Urteil des OLG Hamm vom 03.09.1999

OLG Hamm: fahrzeug, versuch, rente, interdisziplinäres gutachten, körperverletzung, distorsion, rechtshängigkeit, golf, körperschaden, verkehrsunfall

Oberlandesgericht Hamm, 9 U 144/98
Datum:
03.09.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
9. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 U 144/98
Vorinstanz:
Landgericht Münster, 16 O 289/95
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das am 30. April 1998 verkündete
Urteil des Einzelrichters der 16. Zivilkammer des Landgerichts Münster
wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten der Berufung.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung in Höhe von 120 % des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Den Parteien wird
nachgelassen, die Sicherheitsleistung durch selbstschuldnerische
Bürgschaft einer Großbank, Genossenschaftsbank oder öffentlichen
Sparkasse zu erbringen.
Das Urteil beschwert den Kläger in Höhe von 200.673,44 DM.
T a t b e s t a n d
1
Der am 00.00.1946 geborene Kläger nimmt die Beklagte wegen eines Verkehrsunfalls,
der sich am 15.05.1990 gegen 16.50 Uhr in N ereignete, auf Schadensersatz in
Anspruch.
2
Die Parteien streiten darüber, ob er einen unfallbedingten körperlichen Schaden erlitten
hat.
3
Der Kläger befuhr mit seinem Fahrzeug, einem Audi 90 Quattro, amtliches Kennzeichen
XX-XX XXX, den H. In Höhe des Hauses Nr. 11/13 fuhr ein in einer Haltebucht
stehender Omnibus plötzlich an. Der Kläger mußte, ebenso wie der Kraftfahrer eines
hinter ihm fahrenden VW Golf, sein Fahrzeug abbremsen. Der Fahrer eines weiteren bei
der Beklagten haftpflichtversicherten VW Golf erfaßte die Verkehrssituation zu spät. Er
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fuhr auf das hinter dem Kläger befindliche Fahrzeug, dessen Fahrer die Bremse
betätigte, auf und schob es auf den klägerischen Wagen.
Die Fahrzeuge wurden beschädigt. Wegen des am Fahrzeug des Klägers entstandenen
Schadens wird auf das Gutachten der DEKRA N2 vom 17.05.1990 Bezug genommen
(Bl. 173 – 183 GA), bezüglich des Schadens an dem auf das Fahrzeug des Klägers
aufgeschobenen Wagen auf das Gutachten des Ingenieurbüro T4 vom 17.05.1990 (Bl.
193 – 199 GA).
5
Der Kläger suchte noch am Unfalltag seinen Hausarzt, Herrn Dr. T3 in N2, auf. Er klagte
über Schwindel, einen steifen Nacken, Kopfschmerzen und eine eingeschränkte
Beweglichkeit des Kopfes. Der behandelnde Arzt stellte grob neurologisch keine
Ausfälle, mäßigen Klopfschmerz am Hinterhaupt, an den Dornfortsätzen der HWS, der
Nacken- und paravertebralen Muskulatur sowie eine starke Verspannung der
Nackenmuskulatur fest und attestierte ein HWSSchleudertrauma; später durch ihn
gefertigte Röntgenaufnahmen waren ohne pathologischen Befund. Wegen weiterer
Einzelheiten wird auf den ärztlichen Bericht von Dr. T3 vom 02.07.1990 Bezug
genommen (Bl. 20,21 GA).
6
Der Kläger war bis zum 10.06.1990 arbeitsunfähig krank geschrieben. In der Folgezeit
klagte er über eine eingeschränkte Beweglichkeit des Kopfes, anhaltende Nacken- und
Schulterschmerzen, ständige Kribbelgefühle in den Fingern, migräneartige
Kopfschmerzen, Seh- und Schlafstörungen und durch die Beschwerden verursachte
Einschränkungen seines Sexuallebens.
7
Der Kläger litt bereits seit 15 Jahren an Lendenwirbelbeschwerden; er war ferner bereits
vor dem Unfall wegen Beschwerden an der Halswirbelsäule in ärztlicher Behandlung.
8
Er unterzog sich nach dem Unfall einer Reihe von Untersuchungen und
Begutachtungen.
9
Wegen der Einzelheiten wird auf die folgenden Bescheinigungen, Arztbericht bzw.
Gutachten und Stellungnahmen Bezug genommen:
10
Dr. C, Arzt für Chirurgie und Chirotherapie, vom 10.09.1990 (Bl. 24 – 27 GA), ergänzt
durch die Stellungnahme vom 01.08.1991 zum Gutachten von Dr. E2 (Bl. 50 - 51 GA),
11
Dr. D, Arzt für Orthopädie, F – Hospital N2, vom 23.02.1991 (Bl. 54 - 71 GA),
Gesellschaft für Diagnose und Forschung, Gemeinnütziges Gemeinschaftskrankenhaus
I, Kernspintomographie, vom 14.02.1992 (Bl. 46 – 47 GA),
12
Gemeinnütziges Gemeinschaftskrankenhaus I, Neurochirurgie, vom 24.07.1992 und
vom 13.10.1992 (Bl. 22 – 23, 48 GA),
13
Prof. Dr. med. W, Arzt für Orthopädie, Universitätsklinik N2, vom 05.01.1993 (Bl. 72 – 96
GA), vom 22.02.1994 (Bl. 97 – 103 GA), ergänzt durch gutachterliche Stellungnahme
vom 07.05.1997 (Bl. 414 – 422 GA) zum Gutachten von Dr. Q, Dr. med. T, Orthopäde,
vom 28.07.1993 (Bl. 49 GA), Dr. med. T3, Internist und Sportmedizin, vom 25.08.1993
und 06.09.1994 (Bl. 43, 44, 53 GA),Prof. Dr. F und Dipl. T, Institut für Rechtsmedizin,
Universität N2, vom 28.09.1995 (Bl. 225 – 228 GA und Ergänzungsgutachten vom
05.05.1997 (Bl. 412, 413 GA).
