Urteil des OLG Hamm vom 15.05.2008

OLG Hamm: anspruch auf rechtliches gehör, einspruch, landrat, fahrverbot, verfolgungsverjährung, verwaltungsbehörde, erlass, vollmacht, geschwindigkeitsüberschreitung, kenntnisnahme

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss OWi 669/07
Datum:
15.05.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss OWi 669/07
Vorinstanz:
Amtsgericht Minden, 15 OWi 847/06
Schlagworte:
Verjährung, Verlesung eines bereits aufgehobenen Bußgeldbescheides
Normen:
OWiG § 31, § 71
Leitsätze:
Wird in der Hauptverhandlung über den Einspruch gegen einen
Bußgeldbescheid ein bereits von der Verwaltungsbehörde bei Erlass
eines neuen Bußgeldbescheides aufgehobener Bußgeldbescheid
verlesen, so hindert dies nicht die verjährungsunterbrechende Wirkung
bestimmter späterer Verfahrensverhandlungen, wenn allen Beteiligten
klar ist, um welchen Bußgeldbescheid es geht und die Tat, die beiden
Bußgeldbescheiden zu Grunde liegt, identisch ist.
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugehörigen Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht Minden
zurückverwiesen.
Gründe
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I.
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Der Landrat des Kreises N hat am 05.07.2006 gegen den Betroffenen wegen einer am
19.04.2006 begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung einen Bußgeldbescheid
erlassen, in dem eine Geldbuße von 275 Euro sowie ein Fahrverbot von zwei Monaten
festgesetzt worden ist. Hiergegen hat der Betroffene rechtzeitig Einspruch eingelegt. Der
von ihm beauftragte Verteidiger hat eine Vollmacht vorgelegt, in der es u.a. heißt: "Diese
Vollmacht erstreckt sich insbesondere auf folgende Befugnisse: 1) Verteidigung und
Vertretung in Bußgeldsachen und Strafsachen in allen Instanzen, auch für den Fall der
Abwesenheit (...)".
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Mit Schriftsatz vom 31.07.2007 hat der Verteidiger eine Geschwindigkeitsüberschreitung
eingeräumt, wendete sich aber insbesondere gegen das Fahrverbot. Daraufhin hat der
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Landrat am 06.11.2006 einen neuen Bußgeldbescheid – unter Aufhebung des
bisherigen -erlassen, in dem die Geldbuße auf 415 Euro und das Fahrverbot auf einen
Monat festgesetzt worden ist. Auch hiergegen hat der Betroffene durch seinen
Verteidiger fristgerecht Einspruch eingelegt. Am 20.11.2006 hat der Landrat die Sache
daraufhin über die StA Bielefeld an das AG Minden abgegeben – wo sie am 30.11.2007
eintrafen - und den Betroffenen hiervon benachrichtigt. In dem Abgabeschreiben heißt
es u.a. : "Ihr Einspruch vom 17.11.2006 gegen den Bußgeldbescheid vom 06.11.2006
ist form- und fristgerecht eingelegt worden". Am 11.01.2007 und am 18.01.2007 hat das
Amtsgericht Minden Termin zur Hauptverhandlung anberaumt.
Der erste Hauptverhandlungstermin fand am 28.02.2007 in Abwesenheit des
Angeklagten statt. Im Protokoll heißt es: "Der Bußgeldbescheid vom 05.07.2006 wurde
verlesen". Nach Einholung eines Gutachtens hat das Amtsgericht am 14.05.2007 und
am 11.06.2007 neuen Hauptverhandlungstermin auf den 25.07.2007 anberaumt. Mit
Schriftsatz vom 24.07.2007, per Telefax am gleichen Tage beim Amtsgericht
eingegangen, hat der Verteidiger beantragt, den Betroffenen von der Verpflichtung zum
persönlichen Erscheinen zu entbinden. Die Fahrereigenschaft sei unstreitig, weitere
Einlassungen werde er nicht abgeben. Im Hauptverhandlungstermin, zu dem der
Betroffene nicht erschienen war, hat das Amtsgericht abgelehnt, den Betroffenen von
seiner Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden und den Einspruch verworfen,
weil der Betroffene unentschuldigt dem Termin ferngeblieben sei, die von ihm
vorgetragenen Gründe keine ausreichende Entschuldigung darstellten und mit
Rücksicht auf die Ausführungen des Verteidigers, dass die "Konkretisierung des Tatorts
nicht konkret sei" die Vernehmung des Betroffenen und damit sein Erscheinen
zwingend notwendig sei.
