Urteil des OLG Hamm vom 02.09.1999

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Oberlandesgericht Hamm, 6 U 55/99
Datum:
02.09.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 U 55/99
Vorinstanz:
Landgericht Paderborn, 3 O 418/97
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das am 08. Januar 1999 verkündete
Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Pa-derborn wird mit der
Maßgabe zurückgewiesen, daß auch der künftige immaterielle Schaden
nur unter Berücksichti-gung eines Eigenverantwortungsanteils von 25 %
zu ersetzen ist.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschwer des Beklagten: unter 25.000,00 DM.
Entscheidungsgründe:
1
I.
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Mit seiner Klage hat der Kläger 75 % Ersatz seiner materiellen und immateriellen
Schäden nach einem Verkehrsunfall vom 04.04.1997, 17.55 Uhr auf der A 33 in
Richtung ... begehrt.
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Der Kläger war im Begriff, mit seinem Pkw auf der linken Fahrspur der Autobahn bei
einer Geschwindigkeit von 150 bis 170 km/h einen auf der rechten Spur mit ca. 80 km/h
fahrenden Pkw mit Pferdeanhänger der Zeugen G. und C. zu überholen. Als dieses
Gespann vor dem Kläger auf die linke Fahrspur wechselte, zog der Kläger, um eine
Auffahrkollision zu verhindern, sein Fahrzeug auf die rechte Spur hinüber, wo es mit
einem dort befindlichen polnischen Fahrzeug der Eheleute J. kollidierte. Die Eheleute
J., deren Fahrzeug bei dem Beklagten versichert ist, verstarben infolge des Unfalls.
Auch der Kläger wurde erheblich verletzt.
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Das Landgericht hat der Klage nach Vernehmung von Zeugen und Einholung eines
Sachverständigengutachtens - mit geringfügiger Kürzung zur Höhe der materiellen
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Schäden - auf der Grundlage einer Haftung der Beklagten von 75 % stattgegeben. Es
hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, den Fahrzeugführer J. treffe ein grobes
Verschulden an dem Unfall, weil dieser erwiesenermaßen auf der rechten
Autobahnspur rückwärts gefahren sei. Ein Mitverschulden des Klägers an dem Unfall
sei dagegen nicht nachgewiesen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, der mit näheren
Ausführungen geltend macht, für die materiellen Schäden des Unfalls nach einer
Haftungsquote von nicht mehr als 25 % und für die immateriellen Schäden überhaupt
nicht verantwortlich zu sein, weil dem Fahrzeugführer J. ein Verschulden nicht
nachzuweisen sei. Vielmehr sei davon auszugehen, daß dessen Fahrzeug
unverschuldet auf der rechten Spur zum Stehen gekommen sei, vermutlich deshalb, weil
dieses Fahrzeug nicht mehr fahrbereit gewesen sei. Den Kläger dagegen - so macht der
Beklagte geltend - treffe ein Unfallverschulden, weil er den Pkw J. schon aus 580 m
Entfernung hätte sehen und seine Geschwindigkeit darauf einstellen können.
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II.
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Die zulässige Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg. Seine Berufung war deshalb
zurückzuweisen, allerdings mit der (klarstellenden) Maßgabe, daß auch der künftige
immaterielle Schaden nur unter Berücksichtigung eines Eigenverantwortungsanteils des
Klägers von 25 % zu ersetzen ist. Der Kläger hat insoweit auf Rückfrage des Senats
ausdrücklich klargestellt, daß seine erstinstanzliche Antragsbeschränkung auf eine
Quote von 75 % selbstverständlich auch den Feststellungsantrag hinsichtlich der
immateriellen Schäden betreffen sollte.
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Mit dem Landgericht hat auch der Senat keinen Zweifel daran, daß der Fahrzeugführer
J. versucht hat, mit seinem Pkw auf der rechten Spur der Autobahn rückwärts zu fahren.
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Schon im Rahmen des Ermittlungsverfahrens hat das Sachverständigenbüro S. (der
Sachverständige S.) die Rückleuchten des Pkw J. untersucht und festgestellt, daß die
Rückfahrscheinwerfer zur Unfallzeit eingeschaltet waren. Dies ist zwischen den
Parteien auch außer Streit.
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Schon dies ist zwar noch kein Beweis für eine Rückwärtsfahrt, aber doch ein sehr
gewichtiges Indiz dafür. Denn aus welchem Grunde hätte J. den Rückwärtsgang
einlegen sollen, wenn er nur gestanden hätte und nicht auch rückwärts fahren wollte.
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Der Örtlichkeit nach wäre ein Anlaß für eine derart verbotene und leichtsinnige
Rückwärtsfahrt möglicherweise darin zu sehen, daß der Unfall sich im Bereich einer
Autobahnzufahrt, kurz hinter einer Abfahrt, ereignet hat. Es erscheint naheliegend, daß
der Unfallbeteiligte J. die Abfahrt verpaßt hat und möglicherweise deshalb ein kurzes
Stück zurücksetzen wollte.
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Schließlich aber hat auch der Zeuge G. von Anfang an ausgesagt, daß ihm der Pkw J.
plötzlich rückwärts fahrend entgegengekommen sei und daß er noch im Vorbeifahren
gehupt habe, um ihm zu sagen, "was er für einen Unsinn mache".