14
In einem aufgrund krankheitsbedingter massiver dienstlicher Fehlzeiten eingeholten
Gutachten über die Dienst- und Polizeidienstfähigkeit des Klägers stellte der
Polizeiärztliche Dienst des Regierungspräsidenten E die Polizeidienstunfähigkeit des
Klägers fest. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten des Polizeiärztlichen
Dienstes vom 14.08.1990 (Bl. 325 – 335 GA) sowie auf das von dort eingeholte
orthopädische Gutachten von Prof. Dr. O vom 26.07.1991 (Bl. 336 – 339 GA) Bezug
genommen. Durch Bescheid vom 02.10.1991 stellte der OKD N die
Polizeidienstunfähigkeit des Klägers fest (Bl. 28 ff GA). Auf den Widerspruch des
Klägers veranlaßte der Regierungspräsident in E die Einholung eines Gutachtens über
die allgemeine Dienstfähigkeit des Klägers durch Prof. Dr. W von der Universität N2. Auf
das neurochirurgische Gutachten vom 18.03.1993 wird Bezug genommen (Bl. 33 – 42
GA). Mit Bescheid vom 20.07.1990 wies der Regierungspräsidenten E den Widerspruch
des Klägers als unbegründet zurück (Bl. 28 – 30 GA). Mit Ablauf des 30.09.1995 wurde
der Kläger in den Ruhestand versetzt.
15
Im Jahre 1996 wurde dem Kläger wegen einer Oberschenkelkopfnekrose ein neues
Hüftgelenk implantiert.
16
Die Beklagte hat den Sachschaden ausgeglichen und auf den immateriellen Schaden
vorprozessual 2.000,00 DM gezahlt.
17
Der Kläger hat zum Unfallhergang behauptet, wegen des ersten Aufprallgeräuschs habe
er sich nach hinten rechts umgedreht. Durch den weiteren Aufprall sei sein Kopf nach
links, dann
18
über die Schulter und den Nacken nach rechts geflogen. Die Kopfstützen seines
Fahrzeugs hätten keine Wirkung entfaltet. Die Differenzgeschwindigkeit habe
mindestens 10 km/h betragen.
19
Die nach dem Unfall aufgetretenen Beschwerden seien unfallbedingte Folge eines
Halswirbelschleudertraumas. Aufgrund seiner vorgeschädigten Halswirbelsäule habe
auch ein Anstoß mit geringer Differenzgeschwindigkeit zu einem HWS-Trauma führen
können.
20
Die durch den Unfall verursachten Beeinträchtigungen hätten seine Polizeidienst- und
allgemeine Dienstunfähigkeit herbeigeführt. Die vor dem Unfall bestehende
Beschwerdesymptomatik sei mit den nach dem Unfall aufgetretenen Beschwerden nicht
identisch, da vor dem Unfall eine kopfgelenknahe biomechanische Störung im
Vordergrund gestanden hätte, während nach dem Unfall eine Überlastungssymptomatik
des interspinalen Bandapparates der mittleren HWS überwiege.
21
Das Hüftleiden hätte nach Einsetzen des neuen Hüftgelenks nicht zu einer
Dienstunfähigkeit geführt.
22
Ihm sei aufgrund seiner unfallbedingt verminderten Bezüge ein Verdienstausfallschaden
entstanden, der auch in Zukunft weiter entstehe. Aufgrund der durch die vorzeitige
Versetzung in den Ruhestand verringerten Beihilfeleistung sei ihm ein weiterer Schaden
wegen nicht erstatteter Heilbehandlungskosten entstanden. Er habe deshalb auch eine
Krankenzusatzversicherung abschließen müssen, deren monatliche Kosten er ebenfalls
ersetzt verlangt.
23
Der Kläger hat beantragt,
24
die Beklagte zu verurteilen,
25
1.
26
an ihn verurteilen, an in angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit
dem 01.02.1994 zu zahlen;
27
2.
28
an ihn für die Zeit vom 01.01.1991 bis 30.09.1995 27.923,61 DM nebst 4 % Zinsen
seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
29
3.
30
an ihn ab dem 01.10.1995 eine vierteljährlich
31
vorauszahlbare monatliche Rente in Höhe von 1.710,51 DM,
32
ab dem 01.01.1996 eine vierteljährlich vorauszahlbare
33
monatliche Rente in Höhe von 1.579,84 DM,
34
ab dem 01.01.1998 eine vierteljährlich vorauszahlbare
35
monatliche Rente in Höhe von 2.004,84 DM,
36
ab dem 01.01.2000 eine vierteljährlich vorauszahlbare
37
monatliche Rente in Höhe von 2.495,18 DM
38
und ab dem 01.07.2006 eine vierteljährlich vorauszahlbare
39
monatliche Rente in Höhe von 1.498,15 DM bis an sein
40
Lebensende, jeweils im voraus zum 01.01., 01.04., 01.07.
41
und 01.10., einschließlich 4 % Zinsen seit
42
Rechtshängigkeit zu zahlen;
43
4.
44
an ihn 15.938,17 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit
45
sowie ab dem 01.03.1998 einen monatlich vorauszahlbaren
46
Betrag in Höhe von 286,05 DM zu zahlen.
47
Die Beklagte hat beantragt,
48
die Klage abzuweisen.
49
Sie hat behauptet, die auf das Fahrzeug des Klägers einwirken-
50
de Differenzgeschwindigkeit habe weniger als 5 km/h betragen. Sie hat in Frage
gestellt, ob die Halswirbelsäule des Klägers überhaupt eine traumatische
Beschleunigung erfahren habe und eine unfallbedingte Verletzung des Klägers
bestritten.
51
Sie hat weiterhin bestritten, daß der Kläger aufgrund unfall-
52
bedingter gesundheitlicher Beeinträchtigungen habe pensioniert werden müssen, und
hat behauptet, seine Beeinträchtigungen
53
seien auf degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule zurückzuführen. Aufgrund
seines Hüftleidens hätte der Kläger sowieso pensioniert werden müssen.
