Urteil des OLG Hamm vom 23.11.1984

OLG Hamm (versicherungsnehmer, explosion, versicherungsschutz, bedingter vorsatz, vvg, schaden, haftpflichtversicherung, gas, ehefrau, haus)

Oberlandesgericht Hamm, 20 U 187/84
Datum:
23.11.1984
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
20. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 U 187/84
Vorinstanz:
Landgericht Essen, 19 O 39/84
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 9. März 1984 verkündete
Urteil der 19. Zivilkammer des Landgerichts Essen abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden den Klägern auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Den Klägern wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 10.000,- DM abzuwenden, sofern nicht
die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Der am ... durch Selbstmord aus dem Leben geschiedene ... war bei der Beklagten
haftpflichtversichert. Dem Versicherungsvertrag lagen u.a. die AHB in der früheren
Fassung, nach deren §1 Versicherungsschutz für den Fall gewährt wurde, daß gegen
den Versicherungsnehmer wegen eines während der Wirksamkeit des Vertrages
eingetretenen "Ereignisses" (neuere Fassung: "Schadensereignisses")
Haftpflichtansprüche Dritter entstanden, und außerdem die "Besonderen Bedingungen
und Risikobeschreibungen zu Privat-, Familien- und Sporthaftpflichtversicherung"
zugrunde. Diese letzteren lauten u.a.:
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"I. Versichert ist die gesetzliche Haftpflicht des Versicherungsnehmers als
Privatperson aus den Gefahren des täglichen Lebens - mit Ausnahme der Gefahren
eines Betriebes, ... oder einer ungewöhnlichen, gefährlichen Beschäftigung - ..."
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... hat am ... in Selbstmordabsicht den Stopfen einer stillgelegten Gasleitung in seiner
Wohnung entfernt und ist dann durch das austretende Gas tötlich vergiftet worden. Als
ein anderer Mitbewohner des Hauses im Treppenhaus den Lichtschalter betätigte, kam
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es zu einer Explosion, durch die das Haus völlig zerstört wurde. Die Eigentümer ließen
das Haus wieder aufbauen und machten ihren nicht durch den Feuerversicheer
ersetzten Schaden am 9.12.81 und 14.6.82 gegenüber der Beklagten geltend. Die
Beklagte lehnte jede Haftung ab.
Die Ehefrau des Herrn ... schlug, zugleich für ihren minderjährigen Sohn, die Erbschaft
durch Erklärung vom 16.11.1981 - eingegangen beim Nachlaßgericht am gleichen Tage
- aus. Weitere Erben schlugen im März 1982 aus.
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Mit Beschluß des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 2.11.1983 wurde Rechtsanwalt ...
zum Nachlaßpfleger für die unbekannten Erben des Herrn ... bestellt. Er hatte die
Beklagte bereits mit Schreiben vom 12.7.1983 zur Erteilung von Deckungsschutz aus
der Haftpflichtversicherung aufgefordert. Diese hatte mit Schreiben vom 21.7.1983 unter
Fristsetzung nach §12 III VVG abgelehnt.
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Mit Klage vom 19.1.1984 - zugestellt am 23.1.1984 - hat er dann im Namen der
unbekannten Erben Klage auf Deckungsschutz erhoben.
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Er hat beantragt,
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festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, die durch den Nachlaßpfleger vertretenen
Erben im Deckungsverhältnis hinsichtlich des Schadensersatzanspruches des
Hauseigentümers freizustellen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie beruft sich auf Verjährung. Sie meint weiterhin, ihre Leistungspflicht bestehe nicht,
da der Schaden erst nach dem Tode, also nach Beendigung des
Versicherungsverhältnisses, entstanden sei. Im übrigen sei der Schaden vorsätzlich
herbeigeführt worden, so daß eine Einstandspflicht nach §4 II 1 AHB ausscheide.
Außerdem hafte sie auch deshalb nicht, weil es sich um eine ungewöhnliche und
gefährliche Beschäftigung handele.
