Urteil des OLG Hamm vom 21.11.2006

OLG Hamm: wiedereinsetzung in den vorigen stand, zustellung, benachrichtigung, ausführung, anschrift, strafverfahren, schriftstück, adresse, ergänzung, streichung

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss 460/06
Datum:
21.11.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss 460/06
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 5 Ns 5 Ds 32 Js 646/04 - J 2/06 V -
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch
über die Kosten der Revision - an eine andere kleine Strafkammer des
Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Das Amtsgericht Minden hat den Verurteilten durch Urteil vom 25. November 2005
wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung
bei fahrlässiger Verursachung der Gefahr in Tateinheit mit Widerstand gegen
Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Sachbeschädigung in Tateinheit mit
unerlaubtem Entfernen vom Unfallort zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei
Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ferner hat
das Amtsgericht dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein
eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von
noch neun Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Auf die Berufung des
Angeklagten gegen dieses Urteil hat der Vorsitzende der V. kleinen Strafkammer des
Landgerichts Bielefeld durch Verfügung vom 16.06.2006 Termin zur
Berufungshauptverhandlung auf den 21.08.2006 anberaumt. Nachdem dem
Angeklagten
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die diesbezügliche Ladung unter seiner bisherigen Anschrift I-Weg in
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####1 Q nicht zugestellt werden konnte, vielmehr die Zustellungsurkunde mit dem
Vermerk zurückgelangte, dass der Adressat verzogen sei nach: "J C, DU xxx SE G/HC",
verfügte der Vorsitzende unter dem 23.06.2006 die Ladung an die vorgenannte Anschrift
in H mit einfachem Brief und im Übrigen durch Beschluss vom 26.06.2006 die
öffentliche Zustellung der Ladung des Angeklagten zu der Berufungshauptverhandlung
am 21.08.2006, da eine Zustellung der Ladung unter der Anschrift, die der Angeklagte
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zuletzt angegeben habe, nicht möglich und eine Zustellung unter der Anschrift aus der
Mitteilung der Post vom 22.06.2006 in H voraussichtlich vor dem
Berufungshauptverhandlungstermin nicht mehr ausführbar sei. Die öffentliche
Zustellung durch Aushängung der vorgenannten Benachrichtigung erfolgte an der
Gerichtstafel bei dem Amtsgericht Minden in der Zeit vom 30.06.2006 bis zum
17.07.2006.
Im Berufungshauptverhandlungstermin am 21.08.2006, zu dem der Angeklagte nicht
erschien, verwarf die V. kleine Strafkammer des Landgerichts Bielefeld die Berufung
des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Minden vom 25. November
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2006 gemäß § 329 StPO. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner am
22.08.2006 eingegangenen Revision, mit der er die Verletzung formellen Rechts
insoweit rügt, als die Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung der Ladung zum
Berufungshauptverhandlungstermin nicht gegeben gewesen seien, weil seine Anschrift
dem Gericht bekannt gewesen sei und ferner mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungshauptverhandlung.
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Durch Beschluss des Vorsitzenden der V. Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom
06.09.2006 ist der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
mangels erforderlicher Begründung und Glaubhaftmachung als unzulässig verworfen
worden.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision des Angeklagten als
unzulässig zu verwerfen.
9
II.
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Die Revision des Angeklagten ist gemäß §§ 333, 342 Abs. 2 StPO statthaft und führt in
der Sache auch zu einem zumindest vorläufigen Erfolg.
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Die Anordnung der öffentlichen Zustellung der Ladung zur Berufungshauptverhandlung
war im vorliegenden Verfahren gemäß § 40 Abs. 3 StPO zulässig. Danach kann die
öffentliche Zustellung im Verfahren über eine von dem Angeklagten eingelegte
Berufung ohne weitere Nachforschung nach dessen Aufenthalt bereits dann in
zulässiger Weise angeordnet werden, wenn eine Zustellung nicht unter einer Anschrift
möglich ist, unter der letztmals zugestellt wurde und die der Angeklagte zuletzt
angegeben hat. Der Angeklagte hatte als letzte Postanschrift die eingangs im
Beschlusstenor genannte Adresse seines letzten Wohnsitzes in Q angegeben. Unter
dieser Anschrift war er aber nicht mehr wohnhaft, sondern er war, wie sich aus der
Zustellungsurkunde ergibt, verzogen nach G/HC zu der in der Zustellungsurkunde
angegebenen dortigen Adresse.
