Urteil des OLG Hamm vom 13.05.2008

OLG Hamm: bedingte entlassung, öffentliches recht, gewalt, strafvollzug, resozialisierung, sicherungsverwahrung, behandlung, psychotherapie, gesellschaft, zukunft

Oberlandesgericht Hamm, 1 Vollz (Ws) 257/08
Datum:
13.05.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 Vollz (Ws) 257/08
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, Vollz G 1971/07
Tenor:
1.)
Die Rechtsbeschwerde wird zur Fortbildung des Rechts und zur
Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.
2.)
Der angefochtene Beschluß wird mit Ausnahme der Festsetzung des
Geschäftswertes aufgehoben.
3.)
Der Bescheid des Leiters der Justizvollzugsanstalt Bochum vom
10.11.2007 bzw. 15.11.2007 wird aufgehoben. Die Vollzugsbehörde
wird angewiesen, den Betroffenen unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.
4.)
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen
des Betroffenen trägt die Landeskasse.
Gründe:
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I.
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Der vielfach vorbestrafte Betroffene, der bereits mehr als 20 Jahre in Strafhaft verbracht
hat, ist durch Urteil des Landgerichts Koblenz vom 27.06.2000 wegen räuberischer
Erpressung u.a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren
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mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Das Strafende ist
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– vorbehaltlich der Sicherungsverwahrung – auf den 08.07.2009 notiert.
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Seit März 2006 nahm der Betroffene an einer externen Einzeltherapie mit dem
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Dipl.-Psychologen P teil, in der die strafrechtliche Vorgeschichte des Betroffenen sowie
die tatbegleitenden Umstände und Risikofaktoren aufgearbeitet wurden. Nach
Einschätzung des Therapeuten verlief die Therapie erfolgversprechend; es sei aber
aufgrund der stereotypen situationsinadäquaten Reaktionsmuster des Betroffenen sowie
der bei ihm bestehenden Verhaltens-
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stereotypen eine Langzeittherapie indiziert.
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Mit mündlicher Entscheidung vom 10.11.2007 – schriftlich dem Verteidiger des
Betroffenen unter dem 15.11.2007 bestätigt – lehnte die Justizvollzugsanstalt die
Fortführung der externen Therapie, in deren Rahmen bereits 40 Therapiestunden
stattgefunden hatten, ab.
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Zur Begründung beruft sie sich auf folgende Feststellung des Leiters der
Haushaltsabteilung:
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"Im Bereich der nicht hauptamtlich in der Gesundheitsfürsorge für Gefangene Tätige ist
eine Kostenentwicklung im Laufe des Haushaltsjahres eingetreten, die dazu führte, dass
ab 07.11.2007 sämtliche durch externe Therapeuten begonnenen Therapien bei
Gewalt- und Sexualstraftätern eingestellt werden mussten. Die zur Verfügung stehenden
Haushaltsmittel mussten zunächst für die fachärztliche Grundversorgung der
Gefangenen verwendet werden. Eine Finanzierung weiterer dringlicher Vorhaben, wie
die Beauftragung externer Therapeuten, ist derzeit nicht möglich."
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Wann im Haushaltsjahr 2008 wieder entsprechende Mittel, kann die
Justizvollzugsanstalt derzeit nicht vorhersagen.
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Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 26.11.2007 erstrebt der Betroffene
die Fortführung der begonnen Therapie.
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Er ist der Ansicht, die Einstellung der Therapie aufgrund fiskalischer Zwänge sei
rechtswidrig. Es sei nicht mit §§ 7 und 74 StVollzG vereinbar, wenn eine Maßnahme, die
dem Ziel der Wiedereingliederung in die Gesellschaft diene und nach sorgsamer
Abwägung für erforderlich gehalten worden sei, unvermittelt abgebrochen werde.
Hinzukomme, dass die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum mit
Beschluß vom 20.09.2007 seine bedingte Entlassung mit der Begründung abgelehnt
habe, dass die angefangene Psychotherapie noch nicht beendet sei und seine weitere
Entwicklung – bei Fortführung der Therapie – abzuwarten sei. Die, wenn auch ggbfs.
nur vorübergehende, Einstellung der Therapie verstoße gegen die Grundsätze der
Kontinuität und Regelmäßigkeit, ohne deren Beachtung keine entsprechenden
Entwicklungsfortschritte zu erzielen seien.
