Urteil des OLG Hamm vom 17.08.2006

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Oberlandesgericht Hamm, 1 OBL 75/06
Datum:
17.08.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 OBL 75/06
Tenor:
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Dortmund vom 22. Dezember 2005 (77
Gs 102 Js 737/05 - 2207/05 StA Dortmund) und die diesen Haftbefehl
aufrechterhaltene Entscheidung des Schöffengerichts Dortmund vom 2.
August 2006 (76 Ls 218/06) werden aufgehoben.
Gründe:
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I.
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Der Angeschuldigte wurde am 14. Februar 2006 vorläufig festgenommen und befindet
sich seitdem aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Dortmund vom 22. Dezember
2005 ununterbrochen in Untersuchungshaft. In diesem Haftbefehl wird dem
Angeschuldigten zur Last gelegt, sich durch vier selbstständige Handlungen wegen
Bedrohung in Tateinheit mit versuchter Nötigung und wegen Bedrohung in Tateinheit
mit Beleidigung in drei weiteren Fällen strafbar gemacht zu haben.
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Im Einzelnen wird ihm in dem Haftbefehl Folgendes vorgeworfen:
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"Nachdem der Beschuldigte am 27.09.2005 nach einer verbalen Auseinandersetzung
versucht hatte, auf die Zeugin G. einzustechen, wobei er geäußert hatte, dass er sie
umbringen werde, befand sich der Beschuldigte in der Zeit vom 27.09.2005 bis zum
15.12.2005 in dem Verfahren 74 Ls 102 Js 570/05 - 841/05 in Untersuchungshaft in der
JVA Dortmund. Da die Zeugin das Messer ergreifen konnte, erlitt diese
Beugesehnendurchtrennungen an beiden Händen. Im Rahmen der Hauptverhandlung
am 15.12.2005 wurde der Beschuldigte zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und
sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.
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Nachdem er am 19.12.2005 einen Selbstmordversuch begangen hatte, befand er sich
im K-Hospital in E.
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1. Als die Zeugin G. den Beschuldigten daraufhin besuchte, äußerte er ihr gegenüber,
daß es sich bei der letzten Tat lediglich um eine Drohung gehandelt habe, er die Tat
jedoch vollenden werde, wenn diese sich mit einem anderen Mann einlasse.
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2. Am 21.12.2005 gegen 17.00 Uhr - nach Entlassung aus dem Krankenhaus - meldete
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er sich erneut bei der Zeugin G. und betitelte diese als "Schlampe". Er äußerte, er wisse
schon, was er mit ihr und seiner Ex-Frau anstellen werde. Daraufhin wurde das
Gespräch durch die Zeugin beendet.
3. Am selben Tag, ca. 1 Stunde später, rief der Beschuldigte die Zeugin G. erneut an
und gab an, er werde diese zerstückeln. Sie solle aufpassen, wenn sie rausgehe. Er
finde sie überall. Sie würde ihm gehören. Zudem bezeichnete er die Zeugin als "Hure"
und "Schlampe".
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4. Gegen 23.00 Uhr desselben Tages meldete er sich erneut bei der Zeugin. Als diese
ein Treffen mit ihm ablehnte, betitelte er sie erneut als "Hure" und "Schlampe" und
drohte ihr an, sie zu erwürgen."
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Wegen dieser Vorwürfe hat die Staatsanwaltschaft Dortmund bereits unter dem 28.
Februar 2006 Anklage beim Amtsgericht - Schöffengericht - Dortmund erhoben. Mit
Schreiben vom 7. März 2006 hat der Vorsitzende des Schöffengerichts die Akten dem
Direktor des X Zentrums für Psychiatrie in E mit der Bitte um Erstellung eines
Gutachtens "zu den Fragen §§ 20, 21, 63, 64 StGB" übersandt und um beschleunigte
Erledigung gebeten, da es sich um eine Haftsache handele. Die Westfälische Klinik E
teilte anschließend dem Amtsgericht lediglich unter dem 3. April 2006 mit, dass die
Begutachtung durch die Ärzte W. und O. (Abteilung Allgemeine Psychiatrie I) erfolgen
werde. Sachstandsanfragen und Erinnerungen an eine vordringliche Erledigung des
Gutachtenauftrags hat der Vorsitzende des Schöffengerichts nicht veranlasst. Erst mit
Schreiben vom 19. Juli 2006 hat der Vorsitzende den Gutachter darauf "hingewiesen,
dass Mitte August die 6-Monats-Frist abläuft". Um Übersendung des Gutachtens bis zum
