Urteil des OLG Hamm vom 11.07.2006
OLG Hamm: vorzeitige entlassung, schuldfähigkeit, blutentnahme, bak, aufklärungspflicht, zustand, angriff, entziehen, lebenslauf, trennung
Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss 240/06
Datum:
11.07.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss 240/06
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 7 Ns 14 Js 1620/05 - B 2/06 VII
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den
Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des
Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Das Amtsgericht Bünde hatte den Angeklagten am 14.11.2005 wegen vorsätzlichen
Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr unter
Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Warendorf vom 30.06.2005 zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Gleichzeitig hat es die
Straßenverkehrsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von noch 20
Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.
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Gegen das in seiner Anwesenheit verkündete Urteil des Amtsgerichts Bünde hat der
Angeklagte durch am 21.11.2005 bei dem Amtsgericht eingegangenem Schriftsatz
seines Verteidigers vom selben Tage Berufung eingelegt und das Rechtsmittel mit
Schriftsatz vom 27.01.2006 auf das Strafmaß beschränkt.
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Mit dem angefochtenen Berufungsurteil hat die Berufungskammer des Landgerichts
Bielefeld die Berufung verworfen.
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Gegen das wiederum in seiner Anwesenheit verkündete Berufungsurteil hat der
Angeklagte mit am 15.03.2006 bei dem Landgericht Bielefeld eingegangenem
Schreiben seines Verteidigers vom selben Tage Revision eingelegt und das
Rechtsmittel nach Urteilszustellung an den Verteidiger am 29.03.2006 mit am
19.04.2006 bei dem Landgericht Bielefeld eingegangenem weiteren Schreiben mit der
Verfahrensrüge der Verletzung der richterlichen Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 3
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StPO sowie der Verletzung des § 246 a StPO und mit der näher ausgeführten Sachrüge
begründet.
II.
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Die zulässige Revision der Angeklagten hat auch in der Sache einen zumindest
vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur
Zurückverweisung der Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts
Bielefeld.
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Bereits die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO
verhilft der Revision zu ihrem vorläufigen Erfolg.
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Das Landgericht hat hier seine Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO im
Zusammenhang mit der Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB verletzt. Das
Landgericht hat sich in den Urteilsgründen mit den Voraussetzungen des § 21 StGB
bzw. mit der Frage der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten an keiner Stelle
ausdrücklich auseinandergesetzt, obwohl die von dem Landgericht im Übrigen
getroffenen Feststellungen sowie der dem Senat auf die zulässige Aufklärungsrüge hin
eröffnete Akteninhalt hierfür hinreichenden Anlass gaben.
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Aus dem ärztlichen Bericht über die Blutentnahme vom 25.06.2005 ergab sich nämlich,
dass bei dem Angeklagten zum Tatzeitpunkt - die Blutentnahme war 37 Minuten nach
der Festnahme des Angeklagten - erhebliche Ausfallerscheinungen zu be-
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obachten waren. Zwar war nach dem Eindruck des die Blutentnahme durchführenden
Arztes das Bewusstsein des Angeklagten klar, sein Denkablauf geordnet, sein
Verhalten beherrscht und seine Stimme unauffällig. Andererseits enthält der
Untersuchungsbericht vom 25.06.2005 aber auch folgende Untersuchungsbefunde:
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"Gang (geradeaus): schwankend
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plötzliche Kehrtwendung nach vorherigem Gehen: unsicher
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Drehnystagmus: wegen Schwindel nicht möglich
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Finger-Finger-Prüfung: unsicher
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Nasen-Finger-Prüfung: unsicher
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Sprache: verwaschen
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Pupillen: unauffällig
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Pupillen-Lichtreaktion: verzögert."
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Ähnliche Ausfallerscheinungen hatte der Bundesgerichtshof (BGH NStZ 1990, 384) als
ausreichend angesehen, um die Verpflichtung des Tatrichters zu weiterer Aufklärung im
Hinblick auf das Vorliegen einer alkoholbedingten Schuldminderung bei dem dortigen
Angeklagten zu bejahen. Der der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugrunde
liegende allgemein anerkannte medizinische Erfahrungssatz, dass eine erhebliche
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Verminderung der Schuldfähigkeit bei Blutalkoholkonzentrationen von 2 Promille an
aufwärts nahe liege (BGHR StGB § 21 BAK 16), schließt nämlich nicht aus, dass die
Voraussetzungen des § 21 StGB nicht auch bereits bei Blutalkoholkonzentrationen
unterhalb dieses Wertes vorliegen können (BGH NStZ 1990, 384). Bei
Blutalkoholkonzentrations-Werten unter 2 Promille darf der Tatrichter bei einem
erwachsenen gesunden Menschen zwar in der Regel von voller Schuldfähigkeit
ausgehen, wenn Besonderheiten in Tat oder Täterpersönlichkeit fehlen (BGH,
NStZ 1990, 384; BGH StV 1986, 285). Sind aber Anhaltspunkte für Besonderheiten,
insbesondere alkoholbedingte Ausfallerscheinungen, gegeben, bedarf es auch bei
BAK-Werten unter 2 Promille einer eingehenden Erörterung der Voraussetzungen des §
21 StGB, wobei gerade dem Inhalt eines Blutentnahme-Protokolls besondere
Bedeutung zukommt. Der Entnahmebericht stellt nämlich eine wertvolle Ergänzung des
Tatzeit-BAK-Wertes dar und kann in Grenzfällen den entscheidenden Ausschlag für
oder gegen die Annahme voller Schuldfähigkeit geben, wenn der Bericht sich
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- wie im vorliegenden Fall - auf eine Untersuchung bezieht, die in einem engen
zeitlichen Zusammenhang mit der Tat stattfand (BGH, NStZ 1990, 384).