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Mit dem angefochtenen Beschluß vom 28.02.2008 hat die Strafvollstreckungskammer
den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen; zur
Begründung hat sie ausgeführt, dass zwar die Beauftragung externer Therapeuten zur
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Behandlung von Gewalt- und Sexualstraftätern ein dringendes Vorhaben sei; vorliegend
seien dem Vollzug aufgrund fehlender finanzieller Mittel jedoch schlicht die Hände
gebunden.
Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner rechtzeitig eingelegten
Rechtsbeschwerde vom 18.04.2008, mit der er sein bisheriges Vorbringen im
Wesentlichen wiederholt und vertieft.
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Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat beantragt, die
Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen, da ein Zulassungsgrund im Sinne des
§ 116 StVollzG nicht vorliege.
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II.
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Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die der Senat zur Fortbildung des Rechts und
zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen hat, führt zur Aufhebung
der angefochtenen Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sowie des Bescheids
der Vollzugsbehörde und zu deren Verpflichtung zur Neubescheidung des Betroffenen
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats.
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1.)
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Rechtsgrundlage für die Hinzuziehung eines externen Therapeuten ist § 58 StVollzG.
Diese Vorschrift umfasst neben der eigentlichen Krankenbehandlung auch die
Durchführung einer Verhaltens- oder Psychotherapie (KG NStZ 2006, 699; AK-StVollzG,
5. Aufl., § 58 Rdz.).
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Danach steht dem Gefangenen ein subjektiv-öffentliches Recht auf gesundheitliche
Betreuung im Rahmen sachgerechter Erwägungen zu. Dementsprechend ist die
Entscheidung darüber, ob ein Facharzt oder Fachtherapeut einzuschalten ist, von den
Anstaltsärzten nach ärztlichem Ermessen bzw. von sachkundigen Therapeuten im
Rahmen eigenverantwortlicher Tätigkeit zu treffen.
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Vorliegend haben die entsprechenden Fachmitarbeiter der Justizvollzugsanstalt die
Voraussetzungen des § 58 StVollzG bejaht und bei dem Betroffenen die Notwendigkeit
einer durch einen externen Therapeuten durchzuführenden Therapie für indiziert
erachtet. Die Richtigkeit dieser Beurteilung hat der Senat nicht zu überprüfen; sie steht
unter den Verfahrensbeteiligten nicht im Streit.
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Werden die Voraussetzungen für die Hinzuziehung eines externen Facharztes oder
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- wie hier - Fachtherapeuten bejaht, hat der Gefangene grundsätzlich einen Anspruch
auf Übernahme der Kosten durch den Staat, soweit er diese nicht selbst übernehmen
kann und auch kein sonstiger freier Kostenträger hierfür einsteht.
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Eine Aussetzung der Therapie kann dabei nicht allein allgemein auf fehlende finanzielle
Haushaltsmittel gestützt werden und weil eine Therapie – was der Entscheidung der
Justizvollzugsanstalt implizit zugrunde liegt – anders als etwa eine Behandlung im Fall
einer lebensbedrohlichen Erkrankung "gefahrlos" zurückgestellt werden kann.
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Nach § 2 StVollzG ist das vorrangige Ziel des Strafvollzugs die Resozialisierung des
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Gefangenen. Das BVerfG (E 98, 169, 200) hat dieses Ziel ausdrücklich anerkannt und
bestätigt: Für die Freiheitsstrafe, bei der die staatliche Gewalt die Bedingungen der
individuellen Lebensführung weitgehend bestimmt, erlangt das Gebot der
Resozialisierung besonderes Gewicht. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gebot
aus dem Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft entwickelt, die die
Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip
verpflichtet ist. Dem Gefangenen sollen die Fähigkeit und der Wille zu verantwortlicher
Lebensführung vermittelt werden. Er soll sich in Zukunft unter den Bedingungen einer
freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch behaupten, ihre Chancen wahrnehmen und ihre
Risiken bestehen können. Die Resozialisierung dient auch dem Schutz der
Gemeinschaft selbst: Diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, dass der
Täter nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger und die Gemeinschaft
schädigt (vgl. BVerfGE 35, 202, 235 f). Dieses verfassungsrechtliche
Resozialisierungsgebot bestimmt den gesamten Strafvollzug; es gilt auch bei der
Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Auch diesen Gefangenen sind
Bedingungen zu bieten, unter denen sie ihre Lebenstüchtigkeit entfalten und
festigen können. Persönlichkeitsschädigenden Auswirkungen des Freiheitsentzugs, vor
allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen, ist entgegenzuwirken (vgl.