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Die Ausführung der öffentlichen Zustellung jeweils durch den Aushang einer
entsprechenden Benachrichtigung an der Gerichtstafel des Amtsgerichts Minden ist
aber nicht ordnungsgemäß erfolgt; sie hätte vielmehr an der Gerichtstafel des
Prozessgerichtes - des Landgerichts Bielefeld - erfolgen müssen.
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Die in § 40 Abs. 1 StPO in der bis zum 30.04.2004 gültigen Fassung enthaltene
Bestimmung, dass die öffentliche Zustellung als erfolgt gilt, wenn das zuzustellende
Schriftstück zwei Wochen an der Gerichtstafel des Gerichts des ersten Rechtszuges
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angeheftet gewesen ist, ist in der durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom
24.08.2004 (BGBl. I Nr. 45) abgeänderten und ab dem 01.09.2004 gültigen Fassung des
§ 40 Abs. 1 StPO nicht mehr erhalten. Nach der Neufassung der Vorschrift gilt die
Zustellung als erfolgt, wenn seit dem Aushang der Benachrichtigung zwei Wochen
vergangen sind. In der Begründung zu dem Entwurf des 1.
Justizmodernisierungsgesetzes der Bundesregierung wird zu der teilweisen
Neufassung des § 40 StPO ausgeführt (Bundestagsdrucksache 15/3482 S. 20 f), auch
im Strafverfahren solle künftig über die Verweisung in § 37 Abs. 1 StPO die Regelung
der §§ 186, 187 ZPO über die Ausführung der öffentlichen Zustellung von Schriftstücken
gelten. In § 40 StPO beibehalten würden die abgestuften Regelungen zur Zulässigkeit
der öffentlichen Zustellung und zur Dauer des Aushangs, die von den §§ 185, 188 ZPO
abwichen. Durch die Streichung der Sonderregelungen zur Ausführung der Zustellung
in § 40 Abs. 1 und 2 StPO gelte künftig die Verweisung auf die §§ 186, 187 ZPO auch
für die öffentliche Zustellung an Beschuldigte und Einziehungsbeteiligte.
Durch Anwendung des § 186 Abs. 2 ZPO in der ab dem 01.07.2002 gültigen Fassung,
wonach - abweichend von § 40 StPO a. F. - nicht das zuzustellende Schriftstück,
sondern eine Benachrichtigung über die Zustellung an der Gerichtstafel auszuhängen
ist, soll nach der Begründung des Gesetzentwurfes auch im Strafverfahren künftig eine
"Prangerwirkung" durch den Aushang des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen
entfallen. Weiterer Zweck ist eine deutliche Vereinfachung der Arbeit der Gerichte bei
der Ausführung der öffentlichen Zustellung.
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Die Ausführung einer gemäß § 40 StPO angeordneten öffentlichen Zustellung richtet
sich daher - mit Ausnahme der Dauer des Aushangs - nach § 37 Abs. 1 StPO i. V. m. §§
186, 187 ZPO.