54
Das Landgericht hat nach Einholung von schriftlichen Gutachten der Sachverständigen
Prof. Dr. K.-F. T2 (Bl. 266 – 281 GA) und Prof. Dr. Q, H, (Bl. 352 a – 353 GA) sowie eines
interdisziplinäres Gutachten der Sachverständigen Dipl. Ing. u (Bl. 449 – 485 GA) und
Dr. med. M2 (Bl. 499 – 515 GA) die Klage abgewiesen. Es hat sich aufgrund der
eingeholten Gutachten nicht davon überzeugen können, daß der Kläger ein
Halswirbelschleudertrauma erlitten habe und daß die Beschwerden, unter denen er
heute leide, auf eine derartige Verletzung zurückzuführen seien. Es ist den Darlegungen
des Sachverständigen Dr. med. M2 gefolgt, daß aus keinem der überreichten
Privatgutachten oder seitens des Gerichtes eingeholter Gutachten sich ein gesicherter
unfallbedingter Körperschaden ergebe. Auch weitere Indizien führten nicht dazu, daß
das vom Kläger angegebene Beschwerdebild unfallmechanisch plausibel zu erklären
sei. Sowohl die von dem Sachverständigen Dipl. Ing. u ermittelte geringe
kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des klägerischen PKW von 5 – 9 km/h
als auch das Verhalten des Klägers nach dem Unfall und der anfängliche Verlauf seiner
Beschwerden würden gegen einen unfallbedingten Körperschaden sprechen. Die
Verursachung der nunmehr behaupteten Beschwerden durch den Unfall sei jedenfalls
nicht wahrscheinlicher als eine unfallunabhängige Entwicklung, insbesondere aufgrund
psychischer und degenerativer Prozesse.
55
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er unter Wiederholung
und Vertiefung seines früheren Vorbringens die früheren Klageanträge weiterverfolgt.
56
Er rügt die Beweiswürdigung des Landgerichts, das sich zu Unrecht auf das nach seiner
Meinung widersprüchliche Gutachten des Sachverständigen Dr. med. M2 gestützt habe.
Der Kläger behauptet, die Kollisionsgeschwindigkeit habe über 20 km/h betragen, auf
seinen Körper hätte eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von mindestens
15 km/h eingewirkt. Dies stehe nicht im Widerspruch zu den von dem Sachverständigen
Dipl. Ing. u herangezogenen Versuchsfahrzeugen, die deutlich geringere
Beschädigungen aufwiesen, als die verunfallten Fahrzeuge. Er beantragt insoweit die
Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens.
57
Das Gutachten des Sachverständigen Dr. M2 überzeuge nicht. Der Schluß des
58
Sachverständigen, die Kopfdrehung vor dem Unfall habe sich gefährdungsmindernd
ausgewirkt, sei falsch. Der Sachverständige habe die erhebliche Vorschädigung der
Halswirbelsäule übersehen. Es sei längst anerkannt, daß die HWS – Gefahr bei
degenerativen Vorschäden größer sei und eine geringere biomechanische Einwirkung
ausreiche, um den Vorgeschädigten zu verletzen.
Auch die übrigen Verletzungen würden eine Verletzung im Bereich der Halswirbelsäule
belegen. Der vorliegende Beschwerdeverlauf sei typisch für Zerrungen und
Stauchungen im Halswirbelbereich. Es sei im Anschluß an den Verkehrsunfall zu einem
richtungsändernden Verlauf des bisherigen Krankheitsbildes gekommen.
59
Er beantragt die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens.
60
Die Körperverletzung habe im Rahmen eines kontinuierlich verlaufenden Prozesses
letztlich zur Dienstunfähigkeit des Klägers geführt. Die Halswirbelsäulen-Distorsion sei
dabei mindestens mitursächlich gewesen.
61
Der Kläger beantragt,
62
das Urteil des Landgerichts abzuändern und die Beklagte zu verurteilen,
63
1.
64
an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem 01.02.1994
zu zahlen;
65
2.
66
an ihn für die Zeit vom 01.01.1991 bis 30.09.1995 27.923,61 DM nebst 4 % Zinsen
seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
67
68
3.
69
an ihn ab dem 01.10.1995 eine vierteljährlich vorauszahlbare monatliche Rente in
Höhe von 1.710,51 DM,
70
ab dem 01.01.1996 eine vierteljährlich vorauszahlbare monatliche Rente in Höhe
von 1.579,84 DM,
71
ab dem 01.01.1998 eine vierteljährlich vorauszahlbare monatliche Rente in Höhe
von 2.004,84 DM,
72
ab dem 01.01.2000 eine vierteljährlich vorauszahlbare monatliche Rente in Höhe
von 2.495,18 DM
73
und ab dem 01.07.2006 eine vierteljährlich vorauszahlbare monatliche Rente in
Höhe von 1.498,15 DM bis an sein Lebensende, jeweils im voraus zum 01.01.,
01.04., 01.07. und 01.10. einschließlich 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu
zahlen;
74
4.
75
an ihn 15.938,17 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit sowie ab dem
01.03.1998 einen monatlich vorauszahlbaren Betrag in Höhe von 286,05 DM zu
zahlen.
76
Die Beklagte beantragt,
77
1.
78
die Berufung zurückzuweisen,
79
2.
80
ihr gegebenenfalls zu gestatten, Sicherheit durch selbstschuldnerische Bürgschaft
einer Großbank, Genossenschaftsbank oder öffentlichen Sparkasse zu erbringen.
81
Sie verteidigt unter Wiederholung und Vertiefung ihres frühe-
82
ren Vorbringens das angefochtene Urteil. Sie bestreitet wei-
83
ter, daß der Kläger bei dem Verkehrsunfall eine Körperverletzung erlitten hat. Es gebe
keine Anhaltspunkte dafür, daß die von dem Sachverständigen Dipl. Ing. u ermittelte
Geschwindigkeitsänderung des Klägerfahrzeugs unzutreffend sei. Der Sachverständige
Dr. med. M2 habe die Vorschädigung der Halswirbelsäule keinesfalls übersehen. Er
habe eindeutig verneint, daß der Kläger bei dem Unfall eine Körperverletzung erlitten
habe. Es sei auch indiziell zu berücksichtigen, daß der Kläger erst mehrere Stunden
nach dem Unfall einen Arzt aufgesucht habe, da Körperverletzungen der behaupteten
Art mit sofortigen Beschwerden und Funktionseinbußen auftreten würden.
84
Die Beklagte bestreitet eine richtungsändernde Verschlimmerung der vorbestehenden
Gesundheitsschäden des Klägers durch den Unfall und dessen Ursächlichkeit für eine
Dienstunfähigkeit.