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Hier bestand ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Tat und dem
Untersuchungsbericht von nur 37 Minuten. Die Blutalkoholkonzentration des
Angeklagten lag rückgerechnet bei knapp 1,7 Promille und damit in einem deutlich
überhöhten und an den 2-Promille-Grenzwert heranreichenden Bereich. Auch bei der
Tat selbst hatte der Angeklagte Ausfallerscheinungen gezeigt, da er nach den
Feststellungen des Landgerichts mit deutlichen Schlangenlinien bei eingeschalteter
Nebelschlussleuchte - obwohl kein Nebel herrschte - fuhr. Wenngleich der Angeklagte
anschließend offenbar in der Lage war, nach Wahrnehmung der ihm seitens der
eingesetzten Polizeibeamten erteilten Anhaltezeichen sein Fahrzeug zu beschleunigen
und mehrfach abzubiegen, offenbar um sich einer polizeilichen Kontrolle zu entziehen,
lässt dies die von ihm vorher gezeigten Ausfallerscheinungen dennoch bestehen. Hinzu
kommt, dass sich aus den Feststellungen des Landgerichts zum Lebenslauf des
Angeklagten ergibt, dass dieser unter dem fortschreitenden Alkoholkonsum sozial und
beruflich seit Ende der 90er Jahre zunehmend verfiel. Infolge seines
Alkoholmissbrauchs kam es zu mehrfachen Trennungen und anschließenden
Versöhnungen der Eheleute bis zur endgültigen Trennung im Jahre 2003, wobei die
Ehe des Angeklagten zwischenzeitlich geschieden ist. Am 27.08.2003 steigerten sich
die Eheprobleme in einen in nur leicht alkoholisiertem Zustand von dem Angeklagten
begangenen massiven Angriff auf seine Ehefrau unter Einsatz eines Messers, der zur
Verurteilung am 03.08.2004 durch das Amtsgericht Bielefeld u.a. wegen versuchter
Vergewaltigung zum Nachteil der Ehefrau führte. Der Angeklagte hatte in leicht
alkoholisiertem Zustand von seiner Ehefrau die Durchführung des Geschlechtsverkehrs
verlangt und, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, mit einem Messer mehrfach
auf die Matratze eingestochen, auf der die Ehefrau lag, und das Bettlaken zerschlitzt
sowie der Geschädigten damit gedroht, dass er ihr den "Unterleib aufschlitzen (werde),
damit Blut fließe". Anschließend hatte er der Geschädigten das Messer noch an die
Kehle gehalten. Durch dieses Geschehen hatte der Angeklagte seine Ehefrau in
Todesangst versetzt.
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Dieses festgestellte Geschehen zum Nachteil der Ehefrau spricht ebenso für einen
alkoholbedingten Persönlichkeitsverfall wie der Umstand, dass der Angeklagte bereits
zuvor im Jahre 2001 in die Klinik H IV in C zur Behandlung seiner Alkoholproblematik
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eingewiesen worden war und bereits seinerzeit psychologisch beraten und betreut
wurde. Hinzu kommt die fortlaufende Begehung von Verkehrsstraftaten unter
Alkoholeinfluss völlig unbeeindruckt von vorangegangenen Verurteilungen und
Strafaussetzungen, obwohl der Angeklagte an sich als Heizungsbaumeister und
selbstständiger Handwerker aus einer durchaus bürgerlichen Existenz stammt.
Das Landgericht hätte danach die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht
ohne Berücksichtigung dieser erheblichen Indizien für das Vorliegen einer
alkoholbedingten Schuldminderung ablehnen dürfen. Angesichts des Umstandes, dass
das Landgericht selbst der Ansicht war, dass jedenfalls eine vorzeitige Entlassung des
Angeklagten aus der Strafhaft nach § 57 Abs. 1 StGB eine erfolgreiche Alkoholtherapie
als Grundvoraussetzung hätte (S. 10 am Ende UA), hätte es, sachverständig beraten,
hier auch die Frage einer Unterbringung des Angeklagten gemäß § 64 StGB erörtern
müssen. Dies wird die neu entscheidende Strafkammer unter Hinzuziehung eines
Sachverständigen nachholen müssen.
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