Urteil des OLG Hamm vom 14.03.2017

OLG Hamm (letztwillige verfügung, erblasser, gegen die guten sitten, ehefrau, erbeinsetzung, schutz der familie, verfügung, testament, irrtum, familie)

Oberlandesgericht Hamm, 15 W 69/79
Datum:
11.09.1979
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
15. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 W 69/79
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 3 T 35/79
Tenor:
Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das
Landgericht zurückverwiesen.
Gründe:
1
I)
2
Der am 13. Dezember 1892 geborene Erblasser war seit dem 19. Juni 1916 mit seiner
zwei Jahre jüngeren Ehefrau xxx verheiratet. Aus der Ehe sind der am 17. Februar 1926
geborene Beteiligte zu 2) und die am 20. Oktober 1919 geborene Beteiligte zu 3)
hervorgegangen. Frau xxx ist am 6. April 1976 verstorben und von den Beteiligten zu 2)
und 3) beerbt worden.
3
Die Eheleute bewirtschafteten bis etwa 1944 einen Hof in xxx. Gegen Kriegsende
flüchtete der Erblasser nach Westdeutschland. Er lebte hier in xxx mit einer Frau xxx
zusammen. Frau xxx hat am 7. März 1944 in xxx den Beteiligten zu 1) und am 7.
November 1946 in xxx den Sohn xxx geboren. Als Eltern dieses Kindes wurden im
Geburtenbuch des Standesamtes xxx der Landwirt xxx und xxx eingetragen (Nr. xxx).
Der Beteiligte zu 1) wurde Ostern 1950 unter dem Namen "xxx" als "Sohn des Landwirts
xxx" eingeschult.
4
Am 8. Juli 1946 errichtete der Erblasser ein notarielles Testament (Urkundenrolle Nr.
xxx des Notars xxx in xxx).
5
Darin heißt es:
6
"Zu meinem alleinigen Erben setze ich ein den am 7. März 1944 geborenen xxx in xxx.
7
Meine erste Ehe ist geschieden. Meine Kinder aus dieser Ehe sind bereits abgefunden,
so daß sie keinerlei Ansprüche an meinen Nachlaß mehr haben. "
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Frau xxx, die noch zu Lebzeiten des Erblassers einen Herrn xxx heiratete und
inzwischen verstorben ist, gab am 7. Februar 1958 vor dem Amtsgericht xxx eine
eidesstattliche Versicherung ab, wonach ihre Kinder xxx und xxx nichtehelich geboren
seien; ihr Erzeuger sei xxx, der Erblasser. Er habe sie vor Verwandten und Behörden
als seine Ehefrau ausgegeben und ihr wiederholt versprochen, sie zu heiraten.
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Der Erblasser erkannte am 9. Februar 1959 vor dem Amtsgericht xxx die Vaterschaft zu
den Kindern xxx und xxx an (62 VII L 2265 AG xxx). Dabei bezeichnete er sich als
verheiratet.
10
Auf Antrag des Beteiligten zu 2) hat das Amtsgericht unter dem 23. Dezember 1976 - in
Unkenntnis des Testaments vom 8. Juli 1946 - einen gemeinschaftlichen Erbschein
dahin erteilt, daß der Erblasser auf Grund gesetzlicher Erbfolge von seiner
nachverstorbenen Ehefrau xxx zu 1/2 Anteil und von den Beteiligten zu 2) und 3) zu je
1/4 Anteil beerbt worden sei.
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Der Beteiligte zu 1) hat mit Schriftsatz vom 31. Mai 1978 beantragt, diesen Erbschein als
unrichtig einzuziehen. Er hat die Auffassung vertreten, daß er auf Grund des Testaments
vom 8. Juli 1946 Alleinerbe nach seinem Vater geworden sei. Dazu hat er behauptet,
seine Mutter sei mit dem Erblasser verheiratet gewesen, nachdem dessen erste Ehe
geschieden worden sei.