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Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Wegen der Begründung wird
auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.
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Gegen dieses Urteil richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete
Berufung der Beklagten.
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Beide Parteien wiederholen in der Berufungsinstanz ihre erstinstanzlichen Argumente
und Anträge.
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Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der
gewechselten Schriftsätze und die beigefügten Anlagen verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung hat Erfolg. Die Beklagte ist aus dem mit dem verstorbenen Herrn ...
abgeschlossenen Haftpflichtversicherungsvertrag nicht zur Gewährung von
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Versicherungsschutz verpflichtet.
1)
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Der Versicherungsschutz entfällt nicht deshalb, weil der Versicherungsnehmer bereits
vor der Explosion verstorben ist. Zwar endete der Vertrag, bei dem es sich um einen
personenbezogenen und nicht um einen sachbezogenen
Haftpflichtversicherungsvertrag handelte, wegen Wegfalls des versicherten Risikos
nach §9 III der damaligen (§9 IV der jetzigen) AHB (Bruck-Möller-Johannsen, 8. Aufl.,
Allgemeine Haftpflichtversicherung, Anm. D 28; Wussow, AHB, 8. Aufl., §1 Anm. 20; §9
Anm. 15) mit dem Tode des Versicherungsnehmers. Jedoch war zu diesem Zeitpunkt
das die Schadensersatzansprüche Dritter auslösende Ereignis bereits eingetreten.
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Entscheidend ist hier nicht die jetzige Fassung der AHB, bei denen das Wort "Ereignis"
durch "Schadensereignis" ersetzt wurde. Diese Änderung ist erst durch Verordnung des
Bundesaufsichtsamtes für Versicherungen vom 15.1.1982 genehmigt worden (VBAAV
82, 65 f, 122 f). Diese Änderung kann nicht schon für den Versicherungsfall vom
6.10.1981 gelten. Unabhängig davon, ob die Änderung der AHB auch für laufende
Versicherungsverträge gültig wird, kann jedenfalls eine solche Änderung nicht zu
Lasten des Versicherungsnehmers bei einem schon eingetretenen Versicherungsfall
angewandt werden.
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Aus dem Zweck einer personenbezogenen Haftpflichtversicherung ist "mit Rücksicht auf
die primär hervorzuhebende Verantwortlichkeit des Versicherungsnehmers für die
Ursächlichkeit des Geschehens" grundsätzlich auf den Verstoß selbst abzustellen
(Johannsen a.a.O., Anm. B 22). Danach kann es zumindest für die frühere Fassung der
AHB nicht auf das Schadensereignis ankommen, wenn darunter allein die Explosion
verstanden werden sollte, sondern es muß auf das Kausalereignis, die schadenstiftende
Handlung des Versicherungsnehmers, abgestellt werden. Insoweit folgt der Senat der
Auffassung des Bundesgerichtshofs (VersR 81, 173). Die von Prölss-Martin (23. Aufl.,
§149 VVG, Anm. 2 A e) dagegen vorgebrachten Bedenken überzeugen nicht. Der
Versicherungsnehmer darf erwarten, daß er auch für die nach Vertragsbeendigung
eintretenden Schäden, deren Ursache in die Vertragszeit fällt und für die er haftpflichtig
bleibt, Versicherungsschutz hat. Demgegenüber hat er bei dieser Auslegung der
Bedingungen für vor Vertragsbeginn liegende Handlungen keinen Versicherungsschutz.
Ein durchschnittlicher und gewissenhafter Versicherungsnehmer wird auch nicht
erwarten, daß ein Versicherer bereit sein könnte, einen schon von vornherein
schadensbelasteten Vertrag abzuschließen (BGH VersR 81, 174). Daß der Versicherer
bei dieser Auslegung gezwungen ist, Reserven für Schäden nach Vertragsbeendigung
anzulegen, ist kein stichhaltiges Gegenargument.