85
Wegen weiterer Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt
der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
86
Der Senat hat die Sachverständigen Dipl.-Ing. u, Prof. Dr. med. W, Dr. med. M2 und Dr.
med. P zur Erläuterung ihrer Gutachten vernommen.
87
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Vermerk der
Berichterstatterin zur Senatssitzung vom 03. September 1999 Bezug genommen.
88
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
89
Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
90
Das Landgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
91
Dem Kläger steht gegen die Beklagte aufgrund des Verkehrsunfalls vom 15.05.1990
92
weder ein Anspruch auf Schmerzensgeld gemäß §§ 847 Abs. 1 BGB, 3 Nr. 1 PflVG zu
noch kann er von ihr gemäß §§ 823 BGB, 7 Abs. 1 StVG Ersatz für Verdienstausfall und
Krankenversicherungsaufwendungen verlangen.
I.
93
Die geltend gemachten Schadensersatzansprüche aus §§ 823, 847 BGB, 7 StVG
setzen voraus, daß der Kläger durch den Verkehrsunfall eine Körperverletzung erlitten
hat.
94
Es obliegt nach den allgemeinen Beweisregeln dem Kläger als Anspruchsteller, diesen
Nachweis zu erbringen. Da es sich hierbei um eine Voraussetzung des
Haftungsgrundes handelt, muß der Kläger den Vollbeweis im Sinne von § 286 ZPO
führen, daß er bei dem Verkehrsunfall überhaupt körperlich verletzt worden ist (vgl.
Zöller/Greger, § 287, Rz. 3 m.w.N; Baumbach-Lauterbach/Hartmann § 287 Rz 11; vgl.
auch Lemcke, NZV 1996, 337, 338).
95
II.
96
Diesen Beweis hat der Kläger nicht erbracht.
97
Der Senat hat nach umfassender Würdigung der in beiden Rechtszügen erstatteten und
erläuterten Sachverständigengutachten keine hinreichend sicheren Feststellungen zu
einer durch den Unfall vom 15.05.1990 verursachten Körperverletzung des Klägers
treffen können.
98
1.
99
Die Sachverständigen sind in ihren Gutachten zu folgenden Ergebnissen gelangt:
100
a.
101
Der Sachverständige Dipl.-Ing. u hat zur Ermittlung der
102
bei dem Unfall auf den Körper des Klägers einwirkenden kolli-
103
sionsbedingten Geschwindigkeitsänderung einen Versuch mit bauartgleichen
Fahrzeugen durchgeführt und die Beschleunigungsdaten am Körper des
Versuchsfahrers gemessen. Der im Versuch eingesetzte Audi 90 sei korrosionsfrei
gewesen. Der VW Golf I sei mit 17,5 km/h auf den stehenden Audi 90 aufgefahren. Bei
dem im Versuch benutzten Audi 90 habe sich das gleiche Beschädigungsbild ergeben
wie bei dem Unfallfahrzeug. Die Spuren beim Versuchsfahrzeug seien allerdings
deutlich stärker gewesen. Die Stoßfängerspur am klägerischen Fahrzeug habe rechts
unten abrupt geendet, demgegenüber sei die Eindringtiefe beim Versuchsfahrzeug
deutlich ausgeprägter gewesen. Daraus folge, daß auf das klägerische Fahrzeug mit
einer geringeren Geschwindigkeit, maximal 12 – 14 km/h, eingewirkt worden sei. Auch
der beim Versuch benutzte VW Golf habe ein ähnliches Beschädigungsbild
aufgewiesen wie der verunfallte Wagen. Ob der Scheinwerfer – wie beim Unfall –
beschädigt werde oder – wie beim Versuch – nicht, sei Zufall und lasse keine weiteren
Rückschlüsse zu. Die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung habe beim
Versuch 8,2 km/h betragen. Dies sei eine relativ harmlose Geschwindigkeitsänderung.
104
Die Kopfschleuderung sei beim Versuch mit bis zu 6 g erfolgt. Ein solcher Wert werde
bei Belastungen im Alltag durchaus überschritten. Wenn sich beispielsweise eine
Person aus dem Sitzen heraus auf eine Matratze fallen lasse, wirkten 8 – 9 g auf den
Kopf ein. Ähnliche Werte würden erzielt, wenn man sich rückwärts in einen Stuhl fallen
lasse oder einen Rempler in der Fußgängerzone erleide. Da die
Kollisionsgeschwindigkeit beim Unfall einen niedrigeren Wert aufgewiesen habe, sei
auch die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung geringer gewesen. Sie habe um
6 km/h gelegen.
b.
105
Der Sachverständige Dr. med. P ist zusammen mit dem Sachverständigen Prof. Dr. Q in
seinem schriftlichen Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger durch den
Unfall ein HWS - Schleudertrauma erlitten hat. Es habe ein Accelerationstrauma sowie
eine seitliche Distorsion bei zum Zeitpunkt des Unfallereignisses nach rechts gedrehtem
Kopf vorgelegen. Hierdurch sei es zu einer traumatischen Gefügestörung im
Bewegungssegment C5/C6 mit entsprechendem posttraumatischen radiologisch
nachweisbarem osteochondrotischen Umbau im Bewegungssegment C5/C6 sowie zu
einer klinischen traumatisch bedingten C6- und C7-Symptomatik rechts mit
entsprechenden radikulären Schmerzen und neurologischen Ausfällen gekommen.
Zwar habe vermutlich nur eine geringe Aufprallgeschwindigkeit vorgelegen. Der
Verletzungsmechanismus sei aber aufgrund der zusätzlichen seitlichen Distorsion
schwerer zu beurteilen als bei einem reinen Accelerationstrauma. Aus der Beurteilung
der radiologischen Zusatzdiagnostik ergebe sich, daß auf den Röntgenbildern aus den
Jahren 1979/1986 nur relativ geringfügige Veränderungen im Segment C5/6 vorhanden
gewesen seien. Der nach dem Unfall ausschließlich im Segment C5/C6 erfolgte
osteochondrotische Umbau spreche dafür, daß es im Rahmen des Unfalls zu einer
posttraumatischen Gefügestörung des Bewegungssegments C5/C6 im Sinne einer
traumatischen HWS-Schädigung gekommen sein.