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Der Beteiligte zu 2) hat dieser Darstellung widersprochen. Mit Schriftsatz vom 11. Juli
1978 hat er das Testament gemäß §§ 2078, 2079 BGB angefochten. Er hat ausgeführt:
Die Ehe seiner Eltern sei niemals geschieden worden. Der Erblasser habe sich somit
zur Zeit der Testamentserrichtung in einem Irrtum befunden, der die Anfechtung
rechtfertige. Ebenso unrichtig sei die testamentarische Erklärung, die ehelichen Kinder
seien abgefundenen; in Wirklichkeit habe der Erblasser zu keiner Zeit eine Abfindung
an seine Kinder gezahlt. Im übrigen habe der Erblasser durch die Übergehung seiner
Ehefrau als Pflichtteilsberechtigter einen Anfechtungsgrund nach § 2079 BGB gegeben.
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Mit Beschluß vom 28. Dezember 1978 hat das Amtsgericht die beantragte Einziehung
des Erbscheins abgelehnt, da die testamentarische Erbeinsetzung des Beteiligten zu 1)
wirksam angefochten sei. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde des Beteiligten zu 1)
hat das Landgericht durch Beschluß vom 9. Februar 1979 unter Aufhebung der
amtsgerichtlichen Entscheidung die Einziehung des Erbscheins angeordnet und den
Erbscheinsantrag des Beteiligten zu 2) vom 21. Dezember 1976 zurückgewiesen.
Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde des Beteiligten zu 2).
14
II)
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Das Rechtsmittel ist statthaft, in rechter Form eingelegt und auch sonst zulässig. Es führt
zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache
an die Vorinstanz; denn die Beschwerdeentscheidung beruht auf einer Verletzung des
Gesetzes (§ 27 FGG). Das Landgericht hat nicht alle für die Entscheidung wesentlichen
Gesichtspunkte berücksichtigt und infolgedessen den Sachverhalt nicht hinreichend
aufgeklärt.
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1.) In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist das Landgericht mit Recht von der Zulässigkeit
der Erstbeschwerde ausgegangen. Hat das Nachlaßgericht einen Erbschein erteilt, d.h.
eine Ausfertigung ausgehändigt, so kann wahlweise dagegen Beschwerde mit dem Ziel
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der Einziehung eingelegt oder beim Nachlaßgericht die Einziehung beantragt werden.
(Keidel/Kuntze/Winkler, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 11. Aufl., Rdn. 4 zu § 84 FGG). Der
Beteiligte zu 1) hat in zulässiger Weise den letzteren Weg gewählt. Gegen die
Ablehnung seines Antrags war er beschwerdebefugt (§ 20 Abs. 1 FGG), da der
Erbschein das von ihm in Anspruch genommene Erbrecht als testamentarischer
Alleinerbe beeinträchtigt.
2.) In der Sache selbst hängt die Entscheidung davon ab, ob das Testament vom 8. Juli
1946 eine wirksame Erbeinsetzung des Beteiligten zu 1) enthält. Ist dies der Fall, so ist
der erteilte Erbschein nach § 2361 BGB als unrichtig einzuziehen; denn die Beteiligten
zu 2) und 3) sowie ihre verstorbene Mutter sind dann - ungeachtet bestehender
Pflichtteilsansprüche - von der Erbfolge ausgeschlossen.
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Das Beschwerdegericht hat dazu ausgeführt: Die Testamentsanfechtung greife nicht
durch, weil nicht nachzuweisen sei, daß der Erblasser zu der angefochtenen
Erbeinsetzung durch die irrige Annahme seiner Scheidung bewogen worden sei oder
das Pflichtteilsrecht seiner Ehefrau nicht gekannt habe. Die Umstände des Falles
sprächen dafür, daß der Erblasser die Erbeinsetzung des Beteiligten zu 1) durch bewußt
falsche Angaben über seine Scheidung und über eine Abfindung der ehelichen Kinder
zu motivieren versucht habe. Im übrigen sei anzunehmen, daß er - einen Irrtum über die
Scheidung unterstellt - auch bei Kenntnis von dem Fortbestand seiner Ehe nicht anders
testiert hätte; denn er habe damals eine neue Familie gegründet und sich endgültig von
seiner Ehefrau abgewandt. - Anhaltspunkte für eine Sittenwidrigkeit des Testaments
seien nicht ersichtlich.