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Im übrigen neigt der Senat im konkreten Fall auch dazu, nicht erst die Explosion,
sondern bereits das allmähliche Anfüllen des Hauses mit Gas als das eigentliche
Schadensereignis anzusehen, dessen Folge erst die Explosion war. Bei dieser
Auffassung ist auch das Schadensereignis bereits vor dem Tod eingetreten. Dies
braucht aber wegen der vorangehenden Darlegungen nicht vertieft zu werden.
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2)
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Der Beklagte ist auch nicht wegen Vorsatzes des Versicherungsnehmers nach §4 II 1
AHB leistungsfrei. Der Vorsatz muß nach herrschender Meinung die Schadensfolgen
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mitumfassen (vgl. Prölss-Martin, nach §158 k VVG, §4 AHB, Anm. 7 m.w.N.). Dabei
reicht bedingter Vorsatz aus. Der Versicherungsschutz wäre damit nur dann
ausgeschlossen, wenn sich der Versicherungsnehmer die Explosion als Folge seines
Tuns vorgestellt und billigend in Kauf genommen hat. Das kann die Beklagte nicht
beweisen. Vorstellungen und Willensrichtungen eines Selbstmörders vor seiner Tat sind
nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Möglicherweise sind seine Vorstellungen und
Gedanken auf die eigene Person und auf die bestehende oder angenommene
Ausweglosigkeit der eigenen Situation fixiert und eingeschränkt, so daß Auswirkungen
seines Tuns auf Dritte gar nicht mehr erfaßt und bedacht werden. Daher kann aus der
sich in der Tat aufdrängenden Gefährlichkeit seines Tuns nicht darauf gefolgert werden,
daß ihm dies auch bewußt ist und daß er darüber hinaus etwaige Folgen noch billigend
in Kauf genommen hat. Hier gibt es keine allgemeinen Erfahrungssätze. Auch
besondere Umstände dieses konkreten Falles geben keine besonderen Anhaltspunkte
für einen Vorsatz des Versicherungsnehmers. Die Aussage seiner Ehefrau vom
6.10.1981 vor der Polizei in ... (vgl. Bl. 69 der Strafakten) spricht eher dagegen, daß er
sich eine Explosion und Zerstörung des Hauses vorgestellt haben könnte. Wenn er ihr
ankündigte, sie könne am 7.10.1981 die Polizei benachrichtigen die ihn dann tot in der
Wohnung vorfinden werde, spricht das gegen seine Vorstellung, er werde eine
Explosion verursachen und so das Haus zerstören. Weiteren Beweis hat die Beklagte
nicht angetreten.
3)
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Ein Anspruch aus dem Versicherungsvertrag entfällt aber deshalb, weil die
Voraussetzungen der "Besonderen Bedingungen und Risikobeschreibungen" nicht
vorliegen.
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Der Senat hält schon für zweifelhaft, ob es sich hier um Haftpflichtansprüche handelt,
die Herrn Bartel, dem Versicherungsnehmer, aus "Gefahren des täglichen Lebens"
erwachsen sind. Bei lebensnaher Betrachtungsweise und nach dem allgemeinen
Sprachgebrauch sind Schadensersatzansprüche aus Anlaß eines Selbstmords keine
Verwirklichung der Gefahren des täglichen Lebens. Dieser Begriff soll die Gesamtheit
der sozialen Kontakte und Berührungspunkte des Versicherungsnehmers im
menschlichen Zusammenleben, aus denen er schadensersatzpflichtig werden könnte,
bezeichnen und gleichzeitig eine Abgrenzung zur Betriebshaftpflicht bilden. Nur soweit
sich der Versicherungsnehmer nicht bewußt grundlegende Regeln dieses sozialen
Zusammenlebens mißachtet und für sich außer Kraft setzt, kann er Versicherungsschutz
erwarten. Deshalb hat der Senat bei Schäden, die bei der Begehung eines
Einbruchsdiebstahls verursacht wurden, Versicherungsschutz verneint (OLG Hamm,
VersR 82, 566). Diese Einschränkung ist nicht auf Straftaten zu begrenzen. Auch ein
Selbstmord ist eine so weitreichende Abweichung von allgemeinen Regeln und
üblichem Verhalten, daß sich für den Selbstmörder damit nicht mehr die Gefahren des
täglichen Lebens verwirklichen.