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II.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat in Ihrer Antragsschrift u. a. Folgendes ausgeführt:
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"Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und führt zu einem – zumindest vorläufigen –
Erfolg.
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Die Verfahrensrüge des Betroffenen, mit der er die Gesetzeswidrigkeit der
Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG geltend macht und damit auch die
Verletzung des rechtlichen Gehörs rügt, entspricht den Anforderungen des § 79 Abs. 3 i.
V. m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.
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Nach den genannten Vorschriften muss bei einer Verfahrensrüge der Tatsachenvortrag
so vollständig sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der
Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn das tatsächliche
Vorbringen des Betroffenen zutrifft. Wird die Versagung rechtlichen Gehörs gerügt, muss
in der Begründungsschrift durch entsprechenden Tatsachenvortrag schlüssig dargelegt
werden, dass ein Verstoß gegen Artikel 103 Abs. 1 GG vorliegt. In diesem Fall obliegt es
dem Betroffenen, darzulegen, aus welchen Gründen das Gericht seinem
Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG hätte stattgeben müssen. Der Betroffene
muss also darlegen, aus welchen Gründen der Tatrichter von seiner Anwesenheit in der
Hauptverhandlung einen Beitrag zur Aufklärung des Sachverhalts unter keinen
Umständen hätte erwarten dürfen. Hierzu ist es erforderlich, den im Bußgeldbescheid
erhobenen Tatvorwurf und die konkrete Beweislage im Einzelnen vorzutragen. In
diesem Zusammenhang ist in aller Regel auch darzulegen, wann und mit welcher
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Begründung der Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen
Erscheinen gestellt worden ist und wie das Gericht diesen Antrag entschieden hat (zu
vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 27.05.2004 – 2 SsOWi 332/04 –). Da der Anspruch auf
rechtliches Gehör zudem nur dann verletzt ist, wenn die erlassene Entscheidung auf
einem Verfahrensfehler beruht, der seinen Grund in unterlassener Kenntnisnahme und
Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Partei hat, müssen in der
Begründungsschrift konkret die Tatsachen dargelegt werden, anhand derer die
Beruhensfrage geprüft werden kann. Vorliegend ermöglicht die Begründungsschrift des
Betroffenen eine Überprüfung seitens des Rechtsbeschwerdegerichts, ob nach diesen
Grundsätzen eine Versagung rechtlichen Gehörs vorliegt. In der Begründungsschrift
wird der Wortlaut des Schriftsatzes des Verteidigers des Betroffenen vom 24.07.2007,
mit dem die Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen
Erscheinen beantragt worden war, vollständig wiedergegeben. Aus der
Begründungsschrift ergibt sich auch der dem Betroffenen zur Last gelegte
Verkehrsverstoß. Der Begründungsschrift ist ferner zu entnehmen, dass und mit welcher
Begründung der Betroffene einen Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum
persönlichen Erscheinen gestellt hat. Ferner wird dargelegt, dass dieser Antrag vom
Gericht nicht im Sinne des Betroffenen beschieden worden ist. Schließlich ist der
Begründungsschrift zu entnehmen, dass der Betroffene eine Einlassung zur Sache
abgegeben und außerdem erklärt hat, dass von ihm in der Hauptverhandlung keine
weitere Aufklärung der Sache zu erwarten sei.
Bleibt der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung der Hauptverhandlung fern und
wird daraufhin der Einspruch durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, so kann
die Einspruchsverwerfung das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzen,
wenn einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum
persönlichen Erscheinen (§ 73 Abs. 2 OWiG) zu Unrecht nicht entsprochen worden ist
(OLG Hamm, Senatsbeschluss vom 20.09.2005 – 3 SsOWi 626/05 -).
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Das Amtsgericht hätte dem Entbindungsantrag stattgeben müssen. Dieser ist wirksam
gestellt worden. Insbesondere konnte dieser auch noch zu Beginn der
Hauptverhandlung nach Aufruf der Sache durch den Verteidiger gestellt werden (zu vgl.