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Diese Erwägungen halten nur zum Teil einer rechtlichen Nachprüfung stand.
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a) Was zunächst die Frage der Sittenwidrigkeit der Erbeinsetzung angeht, läßt die
Beschwerdeentscheidung zwar nicht erkennen, von welchen Wertungen das
Landgericht sich im einzelnen hat leiten lassen (§ 25 FGG). Auf diesem Mangel beruht
der angefochtene Beschluß jedoch nicht. Bei dem Merkmal des Sittenverstoßes nach §
138 Abs. 1 BGB handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen
Voraussetzungen das Rechtsbeschwerdegericht auf der Grundlage der tatrichterlichen
Feststellungen selbständig zu prüfen hat, (Keidel/Kuntze/Winkler, Rdn. 30 zu § 27
EGG). Die Würdigung durch den Senat ergibt, daß die Erbeinsetzung des Beteiligten zu
1) mit den guten Sitten zu vereinbaren ist.
21
Ob eine letztwillige Verfügung gegen die guten Sitten verstößt, beurteilt sich nach dem
Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden (st. Rspr.; vgl. die Nachweise bei
Palandt/Heinrichs, BGB, 38. Aufl., Anm. 1 b zu § 138). Dabei ist von dem das Erbrecht
beherrschenden Grundsatz der Testierfreiheit auszugehen, wonach der Erblasser - von
Ausnahmen abgesehen - von Todes wegen frei über sein Vermögen verfügen darf,
ohne durch das der gesetzlichen Erbfolge zugrunde liegende sittliche Prinzip
(Gernhuber in FamRZ 1960, 326) beschränkt zu sein. Welche Beweggründe den
Erblasser veranlassen, bei der Verteilung seines Nachlasses von der gesetzlichen
Erbfolge abzuweichen, ist grundsätzlich ohne Bedeutung. Der entscheidende Grund für
die Sittenwidrigkeit einer letztwilligen Verfügung liegt in der unredlichen Gesinnung des
Erblassers, wie sie in dem Rechtsgeschäft selbst zum Ausdruck kommt und eine
Verwirklichung erstrebt (BGHZ 20, 71, 73/74). Es kommt deshalb allein auf den sich aus
Inhalt, Beweggrund und Zweck ergebenden Gesamtcharakter des Rechtsgeschäfts an,
der an der Sittenordnung zu messen ist. Daher ist neben der Präge, welche
22
Beziehungen den Erblasser mit dem Bedachten verbunden haben, insbesondere zu
berücksichtigen, wer zugunsten des Bedachten zurückgesetzt worden ist, in welchen
Beziehungen der Erblasser zu den Zurückgesetzten stand und wie sich die Verfügung
für sie auswirkt. Neben der Enge der Beziehungen des Erblassers zu den
Zurückgesetzten kann von Bedeutung sein, wie diese Personen im übrigen
wirtschaftlich gestellt sind, ferner, woher das dem Bedachten zugewandte Vermögen
stammt. Diese vom Bundesgerichtshof für die Beurteilung eines "Geliebten-Testaments"
entwickelten Grundsätze (BGHZ 53, 369, 374 ff) sind auch für die Beurteilung des
vorliegenden Testaments bedeutsam.