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Selbst wenn aber noch von Gefahren des täglichen Lebens ausgegangen werden sollte,
ist hier der Schaden "bei einer ungewöhnlichen, gefährlichen Beschäftigung"
entstanden. Erforderlich ist dafür, daß die schadenstiftende Handlung im Rahmen einer
allgemeinen Beschäftigung erfolgt, die ihrerseits ungewöhnlich und gefährlich ist
(Prölss-Martin, nach §§149 ff. VVG, nach §11 AHB, Anm. 3; Bruck-Möller-Johannsen,
Anm. G 271; BGH VersR 56, 283; 81, 271/3; OLG Hamm, VersR 73, 1133; 79, 175; 81,
122; 82, 565). Es kommt nicht darauf an, ob die einzelne schadenstiftende Handlung
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ungewöhnlich und gefährlich ist, sondern ob die genannten Merkmale für die
Beschäftigung gelten, in deren Rahmen es zu der schadenstiftenden Handlung
gekommen ist (BGH VersR 81, 273). Schadenstiftende Handlung ist hier das Öffnen der
Gasleitung, so daß Gas ungehindert und unbewacht ausströmen konnte und im
Rahmen der Gesamtplanung auch sollte. Das ist als Einzelhandlung sicher
ungewöhnlich und gefährlich. Wegen der übergeordneten allgemeinen Beschäftigung
ist nicht auf das Begehen eines Selbstmords abzustellen. Das ist keine Beschäftigung
des täglichen Lebens, sondern eine Reaktion in einer wirklichen oder vermeintlichen
Ausnahmesituation und im übrigen auch wegen der zahlreichen unterschiedlichen
Begehungsmöglichkeiten nicht signifikant. Allgemeine Handlungen sind hier das
Manipulieren an einer stillgelesten Gasleitung und deren Öffnen in dem Bewußtsein,
das Gas werde danach ungehindert und unbewacht ausströmen. Dies ist einmal im
hohen Grad ungewöhnlich und unüblich. Nur in seltenen Ausnahme fällen wird eine
solche Handlung vorgenommen werden. Es ist auch gefährlich. Es besteht nämlich die
Gefahr, daß dabei Dritte - nur auf diese, nicht auf den Versicherungsnehmer kommt es
bei der Haftpflichtversicherung angeschädigt und der Versicherungsnehmer und damit
auch der Versicherer deshalb Ansprüchen ausgesetzt werden.
Damit entfällt hier ein Versicherungsanspruch.
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4)
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Solche Haftpflichtansprüche wären übrigens entgegen der Ansicht der Beklagten nicht
verjährt gewesen. Ehefrau und Sohn des Versicherungsnehmers haben die Erbschaft
rechtzeitig ausgeschlagen (§1944 BGB). Deren etwaige Kenntnis von der
Anspruchserhebung durch die Eigentümer ist damit nicht den jetzigen - unbekannten -
Erben zuzurechnen. Damit hat der Lauf der zweijährigen Verjährungsfrist (§12 I VVG),
die mit der Geltendmachung der Ansprüche der Geschädigten beginnt, erst mit der
Ernennung des Nachlaßpflegers (2.11.1983) begonnen. Selbst wenn der Ablauf der
Verjährungsfrist schon früher begonnen hätte, konnte diese erst sechs Monate nach
diesem Zeitpunkt ablaufen (§207 BGB).
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Die am 23.1.1984 zugestellte Klage war damit immer rechtzeitig. -
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5)
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Die Entscheidung über die Kosten und die vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf
§§91, 708 Ziffer 10, 711 ZPO.
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Der Wert der Beschwer beträgt 224.563,- DM.
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