Urteil des OLG Hamm vom 05.11.2007

OLG Hamm: actio libera in causa, adhs, schuldfähigkeit, körperverletzung, strafzumessung, diagnose, sonderschule, therapie, strafmilderung, gaststätte

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss 461/07
Datum:
05.11.2007
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss 461/07
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 14 Ns 53 Js 2727/05 – 2/07
Schlagworte:
ADHS, Schuldfähigkeit, Erörterungsmangel
Normen:
StGB §§ 20, 21; StPO § 261
Leitsätze:
Liegt bei einem Angeklagten ein (unbehandeltes) ADHS vor, so ist das
Tatgericht jedenfalls bei Vorliegen weiterer Umstände, wie einem
festgestellten "aufbrausendem Wesen" oder "leichtem Kontrollverlust"
etc. dazu gedrängt, im Urteil die Schuldfähigkeit des Verurteilten zu
erörtern.
Tenor:
1. Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden
Feststellungen aufgehoben
a) im Schuld- und Einzelstrafenausspruch soweit der Angeklagte wegen
gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist,
b) im Gesamtstrafenausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere
kleine Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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I.
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1. Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 23.10.2006 wegen
gefährlicher Körperverletzung sowie wegen Betruges in vier Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt worden. Die
hiergegen gerichtete Berufung hat der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung
mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf das Strafmaß beschränkt. Mit dem
angefochtenen Urteil hat das Landgericht Bielefeld die so beschränkte Berufung
verworfen.
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Gegen das Urteil des Landgerichts hat der Angeklagte form- und fristgerecht Berufung
eingelegt und begründet. Er hat beantragt, "das angefochtene Urteil im Strafausspruch –
soweit es die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und den
Gesamtstrafenausspruch betrifft – aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Bielefeld
zurückzuverweisen". Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, die Revision
gem. § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.
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2. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts zur allein hier relevanten Verurteilung
wegen gefährlicher Körperverletzung war der Angeklagte im Oktober 2005 als Türsteher
tätig. Der Geschädigte ist Vater der Tochter der seinerzeitigen Lebensgefährtin des
Angeklagten. Am 08.10.2005 wurde er durch den Geschädigten telefonisch massiv
bedroht, weil es zwischen ihm und dem Angeklagten zu Auseinandersetzungen im
Hinblick auf den Umgang des Angeklagten mit seiner Tochter gekommen war. Der
Angeklagte forderte den Geschädigten daraufhin auf, zu der Gaststätte zu kommen, bei
der er als Türsteher tätig war. Gegen 0.30 Uhr am 09.10.2005 traf er dort ein und ging
auf den Angeklagten, der gerade seine Türstehertätigkeit ausübte, zu, ohne ihn
anzugreifen. Der Angeklagte schubste ihn sofort weg und schlug und trat ihn mit dem
beschuhten Fuß. Der Geschädigte hatte Schmerzen und erlitt Prellungen und
Blutergüsse.
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II.
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Die Revision hat auf die (allein erhobene) Sachrüge hin Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
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Das Urteil des Landgerichts hält rechtlicher Überprüfung nicht Stand, weil die
Versagung einer Strafmilderung gem. §§ 21, 49 StGB bzw. die Verneinung eines
Schuldausschlusses nach § 20 StGB Rechtsfehler aufweist und das Landgericht bei der
abgeurteilten Körperverletzungstat zu Unrecht von einer wirksamen
Berufungsbeschränkung auf den Strafausspruch ausgeht.
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1.
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Der Senat kann das angefochtene landgerichtliche Urteil und das erstinstanzliche Urteil
des Amtsgerichts Bielefeld auch bezüglich des Schuldspruches der gefährlichen
Körperverletzung überprüfen. Er ist durch die dargestellte Beschränkung von Berufung
und Revision nicht daran gehindert. Die Bindung des Revisionsgerichts an eine
Revisionsbeschränkung entfällt, wenn Schuldspruch und Strafzumessung so
miteinander verknüpft sind, dass eine getrennte Überprüfung des angefochtenen Urteils
nicht möglich wäre, ohne den nicht angefochtenen Teil mit zu berühren (BGH NJW
1996, 2663, 2664 m.w.N.). Auf eine zulässige Revision prüft das Revisionsgericht
darüberhinaus von Amts wegen, ob das Berufungsgericht zu Recht von einer wirksamen
Berufungsbeschränkung ausgegangen ist (BayObLG NZV 2001, 353; OLG Köln NStZ
1984, 379, 380). Grundsätzlich ist die Entscheidung, ob der der Täter erheblich
vermindert schuldfähig war von der Entscheidung über seine Schuldunfähigkeit
trennbar. Andreres gilt aber, wenn eine neue Entscheidung über die Schuldfrage
aufgrund der für die Strafzumessung festgestellten Tatsachen zu einer Verneinung der
Schuld führen kann (OLG Köln NStZ 1984, 379, 380).