Die Einsetzung eines nichtehelichen Kindes zum Alleinerben unter Zurücksetzung der
Ehefrau und der ehelichen Abkömmlinge ist in der Vergangenheit mehrfach als
sittenwidrig betrachtet worden, da die Stellung des nichtehelichen Kindes dadurch in
einer Weise überbewertet werde, die nicht durch das Gleichstellungsgebot des Art. 6
Abs. 5 GG gerechtfertigt sei (OLG Frankfurt FamRZ 1960, 79; LG Lübeck FamRZ 1962,
312; Palandt/Keidel, BGB, 21. Aufl., Anm. 1 A b aa zu § 2077). Diese Auffassung konnte
sich darauf stützen, daß nach § 1589 Abs. 2 BGB a.F. uneheliche Kinder - wie sie
damals bezeichnet wurden - und ihre Erzeuger nicht als verwandt galten, ein
uneheliches Kind also im Verhältnis zur Familie seines Vaters als familienfremd
angesehen wurde. Unter dem Einfluß der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (namentlich BVerfGE 25, 167 = NJW 1969, 597) und im
Hinblick auf die gesetzliche Neuregelung des Nichtehelichen-Erbrechts (§§ 1589, 1934
a ff BGB i.d.F. des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder
(NEhelG) vom 19.8.1969) ist inzwischen ein Wandel dieser Auffassung eingetreten. Das
Bundesverfassungsgericht hat in der genannten Entscheidung hervorgehoben, daß
zwischen den Absätzen 1 (Schutz der Familie) und 5 (Gleichstellung des nichtehelichen
Kindes) des Art. 6 GG kein Widerspruch bestehe, die Familie im Sinne des Abs. 1
vielmehr auch das nichteheliche Kind umfasse. Der Gesetzgeber hat diesem Gedanken
mit der Neuregelung des Nichtehelichen-Erbrechts Rechnung getragen. Seit dem
Inkrafttreten des NEhelG sind nichteheliche Kinder auch im Rechtssinne mit ihren
Vätern verwandt; denn § 1589 Abs. 2 BGB a.F. ist ersatzlos gestrichen. Die
nichtehelichen Kinder sind damit hinsichtlich ihres Erbrechts grundsätzlich den
ehelichen gleichgestellt; sie zählen zu den gesetzlichen Erben der ersten Ordnung nach
§ 1924 BGB (Palandt/Keidel, BGB, 38. Aufl., Anm. 3 B b aa zu § 1924). Ihr gesetzliches
Erbrecht ist zwar nach § 1934 a BGB ausgeschlossen, wenn sie mit der Ehefrau
und/oder ehelichen Abkömmlingen des Erblassers zusammentreffen. Indes sind sie
auch in diesen Fällen wertmäßig in gleicher Weise am Nachlaß beteiligt, als wenn sie
Erben geworden wären; denn nach § 1934 a Abs. 1 BGB steht ihnen dann ein
Erbersatzanspruch in Höhe des Wertes des Erbteils zu. Entsprechend dieser
Veränderung der Rechtslage hat sich auch die Einschätzung letztwilliger Verfügungen
der vorliegenden Art gewandelt. Sie werden in der Regel nicht mehr als sittenwidrig
angesehen, sofern nicht besondere Umstände hinzutreten (Thielmann, Sittenwidrige
Verfügungen von Todes wegen, S. 248ff; Bosch in FamRZ 1972, 175; Palandt/ Keidel
a.a.O.). Dem ist zuzustimmen. Die alleinige Erbeinsetzung eines nichtehelichen Kindes
unter Zurücksetzung der Ehefrau und ehelicher Kinder ist grundsätzlich nicht anders zu
"betrachten, als wenn der Erblasser eines von mehreren ehelichen Kindern als
Alleinerben einsetzt und damit seine Witwe und die übrigen Kinder auf den Pflichtteil
setzt. Eine solche Regelung hält sich im Rahmen der Testierfreiheit und kann nur bei
Vorliegen besonderer Umstände als sittenwidrig angesehen werden.
23
An dieser Wertung hat sich auch die Beurteilung des vorliegenden Testaments
24
auszurichten. Für die Frage, ob eine letztwillige Verfügung sittenwidrig ist, kommt es
zwar - wie auch bei Rechtsgeschäften unter Lebenden - grundsätzlich auf die
tatsächlichen Verhältnisse zur Zeit ihrer Errichtung an, so daß zwischenzeitliche
Änderungen der Gegebenheiten regelmäßig außer Betracht zu bleiben haben (BGHZ
20, 71 = NJW 1956, 965 m. Anm. Rechenmacher = FamRZ 1956, 150; FamRZ 1969,
323; WPM 1977, 399; Palandt/ Keidel, Anm. 1 A b aa zu § 2077 m. weit. Nachw. ). Dies
gilt jedoch nach herrschender Meinung nicht, wenn sich nicht die tatsächlichen
Verhältnisse, sondern die sittlichen Anschauungen ändern; es kommt dann auf den
Zeitpunkt nicht der Vornahme des Rechtsgeschäfts, sondern der richterlichen
Beurteilung an (BGB-RGRK/Krüger-Nieland, 11. Aufl. Anm. 3 zu § 138 m. weit. Nachw.;
Johannsen in Anm. zu BGH LM § 138 (Cd) BGB Nr. 6; Lange/Kuchinke, Erbrecht, 2.
