Urteil des OLG Hamm vom 30.07.2010

OLG Hamm (anordnung, beschwerde, zpo, verhandlung, begriff, antragsteller, zweck, norm, ausschluss, unterlagen)

Oberlandesgericht Hamm, II-10 WF 121/10
Datum:
30.07.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
10. Senat für Familiensachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
II-10 WF 121/10
Vorinstanz:
Amtsgericht Essen-Steele, 16 F 19/10
Schlagworte:
einstweilige Anordnung, Beschwerde, Abhilfebefugnis
Normen:
§ 68 Abs. 2 Satz 1, 54 Abs. 2 FamFG
Leitsätze:
Zur Abhilfebefugnis gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 FamFG bei Beschwerden
gegen Entscheidung des Amtsgerichts im Verfahren der einstweiligen
Anordnung.
Tenor:
1. Das Verfahren wird vom Einzelrichter auf den Senat übertragen.
2. Eine Entscheidung über die Beschwerde wird abgelehnt. Die Sache
wird dem Amtsgericht zurückgegeben, welches über die Abhilfe
hinsichtlich der Beschwerde zu entscheiden hat.
Gründe:
1
I.
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Die Parteien streiten im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung über eine
Gewaltschutzanordnung als Folge eines Vorfalls am 17.01.2010, bei dem nach
Behauptung des Antragstellers der Antragsgegner ihn bedroht habe. Das Amtsgericht
hat nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung und Vernehmung der im
Verhandlungstermin vom Antragsteller gestellten Zeugen Q und I seine Verfügung vom
19.01.2010, mit welcher es dem Antragsgegner untersagt hat, den Antragsteller zu
bedrohen, zu belästigen, zu verletzen oder sonst körperlich zu misshandeln,
aufrechterhalten, weil es aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme als glaubhaft
gemacht ansah, dass der Antragsgegner den Antragsteller bedroht habe. Hiergegen
wendet sich der Antragsgegner mit seiner Beschwerde, in welcher er die Zeugen Q2
und T nunmehr dafür benennt, dass er bei dem Zusammentreffen der Parteien am
17.01.2010 keine Drohgebärden gegenüber dem Antragsteller gemacht habe.
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II.
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Der Senat ist jedenfalls derzeit zur Entscheidung über die nach § 57 Satz 2 Nr. 4
FamFG statthafte Beschwerde nicht befugt, weil zunächst eine Abhilfeentscheidung des
Amtsgerichts gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 FamFG zu ergehen hat.
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Die Abhilfemöglichkeit ist nicht durch § 68 Abs. 1 Satz 2 FamFG ausgeschlossen, weil
die Entscheidung des Amtsgerichts im Verfahren der einstweiligen Anordnung gemäß
§ 54 Abs. 2 FamFG keine "Endentscheidung" im Sinne dieser Norm darstellt.
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Zwar handelt es sich bei dem Beschluss des Amtsgerichts vom 22.04.2010 um eine die
Beschwerde eröffnende "Endentscheidung" im Sinne des § 58 Abs. 1 FamFG, weil
hierdurch der Verfahrensgegenstand ganz oder teilweise im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz
1 FamFG erledigt wurde (vgl. OLG Stuttgart, NJW 2009, 3733). Aufgrund der vom
Amtsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung liegen zudem die besonderen
Voraussetzungen des § 57 Satz 2 Nr. 4 FamFG vor.
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Gleichwohl ist die Vorschrift des § 68 Abs. 1 Satz 2 FamFG auf Beschwerden gegen
Entscheidungen im Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht anwendbar, obwohl
diese Norm ebenfalls den Begriff der "Endentscheidung" verwendet. Allerdings ist der
Wortlaut nicht eindeutig, weil § 57 FamFG nicht den Begriff der "Endentscheidung",
sondern lediglich den Begriff "Entscheidung" verwendet, sodass der uneinheitliche
Sprachgebrauch des Gesetzes nahelegt, dass nicht alle für Beschwerden gegen
Hauptsacheentscheidungen anwendbaren Vorschriften auch bei Beschwerden im
Verfahren der einstweiligen Anordnung anwendbar sind. Vielmehr bedarf es einer
Gesetzesauslegung, ob die für "Endentscheidungen" geltenden Regelungen des
Beschwerderechts bei Beschwerden im Verfahren der einstweiligen Anordnung
anwendbar sind. Dies wird auch durch § 216 Abs. 1 FamFG deutlich, weil auch bei
dieser Norm unter den verwendeten Begriff der "Endentscheidung" nur solche
Beschlüsse des Amtsgerichts fallen, die im Hauptsacheverfahren ergangen sind,
während im Verfahren der einstweiligen Anordnung die speziellere Regelung des § 53
FamFG Anwendung findet (vgl. Keidel – Giers, FamFG, 16. Aufl., § 216 Rdn. 1).
