Urteil des OLG Hamm vom 27.08.1987

OLG Hamm (anspruch auf rechtliches gehör, stpo, verteidiger, rechtliches gehör, staatsanwaltschaft, zeuge, vernehmung, akteneinsicht, antrag, bezug)

Oberlandesgericht Hamm, 1 VAs 37/87
Datum:
27.08.1987
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 VAs 37/87
Vorinstanz:
Amtsgericht Wuppertal, 8 (a) Gs 139/87
Tenor:
Die Staatsanwaltschaft Wuppertal wird verpflichtet, dem Verteidiger des
Betroffenen Einsichtnahme in die in der richterlichen Niederschrift vom
23.2.1987 - 8 a 139/87 AG Wuppertal - in Bezug genommenen
polizeilichen Vernehmungen vom 2.2.1987 bis 11.2.1987 betreffend den
Zeugen ... zu gewähren.
Die Landeskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die dem
Betroffenen erwachsenen notwendigen Auslagen. Der Geschäftswert
wird auf 5.000,00 DM festgesetzt.
Gründe:
1
Die Staatsanwaltschaft Wuppertal führt u.a. gegen den Betroffenen ein
Ermittlungsverfahren, in dem am 23.2.1987, als weder der Betroffene noch sein
Verteidiger über die Existenz des Verfahrens Kenntnis hatten, der Zeuge ..., der zuvor in
der Zeit vom 2.2.1987 bis zum 11.2.1987 Aussagen vor der Polizei gemacht hatte,
richterlich vernommen worden war. Nach der Niederschrift vom 23.2.1987 über diese
Vernehmung machte der Zeuge im Zusammenhang seine Aussage über sein Wissen
über den Betroffenen und zwei weitere Beschuldigte. Weiterhin wurde dem Zeugen
anschließend Gelegenheit gegeben, etwa 1 1/2 Stunden lang die Niederschriften über
seine Aussagen vor der Polizei, die er in der Zeit vom 2.2. bis 11.2.1987 gemacht hatte,
durchzulesen. Der Zeuge erklärte danach, daß die zuvor vor dem Vernehmungsrichter
im Zusammenhang gemachte Aussage richtig sei und in den wesentlichen Punkten mit
seinen polizeilichen Aussagen übereinstimme. Des weiteren ergänzte und erläuterte er
seine Aussagen und sagte darüberhinaus auf Vorhalt zu verschiedenen Einzelpunkten
aus.
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Die Staatsanwaltschaft Wuppertal hat auf Antrag des Verteidigers durch die
angefochtenen Bescheide lediglich die Einsichtnahme in die richterliche Niederschrift
vom 23.2.1987 gewährt, im übrigen jedoch jedes darüberhinausgehende
Einsichtsbegehren des Verteidigers wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks
abgelehnt.
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Mit dem vorliegenden, zunächst an das Oberlandesgericht Düsseldorf gerichteten,
jedoch noch rechtzeitig beim Oberlandesgericht Hamm als dem gemäß §§ 25 Abs. 2
EGGVG i.V.m. dem Gesetz vom 8.11.1960 (GVBl. NW 1960 S. 352) für Entscheidungen
gemäß §§ 23 ff EGGVG zuständigen Gericht eingegangenen Antrag verfolgt der
Betroffene das Ziel, Einsichtnahme in die polizeilichen Vernehmungen betreffend den
Zeugen ... zu erhalten, die in der Zeit vom 2.2.-11.2.1987 erfolgt sind.
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Der Antrag ist zulässig. Die Weigerung der Staatsanwaltschaft, dem Verteidiger
Akteneinsicht gemäß § 147 Abs. 2 StPO zu gewähren, ist im Verfahren nach den §§ 23
ff EGGVG überprüfbar (vgl. OLG Celle NStZ 1983, 379). Allerdings hat der Senat die
Weigerung der Staatsanwaltschaft gemäß § 147 Abs. 2 StPO, Akteneinsicht zu
gewähren, im Verfahren nach den §§ 23 ff EGGVG für nicht überprüfbar erachtet (vgl.