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Nach § 186 Abs. 1 ZPO entscheidet über die Bewilligung der öffentlichen Zustellung
das Prozessgericht. Das ist dasjenige Gericht, bei dem der Rechtsstreit anhängig ist. In
der Zwangsvollstreckung ist "Prozessgericht" im Sinne der Vorschrift das
Vollstreckungsgericht (vgl. Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 186, Rdnr. 3; Hartmann
in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 64. Aufl., § 186, Rdnr. 4). Bei welchem
Gericht der Aushang der Benachrichtigung zu erfolgen hat, ist in den § 186 ff ZPO zwar
nicht ausdrücklich bestimmt. Nach der Auffassung des Senats kommt aber nur die
Gerichtstafel des Prozessgerichts in Betracht. Dies folgt bereits aus der Vorschrift selbst,
die nicht nur die Bewilligung, sondern auch die Ausführung der öffentlichen Zustellung
regelt, in Bezug auf das Gericht, an dessen Tafel die erforderliche Benachrichtigung
anzuheften ist, aber keine von Absatz 1 abweichende Bestimmung trifft, wie es der
Gesetzgeber etwa in § 699 Abs. 4 S. 3 ZPO für den Fall der Bewilligung und Ausführung
der öffentlichen Zustellung eines Vollstreckungsbescheides durch das mit dem
Mahnverfahren befasste Gericht - Anheftung nicht an der Tafel dieses, sondern an der
des in dem Mahnbescheid gemäß § 692 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bezeichneten Gerichts -
geschehen ist.
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Für diese Auslegung spricht auch die Begründung der Bundesregierung zu Artikel 1 Nr.
14 des Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung elektronischer
Kommunikationsformen in der Justiz vom 28.10.2004 (Bundestagsdrucksache 15/4067,
S. 32), in Kraft seit dem 01.04.2005, zu der entsprechend diesem Entwurf in § 186 Abs.
2 Satz 2 ZPO vorgenommenen Ergänzung, dass die Benachrichtigung zusätzlich in
einem von dem Gericht für Bekanntmachungen bestimmten elektronischen Informations-
und Kommunikationssystem erfolgen könne. Die Ergänzung - so die amtliche
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Begründung - schaffe die zusätzliche Möglichkeit einer öffentlichen Zustellung durch
Einstellung in das Internet auf der Homepage des
Prozessgerichts
Auch in der einschlägigen Kommentarliteratur wird es offensichtlich als
selbstverständlich angesehen, dass die öffentliche Zustellung nach § 186 Abs. 2 ZPO
durch einen Aushang an der Tafel des Prozessgerichts auszuführen ist.
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In den gängigen Kommentaren zur ZPO (vgl. Zöller, 25. Aufl.; Stein/Jonas, 22. Aufl.;
Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 64. Aufl. ; Thomas/Putzo, 27. Aufl.; Münchener
Kommentar, 2. Aufl., Aktualisierungsband ZPO-Reform 2002 und weitere
Reformgesetze; Musielak, 4. Aufl. ) wird nämlich im Rahmen der Kommentierungen zu §
186 ZPO die Frage, bei welchem Gericht die Anheftung der Benachrichtigung an die
Gerichtstafel zu erfolgen hat, nicht gesondert erörtert, was den Rückschluss zulässt,
dass diesbezüglich die gesetzliche Regelung als eindeutig in dem Sinne angesehen
wird, dass nur die Gerichtstafel des Prozessgerichts gemeint sein kann. Lediglich in
einem dieser Kommentare (Roth in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl.) wird im Rahmen der
Kommentierung zu § 188 ZPO (Rdnr. 1), die Frage, bei welchem Gericht die
Benachrichtigung auszuhängen ist, insoweit - indirekt - beantwortet, als ausgeführt wird,
dass als Ort der (öffentlichen) Zustellung im Sinne des § 604 ZPO der Sitz des
Prozessgerichts
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Unter Zugrundelegung der obigen Ausführungen hat die nunmehr auch für die
Ausführung öffentlicher Zustellungen an den Beschuldigten (Angeklagten) geltende
Verweisung gemäß § 37 Abs. 1 StPO auf die §§ 186, 187 ZPO nach Auffassung des
Senats zur Folge, dass bei einer Zustellung nach § 40 StPO der Aushang der
Benachrichtigung an der Gerichtstafel desjenigen Gerichtes zu erfolgen hat, das für die
Bewilligung der öffentlichen Zustellung zuständig ist. Das ist das Gericht, bei dem das
Straf- oder Strafvollstreckungsverfahren anhängig ist, in dem die öffentliche Zustellung
erfolgen soll. Dieses Gericht ist bei öffentlichen Zustellungen an den Beschuldigten
bzw. Angeklagten im Strafverfahren als "Prozessgericht" im Sinne des § 186 Abs. 1
ZPO anzusehen (im Ergebnis ebenso OLG Stuttgart, Justiz 2006, 235, wonach die
Benachrichtigung nach §§ 40 Abs. 1, 37 StPO, § 186 ZPO an der Gerichtstafel des die
öffentliche Zustellung anordnenden Gerichts auszuhängen ist; a. A. der hiesige 2.