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Für die Vermutung des Beklagten, J. Pkw sei nicht mehr fahrbereit gewesen und
deshalb auf der rechten Fahrspur zum Stehen gekommen, gibt es keinerlei konkreten
Anhaltspunkt. Selbst wenn J. ein Warnblinklicht eingeschaltet hatte (was nach wie vor
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ungeklärt erscheint), so ließe sich auch dies zwanglos damit erklären, daß er
verbotswidrig rückwärts fahren wollte. Gegen einen technischen Defekt spricht aber vor
allem, daß ein Fahrzeugführer in einer solchen Situation sein Fahrzeug sofort auf den
Seitenstreifen bzw. auf den rechts verlaufenden Beschleunigungsstreifen der
Autobahnzufahrt gelenkt hätte, nicht aber im Bereich der rechten Fahrspur angehalten
hätte.
Ein Verschulden des Klägers an dem Unfall ist nicht feststellbar.
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Der Sachverständige B. hat in seinem im jetzigen Verfahren eingeholten Gutachten eine
Unfallvariante aufgezeigt, die nicht nur für den Kläger aus rechtlichen Gründen günstig,
sondern darüber hinaus auch realistisch, jedenfalls aber nicht auszuräumen ist. Danach
hat das Gespann des Zeugen G. möglicherweise erst 100 m vor Erreichen des
rückwärtsfahrenden J. einen Spurwechsel eingeleitet, wie auch der Zeuge G. selbst
ausgesagt hat. G. selbst hat offenbar das Fahrzeug des Klägers übersehen. Für den
Kläger wäre in dieser Situation nicht erkennbar gewesen, ob er durch heftiges Bremsen
die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs noch hinter dem spurwechselnden Gespann G.
ausreichend herabsetzen konnte, ohne aufzufahren, oder ob ein eigener Spurwechsel
nach rechts herüber erfolgversprechender war. Davon gehen beide Sachverständige
übereinstimmend aus.
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Auch läßt sich zum Nachteil des Klägers nichts daraus herleiten, daß nach den
Sichtüberprüfungen des Gutachters B. für den Kläger "grundsätzlich" eine
Sichtmöglichkeit von ca. 580 m auf den polnischen Pkw J. bestand. Denn zunächst
bestand für ihn kein Anlaß, dieses Fahrzeug besonders zu beachten. Im übrigen gelten
diese gutachterlich mit 580 m ermittelten Sichtverhältnisse ohnehin dann nicht mehr,
wenn der Kläger schneller als 150 km/h gefahren sein sollte. Der Pkw J. war dann
wegen des sichtbehindernden Gespanns G. für den Kläger entweder gar nicht oder nur
teilweise zu sehen, wie der Sachverständige ausgeführt hat.
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Allein die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h begründet noch kein
Verschulden des Klägers, sondern nimmt ihm allein die Möglichkeit, sich auf die
Unabwendbarkeit des Unfalls im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG zu berufen (BGH VersR 92,
714 ff. m.w.N.).
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Ein Verschulden des Klägers läßt sich auch nicht damit begründen, daß er sich - etwa
nach den Grundsätzen der sog. Haftungseinheit - die verkehrswidrige Fahrweise des
Zeugen G. zurechnen lassen muß. Nach der Rechtsprechung des BGH bilden unter
mehreren Unfallbeteiligten diejenigen eine Einheit, deren Verhalten sich im
wesentlichen in ein und demselben zum Unfall führenden Ursachenbeitrag ausgewirkt
hat, bevor ein weiterer Kausalverlauf hinzugetreten ist (BGH r+s 96, 261 f.; ferner BGH
r+s 95, 135 f.). Die Grenze der Zulässigkeit für die Bildung einer Zurechnungseinheit ist
jedoch dort erreicht, wo die Tatbeiträge nicht miteinander verschmelzen, sondern sich
lediglich zu einer höheren Gefährlichkeit addieren (vgl. Steffen in DAR 90, 40 ff.). Diese
besonderen Voraussetzungen des Verschmelzens der Tatbeiträge zu einer
Haftungseinheit liegen hier nicht vor. Vielmehr hat erst der plötzliche Fahrspurwechsel
des Zeugen G. eine Reaktion des Klägers ausgelöst, die ihrerseits unfall(mit)ursächlich
geworden ist, ohne daß sich das beiderseitige Verkehrsverhalten in ein und demselben
zum Unfall führenden Beitrag ausgewirkt hätte. Ob sich umgekehrt im Verhältnis zum
Kläger die Verhaltensweisen des Spurwechslers G. und des rückwärts fahrenden J. als
eine gefahrenträchtige Verschmelzung von Beiträgen darstellt, mag hier dahinstehen,
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da es im Ergebnis nicht darauf ankommt. Jedenfalls gilt dies nicht für die Beiträge des
Klägers und des Zeugen G. im Verhältnis zu dem polnischen Pkw J. (vgl. auch Senat in
r+s 94, 11 ff.: Auffahrunfall auf der Autobahn mit mehreren Beteiligten).
Die Berufung des Beklagten konnte nach alldem keinen Erfolg haben.
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Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 97, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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