Aufl., S. 511; Palandt/Keidel a.a.O.). Dieser Auffassung ist jedenfalls für Fälle der
vorliegenden Art zuzustimmen, in denen ein Rechtsgeschäft zur Zeit der Entscheidung
als regelmäßig sittengemäß gilt, während es zur Zeit seiner Vornahme als sittlich
bedenklich angesehen wurde. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB
soll nicht eintretenden der Urheber des Geschäfts anstößig gehandelt hat, sondern weil
die Rechtsordnung die Auswirkungen des Geschäfts nicht hinnehmen kann. Billigt die
gegenwärtige Rechtsordnung das Geschäft, so besteht kein Grund, es gleichwohl als
nichtig anzusehen.
Der Berücksichtigung der jetzt geltenden Anschauungen steht es nicht entgegen, daß
der Beteiligte zu 1) bereits 1944 geboren ist. Zwar bestimmt Art. 12 § 10 Abs. 2 NEhelG,
daß für die erbrechtlichen Verhältnisse eines vor dem 1. Juli 1949 geborenen
nichtehelichen Kindes zu seinem Vater die bisher geltenden Vorschriften auch dann
maßgebend bleiben, wenn der Erblasser nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes - d.h.
nach dem 30. Juni 1970 - stirbt. Diese Vorschrift, die Übergangscharakter hat, ändert
aber nichts an der grundsätzlichen Einschätzung der Rechtsstellung nichtehelicher
Kinder, wie sie für das Wert- oder Unwerturteil nach § 138 Abs. 1 BGB maßgeblich ist.
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Besondere Umstände, die das Testament vom 8. Juli 1946 als sittenwidrig erscheinen
lassen könnten, liegen nicht vor. Zwar spricht nach den Feststellungen des Landgerichts
viel dafür, daß der Erblasser dem beurkundenden Notar gegenüber bewußt unwahre
Angaben über die Scheidung seiner Ehe und über die Abfindung seiner ehelichen
Kinder gemacht hat, um die Erbeinsetzung des Beteiligten zu 1) zu rechtfertigen. Es liegt
deshalb nahe, daß er die letztwillige Verfügung selbst als sittlich bedenklich angesehen
hat. Dies allein reicht aber nicht aus, um einen Sittenverstoß zu bejahen; denn es
handelt sich dabei nur um Begleitumstände und Einstellungen des Erblassers, die den
Gesamtcharakter des Testaments nicht entscheidend prägen. Wichtiger sind die
Verhältnisse, unter denen das Testament errichtet wurde, und seine Auswirkungen für
die Beteiligten zu 1) bis 3). Der Erblasser hatte sich - wenn auch möglicherweise nicht
für immer, wie noch darzulegen ist - von seiner Familie abgewandt und war eine neue
Lebensgemeinschaft eingegangen innerhalb derer er die volle Verantwortung für den
Beteiligten zu 1) - dessen Bruder xxx noch nicht geboren war - übernommen hatte. Nach
den getroffenen Feststellungen sorgte er für den Unterhalt von Frau xxx und des Kindes
und gab den Beteiligten zu 1) als sein eheliches Kind aus. Die Erbeinsetzung des
Beteiligten zu 1 kann deshalb zwanglos als Ausdruck der Verantwortung des Erblassers
gegenüber dem Kinde angesehen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der
Beteiligte zu 1) zur Zeit der Testamentserrichtung erst zwei Jahre und damit völlig
unversorgt war, während die Beteiligten zu 2) und 3) dem Elternhaus weitgehend
entwachsen waren und für sich selbst sorgen konnten. Gravierende wirtschaftliche
Nachteile für die Beteiligten zu 2) und 3) durch die Erbeinsetzung des Beteiligten zu 1)
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waren deshalb nicht zu erwarten. Sie sind auch, soweit ersichtlich ist, nicht eingetreten,
da die Beteiligten zu 2) und 3) auch heute versorgt sind. Schließlich liegen auch keine
Anhaltspunkte dafür vor, daß das väterliche Vermögen etwa unter maßgeblicher
Beteiligung der Beteiligten zu 2) und 3) erwirtschaftet worden sei.