BVerfGE 45, 187, 238). Entsprechendes muß für die Sicherungsverwahrung gelten.
Auch der dort Untergebrachte kann der Freiheit wieder teilhaftig werden, wenn er nicht
mehr gefährlich ist (§ 67d Abs. 2 und Abs. 3 StGB). Das verfassungsrechtliche
Resozialisierungsgebot ist für alle staatliche Gewalt verbindlich. Es richtet sich zunächst
an die Gesetzgebung, der es aufgegeben ist, den Strafvollzug normativ zu gestalten
(vgl. BVerfGE 33, 1, 10). Es verpflichtet den Gesetzgeber, ein wirksames
Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Das
verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot entfaltet seine Bedeutung freilich auch für
Verwaltung und Rechtsprechung, wenn es gilt, unbestimmte Rechtsbegriffe oder
Generalklauseln auszulegen, oder wenn der Gesetzgeber den Vollzugsbehörden ein
Rechtsfolgeermessen eingeräumt hat.
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Bei dieser überragenden Bedeutung des Resozialisierungsgebots dürfen jedenfalls bei
Gewaltdelikten Kostenfragen für die (weitere) Durchführung einer bewilligten externen
Therapie keine Rolle spielen (vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 61 und NStZ-
RR 2004, 287). Insoweit ist die Justizvollzugsanstalt grundsätzlich nicht berechtigt, die
weitere Durchführung der Therapie des Betroffenen allein aus allgemeinen fiskalischen
Erwägungen abzulehnen. Die Justizvollzugsanstalt hat dabei entweder durch
Umschichtungen in ihrem Haushalt oder durch die Beantragung weiterer Mittel bei der
Landeskasse für die Finanzierung bewilligter externer Maßnahmen einzustehen. Ob
eine Berufung auf mangelnde finanzielle Leistungsmöglichkeit im Einzelfall zulässig ist,
wenn konkret eine Abwägung zwischen gleich bedeutenden Rechtsgütern erfolgt, hatte
der Senat im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, da die Vollzugsbehörde lediglich
eine allgemeine, nicht näher spezifizierte Güterabwägung vorgenommen hatte.
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Die Entscheidung der Vollzugsbehörde ist daher insoweit ermessensfehlerhaft. Deshalb
waren sowohl die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer als auch die Bescheide
der Vollzugsbehörden aufzuheben. Auf eine Zurückverweisung an die
Strafvollstreckungskammer war nicht zu erkennen, da die Sache in Ansehung der von
ihr zu treffenden Entscheidung gemäß § 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG spruchreif ist.
Insoweit kommt nämlich wegen der Fehlerhaftigkeit des Bescheids der Vollzugsbehörde
allein deren Aufhebung in Betracht.
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Spruchreife bezüglich der Entscheidung der Vollzugsbehörde liegt allerdings nicht vor.
Denn der Senat kann nicht beurteilen, ob aufgrund des inzwischen vergangenen
Zeitraums und der weiteren Entwicklung in der Person des Betroffenen weiterhin die
Voraussetzungen für die Bewilligung einer externen Therapie im Sinne des § 58
StVollzG vorliegen. Gleiches gilt für die Frage, ob aufgrund zwischenzeitlicher
Veränderungen der anstaltsinternen Gegebenheiten die Möglichkeit eingetreten ist, eine
Weiterführung der Therapie durch interne Kräfte zu gewährleisten. Die
Justizvollzugsanstalt war daher anzuweisen, den Betroffenen unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden, § 115 Abs. 4 Satz 2 StVollzG.
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III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. §§ 467, 473 StPO.
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