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Die Rechtsmittelbeschränkungen sind hier bezüglich der abgeurteilten gefährlichen
Körperverletzung unwirksam, da die Fragen einer möglichen Strafmilderung wegen
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erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) oder gar Schuldunfähigkeit (§ 20
StGB) aufgrund des bei dem Angeklagten bestehenden ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-
und Hyperaktivitätssyndrom) nicht getrennt voneinander geprüft werden können.
Hinsichtlich des Schuld- und Einzelstrafausspruchs für die Betrugstaten ist die
Rechtsmittelbeschränkung hingegen nach den dargelegten Grundsätzen wirksam. Der
Senat kann bezüglich der Betrugstaten ausschließen, dass das ADHS Auswirkungen
auf die Schuldfähigkeit gehabt hat.
2.
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Das Landgericht geht damit hinsichtlich des Körperverletzungsdelikts zu Unrecht von
einer wirksamen Berufungsbeschränkung auf den Strafausspruch aus. Die
Urteilsgründe weisen – auch in Zusammenschau mit den Feststellungen zur Tat im
erstinstanzlichen Urteil – im Hinblick auf die Frage einer erheblich verminderten
Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt einen
rechtlich erheblichen Erörterungsmangel auf. Ein solcher liegt vor, wenn der Tatrichter
die Frage der Schuldfähigkeit nicht geprüft hat, obwohl dazu Anlass bestand (BayObLG
NZV 2001, 353 f.; vgl. auch: BGH NStZ-RR 2007, 6 f.; BGH NStZ-RR 2006, 18; BGH
Beschl. v. 01.09.2004 – 2 StR 268/04). Zu einer solchen Prüfung und Erörterung
bestand hier aus mehreren Gründen Anlass.
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a) Bei dem Angeklagten wurde nach den Feststellungen des Landgerichts im Jahre
2001 ein ADHS diagnostiziert. Es heißt insoweit im Berufungsurteil: "Dieses äußert sich
in innerer Unruhe und eingeschränkter Konzentration; der Angeklagte brauste leicht auf
und handelt bevor er denkt. Psychologische Hilfe nahm der Angeklagte zunächst jedoch
nicht an. Im Jahre 2003 wurde ihm von seinem Hausarzt S verschieben. Zugleich wurde
ihm der ärztliche Rat erteilt, eine stationäre Therapie in der WKPPN H anzutreten, die 6
bis 8 Wochen dauern sollte". Das entsprechende Therapieangebot nahm der
Angeklagte allerdings im Jahre 2004 erst wahr, als ihm dies bei einer Verurteilung in
anderer Sache zur Weisung gemacht wurde und brach es dann nach 2 Tagen ab,
weswegen (u.a.) die Strafaussetzung in der anderen Sache widerrufen wurde. Anfang
August 2005 nahm er erneut Kontakt zu Ärzten auf und nahm auch "die ihm
verschriebenen Medikamente", wodurch er ruhiger, ausgeglichener und zuverlässiger
wurde (UA S. 5). Er setzte sie aber im Oktober 2005, einige Zeit vor der hier in Frage
stehenden Tat, eigenmächtig wieder ab.
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Im Rahmen der Strafzumessung hat das Landgericht weiter berücksichtigt, "dass der
Angeklagte auf Grund seiner ADHS-Erkrankung leicht aufbrausend ist". Das habe er
aber durch das eigenmächtige Absetzen der Medikamente selbst verschuldet. Ein
Kontrollverlust könne auch nicht sehr erheblich sein, weil er bisher noch nicht wegen
Gewaltdelikten in Erscheinung getreten sei (UA S. 10). An einigen Stellen wird das bei
dem Angeklagten vorliegende ADHS sogar als "Erkrankung" bezeichnet (UA S. 10, 12).
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Nach den Feststellungen des Amtsgerichts zur Tat, auf die das Landgericht verweist,
war es zudem Folge des eigenmächtigen Absetzens der Medikamente im Oktober 2005,
"dass der Angeklagte zunehmend unbeherrschter war und sein Verhalten nicht mehr
unter Kontrolle hatte".
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b) Allein die Diagnose eines ADHS mag für sich genommen noch keinen Anlass zu
einer näheren Erörterung der Schuldfähigkeit geben. Eine Gesamtschau von der
Diagnose des ADHS sowie den oben aufgezeigten Umstände in ihrer Gesamtschau
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hätten dem Landgericht aber Anlass gegeben, nicht von einer wirksamen
Berufungsbeschränkung hinsichtlich des Körperverletzungsdeliktes auszugehen und
die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt näher zu erörtern.