106
Zwar hätten auch vor dem Unfall HWS-Beschwerden bestanden. Es habe aber eine
vorwiegend cerviko-occipitale Symptomatik mit biomechanischer Störung im Bereich
der Kopfgelenke vorgelegen. Eine radikuläre Symptomatik aufgrund degenerativer
Veränderungen im Bereich der mittleren und unteren HWS habe nicht bestanden.
107
Bei der klinischen Untersuchung seien auch neurologische Ausfälle, eine Parese der
Fingerbeugungsmuskulatur und der Handgelenksmuskulatur sowie
Sensibilitätsstörungen im Bereich C6/C7, festgestellt worden.
108
Der Sachverständige Dr. med. P hat eingeräumt, daß die durch die
kernspintomographischen Untersuchungen festgestellten Veränderungen des
Bandscheibensegments C5/C6 keine eindeutige Ursache erkennen lassen. Es könne
sich um degenerative oder unfallabhängige Veränderungen handeln.
109
Das klinische Beschwerdebild habe sich aber durch den Unfall geändert. Es liege nach
dem Unfall das klinische Bild einer Nervenwurzelschädigung vor.
110
c.
111
Der Sachverständige Prof. Dr. med. W ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis
gekommen, der Kläger habe eine nunmehr folgenlos ausgeheilte Distorsion der
112
Halswirbelsäule erlitten bei Zustand nach leichtgradigem Schleudertrauma. Noch
bestehende Beschwerden seien auf anlagebedingte Veränderungen zurückzuführen. Im
Hinblick auf den unmittelbaren Verlauf nach dem Unfall, die Diagnostik der
behandelnden Ärzte und die Feststellungen des Sachverständigen u zur
kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung würden nur die Nackenschmerzen am
Unfalltag für eine Verletzung des Klägers sprechen. Der behandelnde Arzt habe eine
Muskelverspannung festgestellt. Der Umstand, daß er keine Röntgenbilder gefertigt
habe, sei ein Indiz dafür, daß es sich um leichtgradige Beschwerden gehandelt habe.
Diese Verhärtung entspreche einer leichtgradigen Distorsion. Ein Nachweis sei nicht
möglich. Es gebe nur eine verletzungstypische Symptomatik.
Die röntgenologische Untersuchung der HWS vor dem Unfall habe deutliche
degenerative Veränderungen gezeigt, die auch nach dem Unfall nachweisbar seien. Es
hätten sich auf sämtlichen röntgenologischen Untersuchungen nach dem Unfall keine
deutlichen Anzeichen von traumatischen Veränderungen gefunden. Wie vom Kläger
selbst angegeben, habe er bei dem Unfall ein Schleudertrauma erlitten. Die
Begutachtung gestalte sich bei Verletzungen der Halswirbelsäule dadurch schwierig,
daß wenigen objektiven Befunden häufig multiple subjektive Beschwerden
gegenüberstünden. Bei leichten Distorsionen der Halswirbelsäule fehlten objektive
Kriterien.
113
Im Hinblick auf die Vorschädigung der Halswirbelsäule des Klägers habe die
Schleuderverletzung eine vorübergehende, nicht richtunggebende, zeitlich abgrenzbare
Verschlimmerung des unfallunabhängigen Leidens hervorgerufen. Die Vorschädigung
habe sich nicht dahingehend ausgewirkt, daß das zu einer (weiteren) Schädigung
erforderliche Maß der Einwirkung sich verringere. Eine vorgeschädigte Wirbelsäule
brauche nicht weniger Einwirkung als eine gesunde.
114
Beim Kläger seien lediglich verschleißbedingte und nicht posttraumatische
Veränderungen im Segment C4/5 und C5/6 vorhanden. Eine unfallbedingte
Veränderung hätte in beiden Etagen stattfinden müssen.
115
Es gebe keine wissenschaftlichen Untersuchungen, ob die Kopfhaltung Einfluß auf
mögliche Verletzungen habe. Nach seiner Ansicht müsse die Wirbelsäule durch ein
Drehen des Kopfes nicht unbedingt verletzungsanfälliger werden, da sie sich verblocke.
116
d.
117
Der Sachverständige Dr. med. M2 ist zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger bei dem
Verkehrsunfall keine behandlungsbedürftige Verletzung erlitten habe.
118
Er begründet dies damit, daß es kein gesichertes unfallbedingtes morphologisches
Substrat gebe. Die von Dr. T3 festgestellte wirbelsäulenbegleitete Verspannung der
Nackenmuskulatur könne viele Ursachen haben. Sie sei weder verletzungstypisch noch
-spezifisch. Im gesamten Bevölkerungsquerschnitt gebe es Muskelverspannungen, die
haltungsbedingt oder psychisch bedingt sein könnten.
119
Bei der Heckkollision werde die Hals- und nicht die Nackenmuskulatur beansprucht. Da
von einer unfallbedingten direkten Verletzung der Nackenmuskulatur nicht auszugehen
sei, könne die Muskelanspannung hier nur Folge eines Primärschadens gewesen sein,
aufgrund dessen die Muskeln durch Anspannung versuchten, einen verletzten Bereich
120
still und damit möglichst schmerzfrei zu halten. Eine solche unfallbedingte
Primärverletzung lasse sich aber nicht feststellen. Auch die durch Dr. med. P
dargestellten Befunde ließen keine objektiven Anhaltspunkte für unfallbedingte
Beschwerden erkennen. Ein Nervenschaden sei nicht objektiv festgestellt worden.
Kraftentfaltung und Gefühlsstörung seien subjektiv bestimmt. Elektrophysische
Untersuchungen seien ohne Befund geblieben. Die kernspintomographischen
Untersuchungen würden keinen Schaden des Rückenmarks oder der Nerven
dokumentieren, sondern lediglich feststellen, ob das Rückenmark oder die Nerven durch
umgebende Strukturen bedrängt werden.
Das vom Kläger angegebene Beschwerdebild sei auch unter Berücksichtigung
gesicherter traumatologischer Erfahrung aufgrund weiterer Indizien unfallmechanisch
plausibel nicht zu erklären.
