Urteil des OLG Hamm vom 17.03.2005
OLG Hamm: geschwindigkeitsüberschreitung, höchstgeschwindigkeit, beweiswürdigung, messgerät, messung, ordnungswidrigkeit, toleranz, betrug, fahrverbot, fahrzeugführer
Oberlandesgericht Hamm, 1 Ss OWi 164/05
Datum:
17.03.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
1. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 Ss OWi 164/05
Vorinstanz:
Amtsgericht Olpe, 52 OWi 281 Js 1316/04 - J 3/04
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden
Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Olpe
zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Mit dem angefochtenen Urteil hat das Amtsgericht den Betroffenen wegen einer
fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße
von 100,- € verurteilt und gegen ihn zugleich ein Fahrverbot von einem Monat unter
Einräumung der 4-Monats-Frist gemäß § 25 Abs. 2 a StVG verhängt.
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Das Amtsgericht hat zu der Geschwindigkeitsüberschreitung folgende Feststellungen
getroffen:
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"Der Betroffene befuhr am 27.06.2004 um 16.35 Uhr mit dem PKW Marke VW,
Kennzeichen ##-## #1, in der Gemeinde X die BAB #1 in Fahrtrichtung P mit einer
Geschwindigkeit von 103 km/h (abzgl. Toleranz). Die zulässige
Höchstgeschwindigkeit betrug 60 km/h.
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Diese Feststellungen beruhen auf dem Ergebnis der Beweisaufnahme, soweit der
Betroffene nicht geständig war auf den Aussagen der Zeugen C und I. Die Zeugen
haben als Polizeibeamte die Messung durchgeführt. Nach ihren Aussagen steht
fest, dass die Messung ordnungsgemäß durchgeführt wurde und an der
gemessenen Stelle zulässig war und dass der Betroffene
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43 km/h zu schnell fuhr.
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Der Betroffene hat sich einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit nach §§ 41
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Abs. 2, 49 StVO, 24, 25 StVG schuldig gemacht."
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Zur Begründung des Rechtsfolgenausspruches heißt es in dem angefochtenen Urteil:
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"Die Höhe des Bußgeldes und die Bestimmung des Fahrverbotes für einen Monat
entsprechen den Regelsätzen des Bußgeldkataloges. Gründe, die eine
Abweichung geboten erlassen oder rechtfertigen könnten, liegen nicht vor. Die
Voreintragung steht einem Wegfall des Fahrverbotes bei Erhöhung der Geldbuße
unter dem Gesichtspunkt, dass der Betroffene beruflich bedingt ein sog. "Vielfahrer"
ist, entgegen."
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Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die
Verletzung materiellen Rechts rügt.
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II.
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Das Rechtsmittel hat einen zumindest vorläufigen Erfolg.
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Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige
Rechtsbeschwerde führt auf die bereits mit der Einlegung des Rechtsmittels erhobene
Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zugrunde liegenden
Feststellungen.
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Die Überprüfung des Urteils in materiell-rechtlicher Hinsicht ergibt, dass die vom
Amtsgericht getroffenen Feststellungen die Verurteilung wegen fahrlässiger
Geschwindigkeitsüberschreitung nicht tragen. Die Feststellungen sind lücken- und
fehlerhaft, weil sie auf einer anhand der Urteilsgründe nicht nachvollziehbaren
Beweiswürdigung beruhen.
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Bei der Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung muss der Tatrichter,
um dem Rechtsbeschwerdegericht die Kontrolle der Beweiswürdigung zu ermöglichen,
in den Urteilsgründen zumindest das angewandte Messverfahren und den
berücksichtigten Toleranzwert mitteilen (vgl. BGH NJW 1993, 3081, 3083; OLG Hamm,
Beschluss vom 7. Oktober 2003 - 1 Ss OWi 632/03 -). Vorliegend enthält das
angefochtene Urteil keinerlei Angaben über das bei der Geschwindigkeitsmessung
angewandte Messverfahren, so dass für das Rechtsbeschwerdegericht nicht einmal
erkennbar ist, ob es sich um ein standardisiertes Messverfahren (zu vgl. BGH a.a.O.)
gehandelt hat.
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Auch die Höhe des vorgenommenen Toleranzabzuges ist den Urteilsgründen nicht zu
entnehmen. Aus der vom Amtsgericht getroffenen Feststellung, dass der Betroffene "mit
einer Geschwindigkeit von 103 km/h (abzgl. Toleranz)" und damit bei einer zulässigen
Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h "43 km/h zu schnell" gefahren sei, geht zwar im
Gegensatz zu der von der Generalstaatsanwaltschaft vertretenen Auffassung noch
hinreichend deutlich hervor, dass die nach Abzug des Toleranzwertes ermittelte,
vorwerfbare Geschwindigkeit 103 km/h betrug. Unklar bleibt jedoch, welchen
Toleranzwert das Amtsgericht bei der Feststellung dieser Geschwindigkeit in Abzug
gebracht hat. Bei standardisierten Messverfahren kann die ausdrückliche Angabe der
Höhe des vorgenommenen Toleranzabzuges zwar dann entbehrlich sein, wenn das
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Gericht durch Benennung des Messgerätes konkludent zum Ausdruck gebracht hat,
dass es die bei diesem Messgerät übliche Messtoleranz in Abzug gebracht und damit
etwaige systemimmanente Messfehler berücksichtigt hat (vgl. OLG Hamm, Beschluss
vom 11. November 2003 - 1 Ss OWi 532/03 -; NZV 2000, 264). Das angefochtene Urteil
enthält jedoch, wie bereits ausgeführt, weder Angaben zu dem angewandten
Messverfahren, noch zu dem verwendeten Messgerät.
Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist im Übrigen auch deshalb unvollständig und
das angefochtene Urteil damit rechtsfehlerhaft, weil die Urteilsgründe nicht erkennen
lassen, wie sich der Betroffene eingelassen hat und aufgrund welcher in der
Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse der Tatrichter die Einlassung des
Betroffenen für widerlegt angesehen hat (zu vgl. Göhler, OWiG, 13. Aufl., § 71 Rdnr. 43
m.w.N.). Aus den Urteilsgründen geht zum einen nicht hervor, ob der Betroffene seine
Fahrereigenschaft eingeräumt hat. Sollte der Betroffene bestritten haben, das Fahrzeug
zu dem in Rede stehenden Zeitpunkt geführt zu haben - eine solche Einlassung des
Betroffenen lässt sich nach den Urteilsgründen nicht ausschließen -, so ist für das
Rechtsbeschwerdegericht anhand der Urteilsgründe nicht nachvollziehbar, aufgrund
welcher Erkenntnisse der Tatrichter die Überzeugung gewonnen hat, dass der
Betroffene der verantwortliche Fahrzeugführer war. Aus den sehr knapp gehaltenen
Angaben im Urteil zu den Aussagen der vernommenen Zeugen C und I geht lediglich
hervor, dass durch eine zulässige und ordnungsgemäß durchgeführte
Geschwindigkeitsmessung eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 43 km/h
festgestellt wurde.
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Darüber hinaus ist auch der Rechtsfolgenausspruch nicht frei von Rechtsfehlern. Bei
einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 43 km/h außerhalb geschlossener
Ortschaften sieht zwar die lfd. Nr. 11.3.7 der Tabelle 1 c) der BKatV eine Regelbuße von
100,- € und ein Fahrverbot von einem Monat wegen grober Verletzung der Pflichten
eines Kraftfahrzeugführers (§ 25 Abs. 1 S. 1 StVG, § 4 Abs. 1 BKatV) vor. Daneben liegt
aufgrund der einschlägigen Vorbelastung (Geschwindigkeitsüberschreitung um 29 km/h
vom 24. Januar 2004, die mit einem seit dem 12. März 2004 rechtskräftigen
Bußgeldbescheid über 50,- € geahndet wurde) auch ein Fall des Regelfahrverbots
gemäß § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, § 4 Abs. 2 BKatV wegen beharrlicher Verletzung der
Pflichten eines Kraftfahrzeugführers vor. Allerdings kommt die Anordnung eines
Fahrverbots gemäß § 25 Abs. 1 S. 1 StVG wegen grober Verletzung der Pflichten eines
Kraftfahrzeugführers auch bei einer die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
BKatV erfüllenden Geschwindigkeitsüberschreitung nicht in Betracht, wenn die
Ordnungswidrigkeit darauf beruht, dass der Betroffene infolge einfacher Fahrlässigkeit
(sogenanntes Augenblicksversagen) ein die Geschwindigkeit begrenzendes
Verkehrszeichen übersehen hat und keine weiteren Anhaltspunkte vorliegen, aufgrund
derer sich die Geschwindigkeitsbeschränkung aufdrängen musste (vgl. BGHSt 43, 241
= NZV 1997, 525). Die Bußgeldstellen und Gerichte brauchen bei einer solchen
qualifizierten Geschwindigkeitsüberschreitung der Frage, ob die Tat auf einem lediglich
einfach fahrlässigen Übersehen des die Geschwindigkeit beschränkenden
Vorschriftzeichens beruht, zwar nur dann nachzugehen, wenn sich hierfür
Anhaltspunkte ergeben oder wenn der Betroffene dies im Verfahren einwendet (BGH
a.a.O.). Ob der Tatrichter diese Grundsätze bei seiner Rechtsfolgenentscheidung
beachtet, insbesondere ein Augenblicksversagen des Betroffenen rechtsfehlerfrei
ausgeschlossen hat, lässt sich dem angefochtenen Urteil jedoch schon deshalb nicht
entnehmen, weil die Einlassung des Betroffenen nicht wiedergegeben ist. Auf diesem
Rechtsfehler beruht der Rechtsfolgenausspruch auch deshalb, weil die Grundsätze des
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BGH zum sogenannten Augenblicksversagen bei einer groben Pflichtwidrigkeit für die
Fälle der "Beharrlichkeit" i.S.d. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, § 4 Abs. 2 BKatV entsprechend
gelten (vgl. OLG Hamm, VRS 97, 449; BayObLG NZV 1998, 255).
Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Olpe zurückzuverweisen.
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