10. August werde deshalb gebeten.
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Der Vorsitzende des Schöffengerichts hat - jedenfalls soweit dies den dem Senat
vorliegenden Akten zu entnehmen ist - über die Eröffnung des Hauptverfahrens noch
nicht entschieden. Lediglich der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 10.
August 2006 im Verfahren über die Haftprüfung gem. §§ 121, 122 StPO ist zu
entnehmen, dass - nach fernmündlicher Auskunft - die Hauptverhandlung für den 7.
September 2006 vorgesehen sei.
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Auf telefonische Rücksprache hat es der Vorsitzende des Schöffengerichts trotz eines
ausdrücklichen Hinweises des Senats auf die möglicherweise fortbestehende
Gefährlichkeit des Angeschuldigten und die sich aus der fehlerhaften Bearbeitung
dieses Strafverfahrens ergebenden rechtlichen Konsequenzen ausdrücklich abgelehnt,
den Hauptverhandlungstermin beschleunigt - ggf. unter Verzicht auf Ladungsfristen -
vorzeitig anzuberaumen.
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II.
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Der Haftbefehl des Amtsgerichts Dortmund vom 22. Dezember 2005 und die hierzu
ergangene Haftfortdauerentscheidung des Amtsgerichts waren aufzuheben, weil die
Voraussetzungen, unter denen die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate
hinaus gemäß § 121 Abs. 1 StPO angeordnet werden kann, nicht vorliegen.
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Zwar ist der Angeklagte der ihm in dem vorbezeichneten Haftbefehl zur Last gelegten
Taten, die in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 28. Februar 2006
zutreffend dargestellt werden, dringend verdächtig. Auch besteht der Haftgrund der
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Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), denn der Angeschuldigte hat mit der
Verhängung einer empfindlichen – vollstreckbaren – Freiheitsstrafe zu rechnen und
außerdem mit dem Widerruf der Aussetzung einer gegen ihn erst am 15. Dezember
2005 verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Er verfügt nicht
über tragfähige soziale Bindungen und geht keiner geregelten Tätigkeit nach.
Schließlich stehen auch Gründe der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der
Untersuchungshaft nicht entgegen.
Weder die besondere Schwierigkeit noch der besondere Umfang der Ermittlungen noch
ein anderer wichtiger Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO rechtfertigen aber die weitere
Fortdauer der Untersuchungshaft, denn das Schöffengericht Dortmund hat das
Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert. Das
Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass der
verfassungsrechtliche Freiheitsanspruch (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) des noch nicht
verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen
und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist
und sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse
mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. BVerfGE 20, 45, 49 ff.;
36, 264; 53, 152, 158 ff.). Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch
Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Erlass eines Urteils wegen
derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die
besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer
wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Untersuchungshaft
rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO, die eine Fortdauer der
Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus somit nur in begrenztem Umfange
zulässt, ist dementsprechend eng auszulegen (vgl. BVerfGE 36, 264, 271; 53, 152, 158
ff.). Den verfassungsrechtlichen Ansprüchen an die Zügigkeit der Bearbeitung in
Haftsachen wird nur dann entsprochen, wenn die Strafverfolgungsbehörden und
Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell
wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (BVerfGE 20, 45, 50; NJW
2003, 2895, 2896; OLG Hamm StV 2000, 90, 91; OLG Brandenburg StV 2000, 37; OLG
Köln StV 1999, 40; OLG Düsseldorf NJW 1996, 2587; OLG Frankfurt StV 1995, 423).