Die Erbeinsetzung des Beteiligten zu 1) verstößt mithin nicht gegen die guten Sitten.
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b) Der angefochtene Beschluß ist aus Rechtsgründen ferner nicht zu beanstanden,
soweit es darum geht, ob das Testament wirksam nach § 2079 BGB angefochten
worden ist.
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Nach dieser Vorschrift kann eine letztwillige Verfügung u.a. angefochten werden, wenn
der Erblasser einen zur Zeit des Erbfalls vorhandenen Pflichtteilsberechtigten
übergangen hat, dessen Vorhandensein ihm bei der Errichtung der Verfügung nicht
bekannt war. Als Pflichtteilsberechtigte kamen zur Zeit der Testamentserrichtung am 8.
Juli 1946 die Beteiligten zu 2) und 3) und die Ehefrau des Erblassers in Betracht (§ 2303
Abs. 1 und 2 BGB). Da der Erblasser vom Vorhandensein seiner ehelichen Kinder
wußte - sie wurden ausdrücklich in dem Testament erwähnt -, könnte ihm allenfalls das
Vorhandensein seiner Ehefrau als Pflichtteilsberechtigter unbekannt gewesen sein. Er
müßte danach irrig geglaubt haben, von seiner Frau geschieden zu sein; denn das an
sich bestehende Pflichtteilsrecht des Ehegatten konnte nur durch Scheidung
weggefallen sein.
29
Einen derartigen Irrtum hat das Landgericht ohne Rechtsfehler verneint. Es konnte dabei
dahingestellt lassen, ob die Ehe des Erblassers tatsächlich geschieden war oder nicht.
War sie geschieden - wofür es nachprüfbare Anhaltspunkte nicht gibt -, so war damit
auch das Pflichtteilsrecht der Ehefrau ausgeschlossen, und ein Irrtum nach § 2079 BGB
schied schon begrifflich aus. Bestand die Ehe hingegen noch, so ist nach den
Feststellungen des Beschwerdegerichts nicht auszuschließen, daß der Erblasser dies
wußte und sich somit nicht über das Vorhandensein seiner Frau als
Pflichtteilsberechtigter geirrt hat. Die diesbezüglichen Ausführungen des Landgerichts
bewegen sich auf dem Gebiet tatrichterlicher Würdigung. Sie ist im
Rechtsbeschwerdeverfahren nur dahin nachprüfbar, ob der Tatrichter den
maßgeblichen Sachverhalt ausreichend erforscht (§ 12 FGG), bei der Erörterung des
Beweisstoffes alle wesentlichen Umstände berücksichtigt (§ 25 FGG) und hierbei nicht
gegen gesetzliche Beweisregeln und Verfahrensvorschriften sowie gegen die
Denkgesetze und feststehende Erfahrungssätze verstoßen hat (Keidel/Kuntze/Winkler,
Rdn. 42 zu § 27 FGG). Der angefochtene Beschluß läßt in keiner Richtung einen
derartigen Rechtsfehler erkennen. Das Landgericht hat den Sachverhalt in diesem
Zusammenhang erschöpfend gewürdigt und seiner Aufklärungspflicht Genüge getan.
Ein Ansatzpunkt für weitere erfolgversprechende Ermittlungen ist insoweit nicht
ersichtlich.
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c) Dagegen unterliegt der angefochtene Beschluß rechtlichen Bedenken, soweit das
Landgericht auch die Anfechtbarkeit des Testaments nach § 2078 BGB verneint hat. Es
hat hierbei nicht alle für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt
und infolgedessen den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt.
