Urteil des OLG Hamm vom 15.03.2017

OLG Hamm (anzeige, inhalt, vernehmung, zeuge, stpo, urkunde, antrag, zulassung, begründung, frist)

Oberlandesgericht Hamm, 1 Ss OWi 1435/76
Datum:
29.10.1976
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 Ss OWi 1435/76
Vorinstanz:
Amtsgericht Dortmund, 91 OWi 42 Js 1430/76
Tenor:
1) Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.
2) Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
3) Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden
Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das
Amtsgericht Dortmund zurückverwiesen.
Gründe:
1
Das Amtsgericht hat die Betroffene wegen fahrlässiger Zuwiderhandlung gegen §§ 41
StVO, 24 StVG zu einer Geldbuße von 60,- DM verurteilt. Das Amtsgericht hat im
wesentlichen folgendes festgestellt:
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"Am 11. März 1976, gegen 16.45 Uhr, befuhr die Betroffene mit einem Pkw in ... die B 54
in südlicher Richtung. In Höhe des Autobahnkreuzes Dortmund-Süd überquert diese
Straße die Autobahn. Von der Einmündung der Autobahnausfahrt an ist ein
Überholverbot durch amtliche Kennzeichen angeordnet, worauf zusätzlich durch
Hinweisschilder vorher noch hingewiesen wird. Innerhalb dieser Überholverbotszone
überholte die Betroffene einen anderen Pkw."
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Wie das Amtsgericht weiterhin ausgeführt hat, stellt die Betroffene nicht in Abrede, zu
jenem Zeitpunkt die B 54 wie angegeben befahren zu haben. Sie bestreitet jedoch,
innerhalb der Überholverbotszone ein anderes Kraftfahrzeug überholt zu haben. Sie
schildert, sie sei in Höhe der Autobahneinmündung auf die linke Fahrspur der B 54
übergewechselt, um einem einbiegenden Pkw Raum zu geben. Dieses Fahrverhalten
könne von den Polizeibeamten, die sie beobachtet haben, irrigerweise als
Überholmanöver angesehen worden sein.
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Wie das Amtsgericht weiter ausführt, hat es die Betroffene der vorgeworfenen Tat auf
Grund der Bekundungen des Polizeibeamten ... für überführt angesehen. Dieser hatte,
wie das Urteil darlegt, zwar an den Verkehrsvorgang keine Erinnerung mehr, er hat sich
aber insoweit auf den Text der Anzeige bezogen.
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Gegen das Urteil hat die Betroffene rechtzeitig Zulassung der Rechtsbeschwerde
beantragt. Nachdem das Urteil am 12. August 1976 zugestellt worden war, hat sie mit
Schriftsatz vom 11. September, eingegangen beim Amtsgericht am 13. September 1976,
beantragt, das Urteil aufzuheben und hat diesen Antrag begründet. Sie rügt, mit näherer
Darlegung, Verletzung formellen und materiellen Rechts.
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Mit dem angefochtenen Beschluß hat das Amtsgericht die Rechtsbeschwerde als
unzulässig verworfen, weil nach seiner Ansicht die Rechtsbeschwerde nicht fristgerecht
begründet worden ist.
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Gegen diesen Beschluß hat die Betroffene fristgerecht auf Entscheidung des
Rechtsbeschwerdegerichts angetragen.
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Auf diesen gemäß §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 2, 346 Abs. 2 StPO zulässigen Antrag war der
angefochtene Beschluß aufzuheben. Der Rechtsbeschwerdeantrag und die
Begründung sind fristgerecht angebracht worden. Die durch Zustellung des Urteils am
12. August 1976 in Lauf gesetzte Frist zur Stellung des Rechtsbeschwerdeantrages und
zur Begründung (§§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 2 OWiG, 345 Abs. 1 StPO) lief nicht, wie das
Amtsgericht meint, mit dem 12., sondern erst mit dem 13. September 1976 ab. Denn der
12. September war ein Sonntag, was zur Folge hatte, daß die Frist erst mit Ablauf des
nächsten Werktages endete (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 43 Abs. 2 StPO).
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Dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde war zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung und zur Fortbildung des Rechts stattzugeben.
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Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
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Das Amtsgericht hat fehlerhaft gehandelt, indem es seine Feststellungen auf die
Aussage des Polizeibeamten ... stützte.
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Da die Betroffene bestreitet, innerhalb jener Überholverbotsstrecke ein anderes
Kraftfahrzeug überholt zu haben und nur ein Verkehrsgeschehen schildert, von dem
offen bleibt, ob es überhaupt dasjenige war, bei dem der Überholvorgang geschehen
sein soll, mußte das Amtsgericht bei seinen Feststellungen auf die schriftliche Anzeige
selbst zurückgreifen. Daß es dieses getan hat, ergibt sich auch daraus, daß nach den
Urteilsgründen der Zeuge sich auf die Anzeige bezogen hat.
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Das warhier indessen rechtlich unzulässig.
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Zwar darf nach § 250 StPO die Vernehmung eines Wahrnehmungszeugen nicht
dadurch ersetzt werden, daß eine Urkunde, in der seine Wahrnehmungen niedergelegt
sind, verlesen wird. Wenn jedoch ein Zeuge sich an das von ihm früher
Wahrgenommene nicht mehr erinnert, wie es bei Polizeibeamten, die zuvor eine
Verkehrsanzeige erstattet hatten häufig vorkommt, kann der Inhalt der schriftlichen
Erklärung ergänzend verwertet werden, wenn zugleich der Urheber der Urkunde als
Zeuge vernommen wird und die Verantwortung für den Inhalt der Urkunde übernimmt
(so BGHSt 20, 160 = NJW 65, 874). Auf diese Weise kann das Gericht den Inhalt der
Urkunde, jedoch noch nicht die Richtigkeit der Schilderung feststellen (OLG Hamm,
JMBl. NRW 68, 45). In dieser, insbesondere vom BGH in seiner Entscheidung vom
4.6.1970 (NJW 70, 1458, 1459) für zulässig erachteten Weise ist das Amtsgericht jedoch
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nicht verfahren. Es hat den Inhalt der Anzeige nicht durch Vernehmung des
Anzeigeverfassers, sondern durch Vernehmung des Zeugen ... festgestellt, der in der
Anzeige, die ein anderer Polizeibeamter erstellt hatte, nur als Zeuge aufgeführt ist.
Durch Vernehmung des Zeugen ... konnte der Inhalt der Anzeige daher nicht in
zulässiger Weise ergänzend verwertet werden.
Das Urteil war somit aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und
Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
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