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Auf diese Anforderungen, wie sie gemäß § 121 Abs.1 StPO an die Fortdauer der
Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus zu stellen sind, ist der in diesem Amt
offensichtlich überforderte Vorsitzende des Schöffengerichts Dortmund bereits in
vorangegangenen Strafverfahren, in denen er ebenfalls das in Haftsachen geltende
besondere Beschleunigungsgebot missachtet hatte, wiederholt hingewiesen worden.
Gleichwohl gibt auch die Führung des vorliegenden Verfahrens zu erheblichen
Beanstandungen Anlass.
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Zwar erscheint es vertretbar, dass der Vorsitzende des Schöffengerichts aufgrund der
Tatumstände und der Vorfälle, die bereits am 15. Dezember 2005 zur Verurteilung des
Angeschuldigten geführt haben, die psychiatrische Untersuchung des Angeschuldigten
veranlasst hat. Er hätte sich dann aber auch – gegebenenfalls telefonisch – um einen
zur unverzüglichen Begutachtung bereiten Sachverständigen bemühen müssen, um die
Beauftragung eines wie hier offensichtlich überlasteten Sachverständigen zu
vermeiden. Spätestens nach Ablauf eines Monats hätte er außerdem die Erstellung des
Gutachtens anmahnen und gegebenenfalls einen anderen Sachverständigen
beauftragen müssen, der sich zu einer zeitnäheren Erstellung des Gutachtens bereit
gefunden hätte. Dieser Überwachungspflicht ist der Vorsitzende des Schöffengerichts
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zu keinem Zeitpunkt nachgekommen. Der im Zusammenhang mit der Übersendung der
Akten erteilte Hinweis, es handele sich um eine Haftsache und deswegen werde "um
beschleunigte Erledigung" gebeten, genügt diesen Anforderungen ebenso wenig wie
der mit Schreiben vom 19. Juli 2006 an den Sachverständigen erteilte Hinweis auf den
Ablauf der "6-Monatsfrist". Schließlich hat es der Vorsitzende des Schöffengerichts auch
unterlassen, das bereits ohnehin von vermeidbaren Verzögerungen belastete Verfahren
jedenfalls dadurch noch zu beschleunigen, das Ergebnis der psychiatrischen
Untersuchung nach der Exploration am 23. Mai und 30. Mai 2006 von dem
Sachverständigen- telefonisch – vorab zu erfragen, um anschließend unverzüglich über
die Eröffnung des Hauptverfahrens zu entscheiden und einen nahegelegenen
Hauptverhandlungstermin, jedenfalls vor Ablauf der Frist des § 121 StPO,
anzuberaumen.
Auch nach Eingang des Gutachtens vom 2. August 2006 hat das Amtsgericht das
einfach strukturierte Strafverfahren (1 Zeugin) nicht in der gebotenen Weise gefördert.
Die Ankündigung, die Hauptverhandlung trotz zwischenzeitlichen Ablaufs der Frist des
§ 121 StPO erst weitere fünf Wochen später durchzuführen, verstößt unter
Berücksichtigung der Gesamtumstände dieses zögerlich bearbeiteten Verfahrens erneut
gegen das Beschleunigungsgebot. Zu einem früheren Hauptverhandlungstermin - ggf.
unter Verzicht auf Ladungsfristen - hat sich der Vorsitzende des Schöffengerichts auch
auf eine mündliche Anfrage des Senats nicht bereit gefunden. Des festgestellten
Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot, d.h., der Gesetzwidrigkeit seines
Verhaltens, und der sich daraus ergebenden Konsequenz der Aufhebung des
Haftbefehls ist er sich damit offensichtlich bewusst.
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Da die mit der Terminierung auf den 7. September 2006 sich ergebende nicht
unerhebliche Verzögerung des Verfahrensabschlusses die Folge der fehlerhaften
Sachbehandlung durch den Vorsitzenden des Schöffengerichts ist, ist eine
Haftverlängerung über sechs Monate hinaus nicht gerechtfertigt. Der Senat ist daher
nach den §§ 121, 122 StPO gehalten, den Haftbefehl - ungeachtet einer möglicherweise
fortbestehenden Gefährlichkeit des Angeschuldigten – aufzuheben.
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