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Nach § 2078 Abs. 2 BGB, der hier allein als Grundlage für ein Anfechtungsrecht in
Betracht kommt, kann eine letztwillige Verfügung angefochten werden, soweit der
Erblasser durch die irrige Annahme oder Erwartung des Eintritts oder Nichteintritts eines
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Umstandes zu ihr bestimmt worden ist. Dabei ist es gleichgültig, ob sich der Irrtum auf
Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft bezieht (BayObLGZ 1962, 299, 308). Die
Anfechtung kann allerdings nur auf solche Vorstellungen und Erwartungen gestützt
werden, die der Erblasser bei der Testamentserrichtung wirklich gehabt hat, nicht auch
auf solche, die er bei Kenntnis von ihm damals unbekannten Umständen gehabt haben
würde. Indes gehören zu den wirklichen Vorstellungen und Erwartungen auch solche,
die der Erblasser zwar nicht in sein Bewußtsein aufgenommen, aber als
selbstverständlich seiner Verfügung zugrunde gelegt hat (sog. unbewußte
Vorstellungen; BGH NJW 1963, 246; Betr 1971, 1859; BayObLGZ 1971, 147;
Senatsbeschluß vom 24.10.1967 - 15 W 255/67 - = OLGZ 1968, 86 = MDR 1968, 499;
BGB-RGRK/Johannsen, 12. Aufl., Rdn. 46 zu § 2078).
Die Ausführungen des Landgerichts werden diesen Rechtsgrundsätzen nicht voll
gerecht. Wie bereits dargelegt, ist es zwar nicht zu beanstanden, daß das
Beschwerdegericht geglaubt hat, einen Irrtum des Erblassers über vergangene und
gegenwärtige Umstände - nämlich die Scheidung seiner Ehe und die Abfindung der
Beteiligten zu 2) und 3) - nicht feststellen zu können. Es hat aber versäumt zu prüfen, ob
der Erblasser nicht über die künftige Entwicklung geirrt hat und bei Kenntnis dieser
Entwicklung jedenfalls von der alleinigen Erbeinsetzung des Beteiligten zu 1)
abgesehen hätte. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, daß der Erblasser nach
Angaben des Beteiligten zu 2) etwa 1958/59 zu seiner Familie zurückgekehrt sein soll.
Trifft diese - von dem Beteiligten zu 1) nicht bestrittene - Darstellung zu, so spricht viel
dafür, daß das Testament nach § 2078 Abs. 2 BGB angefochten werden kann.
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Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der Erblasser sich 1946 "endgültig"
von seiner Ehefrau abgewandt und eine "neue Familie" gegründet. Dies legt nahe, daß
er - sei es bewußt oder unbewußt - auch bestimmte Erwartungen für die Zukunft gehegt
hat: Daß nämlich seine Bindung zu Frau xxx und dem nichtehelichen Kind von Dauer
sein und er auch künftig nicht zu seiner Ehefrau und seinen ehelichen Kindern
zurückkehren werde. Beide Vorstellungen haben sich, soweit bisher festzustellen ist,
zumindest teilweise nicht bewahrheitet: Zum einen hat Frau xxx noch zu Lebzeiten des
Erblassers einen anderen Mann geheiratet, und zum anderen ist der Erblasser zu seiner
Ehefrau und seinen Kindern zurückgekehrt. Bei dieser Sachlage drängt sich die
Überlegung auf, ob der Erblasser nicht bei Vorausschau der künftigen Entwicklung
anders testiert, insbesondere davon abgesehen hätte, die Beteiligten zu 2) und 3) auf
den Pflichtteil zu setzen. Hierfür spricht insbesondere, daß er offenbar keinen sachlich
begründeten Anlaß hatte, seine ehelichen Kinder von der Erbfolge auszuschließen;
denn sonst hätte er es nicht für nötig gehalten, dafür einen vorgeschobenen Grund in
seinem Testament anzugeben (Abfindung der ehelichen Kinder).