Strafsenat in seinem Beschluss vom 04.05.2006 - 2 Ws 113/06 - , der den Vorschriften
über die öffentlichen Zustellung nach der StPO und ZPO jedenfalls nicht eindeutig zu
entnehmen vermag, welches Gericht im Strafverfahren und insbesondere im
Strafvollstreckungsverfahren mit "Prozessgericht" gemeint ist sowie, dass der Aushang
immer an der Gerichtstafel desjenigen Gerichts zu erfolgen hat, das auch für die
Anordnung der öffentlichen Zustellung zuständig ist).
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Zu berücksichtigen ist außerdem, dass gemäß § 186 Abs. 2 Nr. 4 ZPO dem
Zustellungsadressaten ein Recht auf Einsichtnahme in das zuzustellende Schriftstück
eingeräumt wird, wobei sich aus der an der Gerichtstafel ausgehängten
Benachrichtigung ergeben muss, an welcher Stelle die Einsicht erfolgen kann. Nach der
amtlichen Begründung betreffend die Änderung des § 40 StPO kann der Berechtigte
sein Einsichtsrecht regelmäßig auf der Geschäftsstelle des Gerichts ausüben (vgl.
Bundestagsdrucksache 15/3482, S. 20). Die Einsichtsmöglichkeit wird
vernünftigerweise auf der Geschäftsstelle des Gerichts, bei dem das Verfahren, in dem
die öffentliche Zustellung erfolgen soll, anhängig ist, bestehen, da sich dort die
Verfahrensakten befinden und auf diese Weise die durch die Änderung des § 40 StPO
auch beabsichtigte Vereinfachung des gerichtlichen Arbeitsaufwandes bei der
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Ausführung öffentlicher Zustellungen erreicht werden kann. Schon unter
Berücksichtigung dieser Zielrichtung hat auch der Aushang der Benachrichtigung über
die öffentliche Zustellung bei diesem Gericht, also dem Prozessgericht, zu erfolgen.
Hinzu kommt, dass es, wie auch der hiesige 2. Strafsenat in der oben genannten
Entscheidung zutreffend angemerkt hat, nur dann sinnvoll ist, statt des zuzustellenden
Schriftstücks selbst lediglich eine Benachrichtigung an die Gerichtstafel anzuheften,
wenn die Einsichtsmöglichkeit dort gegeben ist, wo auch der Aushang erfolgt.
Die im vorliegenden Verfahren angeordnete öffentliche Zustellung der Ladung zur
Berufungshauptverhandlung hätte daher durch den Aushang entsprechender
Benachrichtigungen an der Gerichtstafel des Landgerichts Bielefeld ausgeführt werden
müssen. Der hier erfolgte Aushang jeweils an der Gerichtstafel eines falschen Gerichts
hat die Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung zur Folge (vgl. Weßlau in
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SK-StPO, Stand Juli 2004, § 40 Rdnr. 17; vgl. zum Ganzen Senatsbeschluss vom 19.
September 2006 - 3 Ws 294/06 -).
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Auf die - noch ordnungsgemäß - erhobene und begründete Verfahrensrüge der
Verletzung des § 329 StPO hin war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an
eine andere Berufungskammer des Landgerichts Bielefeld zurückzuverweisen.
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Der Beschluss des Landgerichts vom 06.09.2006 über die Verwerfung des
Wiedereinsetzungsantrages des Angeklagten wegen Versäumung der
Berufungshauptverhandlung ist hiermit gegenstandlos.
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