121
Die Halswirbelsäule sei bei der geringen Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit nicht
nennenswert gefährdet gewesen. Bei dieser sehr sehr geringen Gefährdung sei die
Gefahr einer morphologischen Verletzung praktisch null gewesen. Eine
Segmentlockerung an der Halswirbelsäule sei eine schwere Verletzung, die im
Regelverlauf sofortige Beschwerden verursache. Das Verhalten des Klägers nach dem
Unfall spreche ebenso wie die Diagnostik und Behandlung von Dr. T3 aber für eine
allenfalls harmlose Verletzung.
122
Die peripheren Nervenversorgungsstörungen seien nach den vorliegenden Attesten
weder gegenüber Dr. T3 noch gegenüber Dr. C geklagt worden.
123
Die Kopfhaltung während des Unfalls spiele aus unfallmechanischer Sicht keine Rolle.
Die Verletzungsgefahr sei, ob der Kopf gedreht werde oder nicht, gleich groß.
124
Bei einer Vorschädigung könne das Beschwerdebild anders ablaufen, als bei einer
altersgerechten Bandscheibe, verletzungsanfälliger sei eine vorgeschädigte
Halswirbelsäule nicht.
125
2.
126
Die medizinischen Sachverständigen sind damit zu konträren Ergebnissen gekommen.
127
Die Ausführungen des Sachverständigen Dr. med. P sind ebensowenig wie die
diesbezüglichen Erläuterungen des Sachverständigen Prof. Dr. med. W geeignet, dem
Senat eine sichere Überzeugung dahingehend zu vermitteln, daß der Kläger eine
unfallbedingte Verletzung erlitten hat. Durch das Gutachten des Sachverständigen Dr.
med. M2 werden ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen der
Sachverständigen Dr. med. P und Prof. Dr. med. W begründet.
128
a.
129
Sowohl der Sachverständige Prof. Dr. med. W als auch der Sachverständige Dr. med. P
haben in ihren einige Jahre nach dem Unfall erstellten Gutachten die vom Kläger
geklagten und mit dem Unfall begründeten Beschwerden als zutreffend unterstellt. Der
Sachverständige Prof. Dr. med. W stützt hierauf im wesentlichen seine Diagnose. Auch
der Sachverständige Dr. med. T2 geht in seinem Gutachten wie auch die übrigen, den
Kläger behandelnden, Mediziner offenbar von den Angaben und Schlußfolgerungen
130
des Klägers aus, die als feststehend zu Grunde gelegt werden.
Damit werden die Sachverständigen ihrer Aufgabe als Gutachter nicht gerecht. Die vom
Kläger auf den Unfall zurückgeführten Beschwerden lassen - gerade im Hinblick auf
seine Vorschädigung nicht den zwingenden Schluß zu, daß eine unfallbedingte
Körperverletzung vorliegt. Es wäre vielmehr erforderlich, objektive Umstände oder
Indizien festzustellen, die eine durch den Unfall erlittene Verletzung plausibel und
nachvollziehbar erscheinen lassen.
131
b.
132
Der Sachverständige Dr. med. M2 hat überzeugend dargelegt, daß keine gesicherten
medizinischen Befunde für eine unfallbedingte Verletzung des Klägers vorliegen.
133
aa.
134
Soweit durch den erstbehandelnden Arzt, Dr. T3, eine starke Verspannung der Nacken-
und paravertebralen Muskulatur diagnostiziert wurde und der Sachverständige Prof. Dr.
med. W deshalb eine leichtgradige Schädigung für möglich gehalten hat, beweist dies
keine unfallbedingte Körperverletzung. Der Sachverständige Dr. med. M2 hat
nachvollziehbar ausgeführt, daß im gesamten Bevölkerungsquerschnitt Nacken- und
Schulterverspannungen feststellbar sind, die unterschiedliche, nicht nur unfallbedingte
Ursachen haben können. Da es bei der hier vorliegenden Heckkollision eher zu einer
Verspannung der Hals- als der Nackenmuskulatur kommt und auf die
Nackenmuskulatur auch nicht in sonstiger Weise eingewirkt wurde, ist sie als direkte
Unfallfolge unwahrscheinlich. Eine Verspannung des Nackens wäre daher allenfalls als
Reaktion auf eine Primärverletzung erklärbar. Es ist jedoch keine Verletzung festgestellt
worden. Daher ist davon auszugehen, daß die Nackenverspannung nicht aufgrund des
Unfalls, sondern durch eine falsche Haltung oder psychisch bedingt verursacht wurde.
135
bb.
136
Weitere gesicherte Befunde sind nicht vorhanden.
137
Es läßt sich nicht feststellen, daß die diagnostizierten Veränderungen des
Bandscheibensegments C5/C6 Folge des Verkehrsunfalls vom 15.05.1990 sind.
138
Der Sachverständige Dr. med. P hat im Senatstermin selbst eingeräumt, daß die durch
die kernspintomographischen Untersuchungen vom 11.02.1992 und 07.05.1992
festgestellten Veränderungen keinerlei Ursächlichkeit erkennen lassen. Es kann sich
um degenerative oder unfallbedingte Veränderungen handeln.
139
Zwar stützt der Sachverständige seine These einer durch den
140
Unfall verursachten Veränderung im wesentlichen darauf, daß vor dem 15.05.1990
keine Veränderungen des Segments C5/C6 vorhanden gewesen seien, der Kläger nach
dem Unfall über radiku-
141
läre Schmerzen mit Ausstrahlung von der Halswirbelsäule in den rechten Arm und
einige Finger geklagt habe und sich nunmehr das klinische Bild einer
Nervenwurzelschädigung finde.
142
Diese Argumentation überzeugt den Senat jedoch nicht.
143
Sowohl der Sachverständige Dr. med. M2 als l. auch der Sachverständige Prof. Dr. med.
W haben erklärt, daß die Segmentveränderung nicht unfallbedingt ist.
144
Der Sachverständige Prof. Dr. med. W stützt seine Meinung darauf, daß der Schaden
schon 1990 vor dem Unfall vorhanden war und im weiteren Verlauf zugenommen hat.
Es gab keinen Knick im Verlauf und keine drastische Zunahme. Ausweislich des
Röntgenbildes vom 29.12.1992 wurden in den Segmenten C4/C5 und C5/C6
degenerative Veränderungen unterschiedlichen Grades festgestellt (Bl. 417 f. d.A.).