Ein Symptom von ADHS ist die Impulsivität des Betroffenen, die sich in mangelnder
Verhaltenskontrolle, Aggressivität, niedriger Frustrationstoleranz und Handeln ohne
Nachzudenken ausprägen kann (Ostermann-Myrau VersMed 2001, 170 ff.). Als weitere
Symptome werden Affektlabilität (spontane oder reaktive Affektschwankungen, die meist
Stunden dauern; Reizbarkeit; Erregungszustände, die schnell wieder abklingen) und
emotionale Übererregbarkeit (Unfähigkeit, Belastungen emotional ausgeglichen
hinzunehmen; übermäßige und unangemessene Reaktionen; emotionale Krisen bei
alltäglichen Belastungen) genannt (Nedopil, Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. S. 106).
ADHS kann eine schwere andere seelische Abartigkeit i.S.d. §§ 20, 21 StGB darstellen
und die Steuerungsfähigkeit bei Begehung einer Straftat in rechtserheblicher Weise
beeinträchtigen (vgl. Thüringer OLG, Beschl. v. 29.01.2007 – 1 Ws 16/07). Die Diagnose
von ADHS allein - insoweit gelten die gleichen Grundsätze wie bei
Persönlichkeitsstörungen (vgl. Nedopil a.a.O. S 107) - sagt allerdings noch nichts
darüber aus, ob eine schwere andere seelische Abartigkeit i.S.d. genannten
Vorschriften vorliegt oder ob gar die Schuldfähigkeit wegen einer solchen beeinträchtigt
ist. Es ist vielmehr in weiteren Schritten der Schweregrad der Störung zu überprüfen,
nämlich ob es auch im Alltag außerhalb der Straftaten zu Einschränkungen des
beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist und bei einer
Gesamtschau aller Umstände davon auszugehen ist, dass die Störung den Angeklagten
in seinem Leben vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen belastet oder einengt
wie eine krankhafte seelische Störung (BGH NJW-RR 2007, 6, 7 m.w.N.; BGH NStZ-RR
2004, 329 f.). Sodann ist zu überprüfen, wie sich eine vorliegende schwere andere
seelische Abartigkeit auf die Schuldfähigkeit bei Begehung der Tat ausgewirkt hat, ob
sie diese erheblich vermindert oder gar ausgeschlossen hat (vgl. BGH NStZ-RR 2004,
8; BGH NStZ 2005, 205, 206; vgl. zum Ganzen auch Boetticher/u.a. NStZ 2005, 57, 58
f.).
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Bei der gegebenen grundsätzlichen Möglichkeit der erheblichen Verminderung der
Schuldfähigkeit oder gar des Schuldausschlusses durch ADHS hätte es jedenfalls im
Hinblick auf die weiteren in den Feststellungen enthaltenen Umstände näherer
Erörterung zur Frage der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt bedurft. So ist das ganze
Leben des Angeklagten geprägt von schulischem und beruflichem Scheitern und
Versagen. So verließ er die Hauptschule wegen Verhaltensauffälligkeiten und ging auf
eine Sonderschule. Auch dort kam es zu solchen Problemen, dass der Angeklagte in
einer Außenwohngruppe einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht wurde und die
dortige Sonderschule besuchte. Abgesehen von kurzfristigen Aushilfstätigkeiten war der
Angeklagte zumeist arbeitslos. Die Therapie- bzw. Behandlungsnotwendigkeit wurde in
den vergangenen Jahren bei ihm mehrfach bejaht. Ohne Behandlung wird er als "leicht
aufbrausend" bis hin zum Kontrollverlust und als handelnd, ohne zu denken,
beschrieben. Der Angeklagte war – nach dem Absetzen der Medikamente – zum
Tatzeitpunkt unbehandelt. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Tat stattfand,
nachdem der Angeklagte am Tag zuvor, vom Geschädigten bedroht worden war. Der
Tatverlauf deutet auf das bereits erwähnte "Handeln ohne zu Denken" hin. Im
Berufungsurteil wird bzgl. des beim Angeklagten vorliegenden ADHS von "Erkrankung"
gesprochen, was schließlich ebenfalls auf eine Störung mit Krankheitswert hindeutet.
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Die einzige Erwägung, die die Strafkammer (wenn auch nicht ausdrücklich, so aber der
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Sache nach) im Hinblick auf die Schuldfähigkeit anstellt, dass nämlich der
Kontrollverlust nicht erheblich gewesen sein könne, da der Angeklagte bisher noch nicht
durch Gewaltdelikte aufgefallen sein, wird durch die Feststellung, dass gegen den
Angeklagten ein weiteres Strafverfahren wegen Körperverletzung im Zusammenhang
mit seiner Türstehertätigkeit nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wurde, relativiert.
c) Die Feststellungen des Tatgerichts reichen auch nicht, um ohne weiteres von einem
schuldhaften Handeln jedenfalls unter Anwendung der Grundsätze der actio libera in
causa auszugehen.
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