f). Dass diese Voraussetzungen vorliegen, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen.
Die Erwägungen des Amtsgerichts erschöpfen sich im Wesentlichen darin, zu
erklären, dass der Angeklagte aus der Vorverurteilung nichts gelernt habe und nach
wie vor körperliche Gewalt als Mittel seiner Wahl zur Lösung von Konflikten ansehe.
Das Amtsgericht setzt sich nicht mit der Frage auseinander, ob mit anderen
Sanktionen des Jugendstrafrechts die Erziehungsdefizite des Angeklagten
ausgeglichen werden könnten. Ebenso fehlen Erwägungen, die den Umfang der
verhängten Jugendstrafe von neun Monaten hinreichend begründen.
2. Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass bei der Tenorierung der Freispruch
wegen der vorgeworfenen Freiheitsberaubung auch im Rahmen der vom
Tatrichter zu treffenden Kostenentscheidung zu berücksichtigen sein wird.
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