Wenn es sich um eine unfallbedingte Folge gehandelt hätte, hätten sich beide
Segmente in gleichem Maße verändert haben müssen.
145
Die von Dr. med. P gestellte Diagnose wird von ihm mit klinischen Untersuchungen
begründet. Diese gründen sich jedoch worauf der Sachverständige Dr. med. M2 zu
Recht hingewiesen hat allein auf subjektive Faktoren. Soweit der Sachverständige Dr.
med. P eine Parese der Fingerbeugungsmuskulatur und der Handgelenksmuskulatur
festgestellt hat, beruht dies auf den Empfindungen des Untersuchten. In diesem
Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, daß der Kläger periphere
Nervenversorgungsstörungen ausweislich der ausgestellten Atteste weder gegenüber
dem erstbehandelnden Arzt, Herrn Dr. T3 (Bl. 20 f GA) noch gegenüber Herrn Dr. C
(Bl. 24 ff GA), der den Kläger am 27.07.1990, 09.08.1990 und 06.09.1990 behandelt hat,
geklagt hat. Die Ärzte haben offensichtlich auch keine Veranlassung gesehen, eine
elektrophysiologische Untersuchung, mit deren Hilfe eine derartige Störung zu
objektivieren gewesen wäre, durchzuführen. Eine später im Jahre 1992 in der
Neurochirurgie des Gemeinnützigen Gemeinschaftskrankenhauses I durchgeführte
elektrophysiologische Untersuchung war ohne Befund (Bl. 22, 23 GA). Objektive
Feststellungen, die die Diagnose von Dr. med. P stützen würden, liegen daher nicht vor.
146
c.
147
Die von dem Kläger nach dem Unfall eklagten Beschwerden lassen sich plausibel
durch seine Vorschädigungen und den weiteren Verlauf eines degenerativen Prozesses
erklären.
148
aa.
149
Er wurde seit 15 Jahren wegen Problemen an der Lendenwirbelsäule behandelt. Die
Halswirbelsäule ist nach Angaben der Sachverständigen Dr. med. P und Dr. med. M2 in
den Jahren 1979/1986 röntgenologisch festgehalten worden. Da ein Anlaß für eine
derartige Untersuchung bestanden haben muß, legt dies zumindest den Schluß nahe,
daß in diesem Bereich bereits zu diesem Zeitpunkt Beschwerden aufgetreten sind.
150
Der Kläger war wegen eines Wirbelsäulenleidens, auch der HWS, das seit Jahren
bestand, bei Herrn Dr. T3 in Behandlung (Bl. 21 GA). Durch Dr. C wurde der Kläger
mehrmals wegen Nackenschmerzen, zuletzt im Februar 1990, behandelt (Bl. 26 GA).
Am 17. Januar 1990 wurde eine weitere Aufnahme der Halswirbelsäule angefertigt.
151
bb.
152
Auch stellen alle Sachverständigen im Ergebnis fest, daß vor dem Unfall bereits
Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule aufgetreten sind.
153
(1)
154
Zwar geht der Sachverständige Dr. med. P davon aus, daß erst nach dem Unfall
erstmals über Beschwerden im Arm geklagt wurde. Wie bereits oben ausgeführt, sind
diese Beschwerden aber weder von Herrn Dr. T3 noch von Herrn Dr. C attestiert. Es läßt
sich daher nicht feststellen, daß die vorgetragenen Beschwerden im Arm bereits in
zeitlichem Zusammenhang zum Unfall geäußert wurden.
155
(2)
156
Daß der Sachverständige Dr. med. P in den röntgenologischen Untersuchungen vor
dem Unfall keine deutlich degenerativen Veränderungen festgestellt hat, schließt einen
solchen Verlauf nicht aus.
157
Der Sachverständige stützt sich hierbei auf die Röntgenaufnahmen aus den Jahren
1979/1986, die also 11 bzw. 4 Jahre vor dem Unfall gefertigt worden sind. Auf dem
Röntgenbild vom 28.08.1990 stellt er selbst leichte degenerative Veränderungen fest.
158
Das Röntgenbild vom 17.01.1990, das nach Angaben des Sachverständigen Dr. med.
M2 Verknöcherungen des vorderen Längsbandes in Höhe des Segments C4/C5 sowie
eine leichte Höhenminderung des Segments C5/C6 mit vorderen knöchernen
Kantenausziehungen und nach den Angaben von Prof. Dr. med. W degenerative
Veränderungen erkennen läßt, wurde von dem Sachverständigen Dr. med. P nicht in die
Begutachtung einbezogen.
159
Prof. Dr. med. W stellt darüber hinaus im Hinblick auf die Röntgenbilder der HWS vom
27.07.1990, 04.05.1992 und 29.12.1992 nach wie vor degenerative Veränderungen fest.
Es finden sich nach seiner Beurteilung keine deutlichen Zeichen von traumatischen
Schäden, vielmehr liegt eine ganz normale Weiterentwicklung eines
Verschleißprozesses vor.
160
d.
161
Auch alle weiteren Indizien sprechen gegen eine durch den Unfall verursachte
Verletzung des Klägers.
162
aa.
163
Die auf den Körper des Klägers einwirkende kollisionsbedingte
Geschwindigkeitsänderung war äußerst gering.
164
(1)
165
Der Senat geht aufgrund der überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dipl.-
Ing. U von einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von 6 km/h aus. Der
Sachverständige hat den Aufprall des VW Golf auf das klägerische Fahrzeug mit
bauartgleichen Fahrzeugen nachgestellt und die sich für den Fahrer des Audi
ergebenden Beschleunigungsdaten gemessen. Daß die im Versuch gefahrene
166
Kollisionsgeschwindigkeit von 17,5 km/h höher lag, als die bei dem Unfall gegebene,
ergibt sich aus dem Vergleich der Schäden am klägerischen und an dem beim Versuch
benutzten Fahrzeug. Die vorgefundenen Beschädigungen im Heckbereich des
Versuchsfahrzeugs sind deutlich stärker als die des klägerischen Fahrzeugs. Daraus
folgt nach den Darlegungen des Sachverständigen u, daß der Golf mit einer
Kollisionsgeschwindigkeit von 12 – 14 km/h auf das klägerische Fahrzeug aufgefahren
ist. Bei dem Versuch wurde die auf den Fahrer des Audi einwirkende kollisionsbedingte
Geschwindigkeitsänderung mit 8,2 km/h ermittelt. Unter Berücksichtigung der
geringeren Kollisionsgeschwindigkeit beim Unfall ist diese niedriger anzusetzen.