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Aus der Entstehungsgeschichte des § 68 FamFG wie dessen Sinn und Zweck ergibt
sich das Bestehen einer Abhilfemöglichkeit und -verpflichtung des Amtsgerichts bei
einer Beschwerde gegen den angefochtenen Beschluss im Verfahren der einstweiligen
Anordnung.
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Der Regelung des § 68 Abs. 1 Satz 2 FamFG ging diejenige in § 621e ZPO (a. F.)
voraus, weshalb nach der früheren Gesetzeslage gegen Entscheidungen des
Amtsgerichts in Gewaltschutzsachen in der Hauptsache die befristete Beschwerde
eingelegt werden konnte, für welche § 621e Abs. 3 ZPO durch Bezugnahme auf die
Vorschriften des Berufungsrechts einen Ausschluss der Abhilfe normierte. Eine
einstweilige Anordnung in Gewaltschutzsachen war hingegen nach der früheren
Rechtslage gemäß § 64b Abs. 3 FGG möglich. Die in diesem Verfahren ergangenen
Entscheidungen des Amtsgerichts unterlagen, sofern eine mündliche Verhandlung
vorausgegangen war, gemäß §§ 64b Abs. 3 Satz 2 FGG, 620c Satz 1 ZPO (a. F.) der
sofortigen Beschwerde, bei welcher nach herrschender und zutreffender Auffassung
(vgl. Zöller – Philippi, ZPO, 27. Aufl., § 620c Rdn. 22; a. A. Musielak – Borth, ZPO, 4.
Aufl., § 620c Rdn. 9) die Abhilfemöglichkeit gemäß § 572 Abs. 1 ZPO eröffnet war. Die
Gesetzesmaterialien geben keinerlei Hinweis darauf, dass sich durch die Reform des
Verfahrensrechts und die Einführung des FamFG an dieser Rechtslage etwas ändern
sollte(vgl. BT-Drucks. 16/6308, S. 207).
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Auch Sinn und Zweck der angeführten Regelungen sprechen dafür, eine
Abhilfemöglichkeit des Amtsgerichts bei Beschwerden gegen Beschlüsse im Verfahren
der einstweiligen Anordnung nach mündlicher Verhandlung zuzulassen (so auch
Saenger/Kemper, ZPO, 3. Aufl., § 68 FamFG Rdn. 3; Friederici/Kemper/Klußmann,
Handkommentar Familienverfahrensrecht, § 68 Rdn. 7; Gießler, Anmerkung zum
Beschluss des OLG Stuttgart vom 12.10.2009 – 16 WF 193/09, FamRZ 2010 S. 1100).
Die Eröffnung der Abhilfe durch das Ausgangsgericht dient – entgegen der
Einschätzung von Musielak – Borth, a.a.O. – regelmäßig der Verfahrensbeschleunigung
(vgl. Prütting/Helms – Abramenko, FamFG, § 68 Rdn. 2) und damit einem Zweck,
welchem im Verfahren der einstweiligen Anordnung besondere Bedeutung zukommt.
Während sich das Beschwerdegericht erst in die Materie einarbeiten muss, ist dem
Amtsgericht der Sachverhalt bereits vertraut, weshalb es regelmäßig schneller in der
Lage sein wird, über die sich unter Berücksichtigung des neuen Vorbringens ergebende
Rechtslage zu entscheiden. Gerade im vorliegenden Fall, in welchem der
Antragsgegner mit seinem Beschwerdevorbringen ergänzende Beweismittel benannt
hat, welche – abgesehen von dem im Gewaltschutzverfahren geltenden
Amtsermittlungsgrundsatz – gemäß § 65 Abs. 3 FamFG berücksichtigt werden müssen,
kann das Amtsgericht – anders als der Senat – in einer weiteren mündlichen
Verhandlung grundsätzlich auf die bereits im Termin am 22.04.2010 gewonnenen
Erkenntnisse zurückgreifen, anstatt die gesamte Anhörung und Zeugenvernehmung
wiederholen zu müssen. Darüber hinaus fallen bei einer Entscheidung über die Abhilfe
– anders als bei einer Entscheidung des Senats über die Beschwerde – keine
zusätzlichen Kosten an, weshalb etwa der Antragsgegner, sollte ihn eine etwaige
Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts überzeugen, die Möglichkeit hätte, durch
Rücknahme der Beschwerde das Anfallen von Gerichtskosten zu vermeiden (vgl.
insofern auch die zu den früher geltenden §§ 620c, 572 ZPO ergangenen
Entscheidungen OLG Brandenburg, FamRZ 2004, S. 653; OLG Karlsruhe, OLGR 2004,
S. 313).
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