OLG Hamm, Beschluss vom 16.08.2006 – 2SsOWi 348/06 -). Nach § 73 Abs. 2 OWiG
entbindet das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum
persönlichen Erscheinen, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich
in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde und seine Anwesenheit zur
Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Die
Entbindung ist nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt (zu vgl. OLG Hamm,
Senatsbeschluss vom 20.09.2005 – 3 SsOWi 626/05 -). Das Gericht ist vielmehr
verpflichtet, dem Entbindungsantrag zu entsprechen, wenn die Voraussetzungen des §
73 Abs. 2 OWiG vorliegen.
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Auf dieser Grundlage kann die Entscheidung des Amtsgerichts keinen Bestand haben.
Der Betroffene hatte seine Fahrereigenschaft eingeräumt. Mit Schriftsatz vom
24.07.2007 hatte der Verteidiger mitgeteilt, dass der Betroffene seine Fahrereigenschaft
eingeräumt habe. Darüber hinaus hat er erklärt, dass der Betroffene in der
Hauptverhandlung keine weitere Einlassung abgeben werde. Aufgrund dieser Angaben
war klargestellt, dass von der persönlichen Anwesenheit des Betroffenen im
Hauptverhandlungstermin keine weitergehende Aufklärung des Tatvorwurfs zu erwarten
war. Im Übrigen war dem Verteidiger zudem eine Vertretungsvollmacht erteilt worden,
so dass dieser Erklärungen für den Betroffenen hätte abgeben können. Schließlich
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beruht die angefochtene Entscheidung auf einem Verfahrensfehler, der seinen Grund in
unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags des
Betroffenen hat, so dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das
Amtsgericht Minden zurückzuverweisen ist."
Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an und macht sie zum
Gegenstand seiner Entscheidung.
14
III.
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Ergänzend bemerkt der Senat:
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Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist zwischenzeitlich keine
Verfolgungsverjährung eingetreten. Die Unterbrechung der Verfolgungsverjährung
erfolgte zuletzt jeweils durch den Erlass des zweiten Bußgeldbescheides (§ 33 Abs. 1
Nr. 9 OWiG), den Eingang der Akten beim Amtsgericht (§ 33 Abs. 1 Nr. 10 OWiG), die
Anberaumungen der Hauptverhandlungstermine am 08.01. und 18.01.2007 (§ 33 Abs. 1
Nr. 11 OWiG) sowie am 14.05.2007 und 11.06.2007. Dass in dem ersten
Hauptverhandlungstermin der erste – bereits aufgehobene – Bußgeldbescheid verlesen
wurde, ändert daran nichts. Zunächst ist die darin beschriebene Tat identisch mit der im
zweiten Bescheid benannten Tat, so dass klar war, sich das Verfahren auf die Tat vom
19.04.2006 bezieht. Darüber hinaus war aber auch allen Beteiligten klar, dass es in dem
Verfahren um den Bußgeldbescheid vom 06.11.2006 geht. Das ergibt sich daraus, dass
darin der frühere Bescheid aufgehoben worden war, dass in der Mitteilung der
Verwaltungsbehörde über die Abgabe an das Gericht der Bußgeldbescheid vom
06.11.2006 bezeichnet ist und dass in dem Schreiben des Verteidigers vom 24.07.2007,
welches in der Rechtsbeschwerdeschrift im Wortlaut mitgeteilt wird, selbst auf den
Bußgeldbescheid vom 06.11.2006 Bezug genommen wird.
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Auch ein Verfahrenshindernis wegen eines zu unbestimmten Bußgeldbescheides
besteht nicht. Dieser erfüllt, auch wenn darin nur die gefahrene Geschwindigkeit nach
Abzug des Toleranzwertes (nicht aber der Toleranzwert selbst) angegeben ist, seine
Umgrenzungsfunktion (vgl. OLG Hamm Beschl. v. 15.06.2007 – 1 Ss OWi 324/07). Dass
im ersten Hauptverhandlungstermin der falsche Bußgeldbescheid verlesen wurde, stellt
einen – hier allerdings nicht gerügten, weiteren – Verfahrensfehler, aber ebenfalls kein
Verfahrenshindernis dar.
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