(2)
167
Alle Sachverständigen sind sich dahingehend einig, daß die auf den Körper des
Klägers einwirkende Geschwindigkeitsänderung allenfalls als relativ gering anzusetzen
ist.
168
Der Sachverständige Dr. med. P hat eingeräumt, daß die Belastung der Wirbelsäule
äußerst gering war. Für Prof. Dr. med. W stellt die festgestellte
Geschwindigkeitsänderung kein Indiz für einen Unfall dar. Dr. med. M2 geht aufgrund
einer sehr geringen Gefährdung davon aus, daß die Gefahr einer morphologischen
Verletzung praktisch nicht bestehe.
169
Der Sachverständige u hat darüber hinaus darauf hingewiesen, daß es im Alltag zu
erheblich höheren Belastungen kommt, wenn man sich beispielsweise rückwärts in
einen Stuhl fallen läßt.
170
(3)
171
Es läßt sich auch nicht feststellen, daß aufgrund einer Kopfdrehung des Klägers bereits
eine geringe kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung ausgereicht hätte, um eine
Verletzung zu verursachen.
172
Zwar geht der Sachverständige Dr. med. P davon aus, daß es bei dem Unfall aufgrund
des nach rechts gedrehten Kopfes neben einem reinen Accelerationstrauma auch
zusätzlich zu einer seitlichen Distorsion gekommen ist. Deshalb sei der
Verletzungsmechanismus schwerer zu beurteilen. Warum sich die Kopfhaltung
ausgewirkt haben soll und wodurch eine seitliche Distorsion belegt wird, hat er nicht
dargelegt.
173
Demgegenüber hat Prof. Dr. med. W darauf hingewiesen, daß ihm keine
wissenschaftlichen Untersuchungen im Hinblick auf den Einfluß der Kopfhaltung
bekannt sind. Er geht davon aus, daß sich die durch das Drehen des Kopfes
verursachte Anspannung eher positiv als negativ auswirkt. Der Sachverständige
Dr. med. M2 hat ausgeführt, daß die Kopfhaltung aus unfallmechanischer Sicht
unerheblich ist. Die Verletzungsgefahr ist demnach bei gedrehtem Kopf genauso groß
wie bei nicht gedrehtem Kopf. Diese Ansicht wird durch die Ergebnisse der vom
Sachverständigen u in Zusammenarbeit mit der Universität N2 durchgeführten Versuche
mit gedrehter Kopfhaltung gestützt. Danach sind für den hier in Betracht kommenden
Geschwindigkeitsbereich keine Veränderungen feststellbar.
174
(4)
175
Es ergeben sich auch im Hinblick auf die Vorschädigung der Halswirbelsäule des
Klägers keine geringeren Anforderungen an die Belastungen, die auf sie eingewirkt
haben müßten, um eine unfallbedingte Verletzung zu erreichen.
176
Prof. Dr. med. W und Dr. med. M2 haben übereinstimmend und überzeugend erklärt,
daß eine vorgeschädigte Wirbelsäule nicht verletzungsanfälliger ist. Zu einer
Schädigung ist dieselbe Einwirkung erforderlich, wie bei einer gesunden Wirbelsäule.
Die Vorverletzung spielt lediglich eine Rolle für die Intensität und Dauer der
Beschwerden. Zudem ist nach den Ausführungen des Sachverständigen M2 davon
auszugehen, daß die Muskulatur des Klägers gefährdungsmindernd dadurch, daß er vor
dem Anstoß an seinem Fahrzeug bereits den ersten Anstoß gehört hatte, reflektorisch
gespannt war.
177
bb.
178
Gegen einen unfallbedingten Körperschaden sprechen weiterhin das Verhalten des
Klägers nach dem Unfall und der anfängliche Verlauf. Der Kläger hat nach eigenen
Angaben sein Fahrzeug eigentätig verlassen und sich am Unfallort zielgerichtet
verhalten. Er hat die Unfallstelle mit seinem eigenen Fahrzeug verlassen und fuhr selbst
zu seinem Arzt. Ausweislich des Attestes kam er erst einige Stunden nach dem Vorfall
in die Praxis. Die Sachverständigen Prof. Dr. med. W und Dr. med. M2 gehen
übereinstimmend davon aus, daß diese Umstände zumindest den Rückschluß
zulassen, daß keine schwerwiegende Verletzung vorgelegen haben kann. Der
Sachverständige Dr. med. M2 hat - weitergehend - überzeugend dargelegt, daß es
gesicherter traumatischer Erfahrung entspricht, daß ein unfallbedingter Körperschaden
sofort mit Beschwerden und Funktionseinbußen einhergeht. Hier ist auch zu
berücksichtigen, daß der erstbehandelnde Arzt zunächst keinen Anlaß gesehen hat, ein
Röntgenbild zu fertigen.
179
Auch der weitere Krankheitsverlauf spricht gegen eine unfallbedingte Verletzung. Der
Sachverständige Dr. med. M2 hat dargelegt, daß es gesicherter traumatologischer
Erfahrung und gesicherter Lebenserfahrung entspricht, daß ein unfallbedingter
Körperschaden mit einem Decrescendo einhergeht und nicht mit einem über Jahre
bestehenden gleichbleibenden bzw. sich ausweitenden Beschwerdebild.
180
3.
181
Der Senat hatte weder von Amts wegen noch aufgrund der Anträge des Klägers Anlaß,
weitere Sachverständigengutachten einzuholen.
182
Der Sachverständige u hat überzeugend und widerspruchsfrei dargelegt, wie er die
Aufprallgeschwindigkeit und die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung ermittelt
hat.
183
Auch im Hinblick auf die sich zum Teil widersprechenden medizinischen Gutachten war
die Einholung eines weiteren (Ober)Gut-achtens nicht erforderlich, da keine
erfolgversprechende weitere Aufklärungsmöglichkeit bestand (vgl. BGH Vers R 1980,
533).
184
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
185
III.
186
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
187