OLG Hamm MDR 1984, 514 = NStZ 1984, 280 = GA 1984, 290 jeweils m.w.N.; so auch
OLG Hamm StrVert. 1986, 422; NJW 1972, 1586). Das ist auch verfassungsrechtlich
unbedenklich (vgl. BVerfG NStZ 1984, 228). Die Kritik von Welp (Str.Vert. 1986, 446)
gibt dem Senat keine Veranlassung, seine Auffassung zu ändern. Anders liegt jedoch
der Fall, wenn Akteneinsicht in die in § 147 Abs. 3 StPO genannten Beweisunterlagen
verweigert wird. Die Rechtsschutzgewährung gemäß §§ 23 ff EGGVG im Falle des
Vorenthaltens der in § 147 Abs. 3 StPO genannten Beweismittel ist die logische
Folgerung aus dem Anspruch des Verteidigers auf sofortige Akteneinsicht. Hier hat der
Gesetzgeber ausdrücklich den uneingeschränkten Zugang des Verteidigers zu den
speziellen Beweismitteln gewährt, den die Staatsanwaltschaft auch nicht unter Berufung
auf die Gefährdung des Untersuchungszwecks verweigern darf (Kleinknecht-Meyer,
StPO, 38. Aufläge, Rz. 22; KMR-Müller Rz. 8; Löwe-Rosenberg-Dünnebier, StPO, 23.
Auflage, Rz. 22; Laufhütte KK Rz. 10 und 11; jeweils zu § 147 StPO). Für die
Gewährung sofortigen Rechtsschutzes spricht auch der Umstand, daß durch die
gesetzeswidrige Vorenthaltung der in § 147 Abs. 3 bezeichneten Unterlagen der
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wird (BVerfG NJW 1965, 1172). Einer Vorlage
der Sache gemäß § 121 Abs. 2 - GVG an den Bundesgerichtshof wegen der
Entscheidung des OLG Hamburg (Str.Vert. 1986, 422, 423) bedarf es nicht, denn in
dieser Entscheidung wird § 147 Abs. 3 StPO lediglich für den Fall, daß Übersetzungen
als Sachverständigengutachten zu qualifizieren sein sollten, restriktiv ausgelegt.
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Der Antrag ist auch begründet.
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Die Staatsanwaltschaft hat dem Verteidiger des Betroffenen gemäß § 147 Abs. 3 StPO
Akteneinsicht auch in die Protokolle über die polizeilichen Vernehmungen des Zeugen
..., die in der Zeit vom 2.2.-11.2.1987 angefertigt wurden, zu gewähren. Mit der
Aushändigung der richterlichen Niederschrift vom 23.2.1987 an den Verteidiger war das
Akteneinsichtsbegehren nicht erfüllt. Denn zu Recht verlangt der Verteidiger
darüberhinaus auch Einsicht in die in der Niederschrift vom 23.2.1987 in Bezug
genommenen polizeilichen Vernehmungen vom 2.2.-11.2.1987. Entgegen der
Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf sind die dem Verteidiger
bisher vorenthaltenen polizeilichen Protokolle aus der Zeit vom 2.2.-11.2.1987
Bestandteil der Niederschrift über die richterliche Vernehmung des Zeugen .... Der
Zeuge hat zunächst vor dem Richter eine zusammenhängende Aussage über sein
gesamtes den Fall betreffendes Wissen gemacht. Diese Aussage ist nicht protokolliert
worden. Sodann hat der Zeuge die polizeilichen Protokolle selbst durchgelesen und
nunmehr - ersichtlich mit Billigung des Richters - erklärt, seine richterliche Aussage
stimme in den wesentlichen Punkten mit den polizeilichen Aussagen überein. Damit
sind diese polizeilichen Protokolle als Darstellungsersatz im richterlichen Protokoll in
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Bezug genommen, mithin im vorliegenden Fall, zu dessen Bestandteil geworden.
Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch infrage gestellt, daß die polizeilichen
Protokolle dem Zeugen nicht vorgelesen worden, sondern von ihm selbst gelesen
worden sind. Ob im Hinblick auf die Rechtsprechung des BGH (NJW 1952, 1027;
BGHSt 6, 279; BGHSt 7, 73, 74; BGH GA 1987, 262) ein so gefaßtes richterliches
Protokoll gemäß § 251 StPO verwertbar ist, ist für die hier zu entscheidende Frage, ob
polizeiliche Vernehmungen Gegenstand der richterlichen Vernehmung waren und Inhalt
des richterlichen Protokolls sind und mithin ein Einsichtsrecht des Verteidigers besteht,
nicht von Bedeutung.
Unerheblich ist auch der Hinweis der Staatsanwaltschaft Wuppertal, im Zeitpunkt der
richterlichen Vernehmung des Zeugen ... sei Rechtsanwalt Lein noch nicht Verteidiger
des Beschuldigten gewesen. Auf den Zeitpunkt der Verteidigerbestellung kann es nicht
ankommen, da das Gesetz hierauf nicht abstellt, vielmehr es ausreichend sein laut, daß
einem Verteidiger die Anwesenheit bei der jeweiligen Vernehmung hätte gestattet
werden müssen. Das war hier gemäß § 168 c StPO der Fall (vgl. Kleinknecht/Meyer,
StPO, 38. Aufl., § 168 c, RN 5 a.E.).
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Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 30 EGGVG, 30, 130 KostO.
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