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Ob und inwieweit sich der Erblasser über die künftige Entwicklung geirrt hat, und wie er
ohne diesen Irrtum letztwillig verfügt hätte läßt sich auf Grund der bisherigen
Feststellungen nicht abschließend beantworten. Es bedarf hierzu weiterer Ermittlungen,
die sich insbesondere darauf zu erstrecken haben werden, woran die Beziehung zu
Frau xxx gescheitert ist, ob, wann und weshalb der Erblasser zu seiner Familie
zurückgekehrt ist, und wie sich sein Verhältnis einerseits zu dem Beteiligten zu 1) und
andererseits zu den Beteiligten zu 2) und 3) nach 1946 gestaltet hat. Da es dem Senat
als Rechtsbeschwerdegericht verwehrt ist, eigene Ermittlungen anzustellen, muß der
angefochtene Beschluß aufgehoben und die Sache an das Landgericht
zurückverwiesen werden.
35
d) Hinsichtlich der weiteren Sachbehandlung darf folgendes bemerkt werden:
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da) Die materielle Beweislast (Feststellungslast) für die Voraussetzungen des § 2078
Abs. 2 BGB trifft den Anfechtenden, wobei ein Beweis des ersten Anscheins
ausscheidet (BGH NJW 1963, 247, 248; st.Rspr. des Senats). Wegen der weiten
Fassung des § 2078 Abs. 2 BGB sind an den Nachweis, insbesondere der Kausalität
zwischen der unbewußten Vorstellung und der letztwilligen Verfügung "keine zu
geringen Anforderungen" zu stellen (Mattern in BWNotZ 1961, 277, 284). Läßt sich nach
Abschluß aller zweckdienlichen Ermittlungen nicht mit der erforderlichen Sicherheit
feststellen, daß der Erblasser bei Kenntnis der künftigen Entwicklung anders testiert
hätte, so geht die verbleibende Unklarheit zu Lasten des Anfechtenden.
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db) Ferner wird zu beachten sein, daß § 2078 Abs. 2 BGB eine Anfechtung nur
ermöglicht, "soweit" der Erblasser durch seinen Irrtum zu der Verfügung veranlaßt
worden ist. Die Anfechtung führt deshalb nicht notwendigerweise zur Nichtigkeit der
gesamten letztwilligen Verfügung; vielmehr kann diese je nach den Umständen
teilweise Bestand haben (Palandt/Keidel, Anm. 6 zu § 2078 BGB; vgl. ferner zur
Teilnichtigkeit von Testamenten: BGHZ 53, 369, 383). In diesem Zusammenhang wird
zu erwägen sein, daß der Erblasser möglicherweise auch bei Vorausschau der
künftigen Geschehnisse Wert darauf gelegt hätte, neben seiner Ehefrau und/oder den
ehelichen Kindern auch den Beteiligten zu 1) als Erben einzusetzen. Hierfür könnte
insbesondere sprechen, daß der Erblasser - wie bereits im einzelnen erörtert - zu dem
Beteiligten zu 1) ein besonders enges Verhältnis hatte, so daß er ihn noch bei der
Einschulung als sein eheliches Kind ausgegeben hat, daß der Beteiligte zu 1)
wirtschaftlich offenbar unversorgt war, daß andererseits die ehelichen Kinder und
möglicherweise auch die Ehefrau nicht mehr von Zuwendungen des Erblassers
abhängig waren.
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Sollte sich danach ergeben, daß der Beteiligte zu 1) Miterbe geworden ist, wird der
erteilte Erbschein einzuziehen und der Erbscheinsantrag vom 21. Dezember 1976
zurückzuweisen sein, wie das Landgericht dies bereits in dem angefochtenen Beschluß
- wenn auch aus anderen Gründen - angeordnet hat. Der Erbschein wird nur Bestand
haben können, wenn das Testament infolge der erklärten Anfechtung insgesamt nichtig
ist.
39
dc) Bei seiner erneuten Entscheidung wird das Landgericht auch darüber zu befinden
haben, ob ein Beteiligter einem anderen Beteiligten außergerichtliche Kosten der
weiteren Beschwerde zu erstatten hat (§ 13 a Abs. 1 Satz 1 FGG).
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