Urteil des OLG Hamm vom 04.05.2010

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Oberlandesgericht Hamm, III-2 RBs 35/10
Datum:
04.05.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
III-2 RBs 35/10
Vorinstanz:
Amtsgericht Schwelm, 60 OWi - 764 Js 696/09 - 281/09
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den
dazugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde,
an das Amtsgericht Schwelm zurückverwiesen.
Gründe:
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I.
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Das Amtsgericht Schwelm hat den Betroffenen durch Urteil vom 21. Dezember 2009
wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer
Geldbuße in Höhe von 160,00 € verurteilt und ein Fahrverbot für die Dauer von einem
Monat angeordnet.
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Das Amtsgericht hat hierzu folgende Feststellungen getroffen:
4
"I.
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Zu der Person des Betroffenen sind im Verkehrszentralregister bislang keine
Eintragungen verzeichnet.
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II.
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Der Betroffene befuhr am 09.05.2009 gegen 17.17 Uhr in I die T-Straße als Führer
des Fahrzeugs VW mit dem amtlichen Kennzeichen ####### mit einer
Geschwindigkeit von 116 km/h (nach Abzug der Toleranz). Hierdurch überschritt er
die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit um 46 km/h.
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Im Messbereich ist die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf 70 km/h begrenzt, bevor
die erlaubte Geschwindigkeit auf 50 km/h herabgesetzt wird.
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Die Geschwindigkeit des Betroffenen wurde mittels des Messgerätes ProVida,
eingebaut in ein Motorrad, gemessen.
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Unter Zugrundelegung des Wegstreckenzählers und der in dieser Zeit gemachten
Einzelbilder befuhr der Betroffene die Strecke mit einer Geschwindigkeit von 123,8
km/h. Wegen der Einzelheiten der Berechnung wird auf Bl. 5 d. A. verwiesen.
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Nach Abzug der Toleranz für etwaige Fehlerquellen bei diesem Messverfahren, die
für dieses Messverfahren bei Geschwindigkeiten von über 100 km/h bei 5 % liegt,
ergibt dies eine Netto-Geschwindigkeit von 116 km/h."
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Die Rechtsfolgen hat das Amtsgericht wie folgt begründet:
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"V.
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Bei der Rechtsfolgenbemessung ist das Gericht von den Regelsätzen der
Bußgeldverordnung ausgegangen. Diese sieht für eine außerhalb geschlossener
Ortschaft mit einem Pkw begangene Geschwindigkeitsüberschreitung von 46 km/h
eine Geldbuße von 160 Euro, sowie ein Regelfahrverbot von 1 Monat vor. Unter
Berücksichtigung der §§ 25 Abs. 2a StVG und 4 Abs. 1 BkatV war dem Betroffenen
eine Abgabefrist von vier Monaten zu gewähren.
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Im Übrigen hatte das Gericht vorliegend keine Veranlassung von dem Fahrverbot
abzusehen unter Erhöhung der Geldbuße. Zwar behauptete der Betroffene im
Hauptverhandlungstermin aus beruflichen Gründen auf den Führerschein
angewiesen zu sein. Belegt oder gar bewiesen wurde dies zu diesem Zeitpunkt
jedoch nicht. Auch ein entsprechender Beweisantrag wurde nicht gestellt."
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Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die mit der
Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet worden ist.
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II.
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Die gem. § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und im Übrigen zulässige
Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache einen teilweisen und zumindest auch
vorläufigen Erfolg.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu folgendes ausgeführt:
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"Das Rechtsmittel ist zulässig, erweist sich, soweit es sich gegen den
Schuldspruch richtet, jedoch als unbegründet.
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Die Verfahrensrüge der Verletzung des § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG durch die
Ablehnung des auf Einholung eines Sachverständigengutachtens gerichteten
Beweisantrags als verspätet ist unzulässig. Nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO ist eine
Verfahrensrüge nur dann in zulässiger Weise erhoben, wenn "die den Mangel
enthaltenen Tatsachen angegeben" sind. Diese Angaben haben mit Bestimmtheit
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und so genau und vollständig zu erfolgen, dass das Rechtsbeschwerdegericht
allein aufgrund der Rechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensverstoß
vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen zutreffen (zu vgl. BGH, NStZ 2001, 425).
Diesen Anforderungen wird die Rechtsbeschwerdebegründung nicht gerecht. Der
Beschwerdeschrift lässt sich nämlich nicht entnehmen, zu welchem Zeitpunkt die
Einholung eines Sachverständigengutachtens möglich gewesen wäre. Es kann
daher auf Grundlage des Beschwerdevorbringens nicht überprüft werden, ob das
Amtsgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass die Beweiserhebung zu einer
Aussetzung der Verhandlung geführt hätte.
Ungeachtet dessen bleibt Folgendes anzumerken: Der Ablehnungsgrund der
verspäteten Antragstellung gem. § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG setzt außerdem voraus,
dass die beantragte Beweiserhebung zu einer Aussetzung der Hauptverhandlung
führen müsste. Darunter ist nur die Aussetzung nach § 228 StPO mit der Folge,
dass die Hauptverhandlung neu durchgeführt werden muss, nicht aber auch eine
Unterbrechung der Hauptverhandlung i. S. von § 229 StPO gemeint (zu vgl. Göhler,
OWiG, 15. Auflg., Rdnr. 20 zu § 77 m. w. N.). Der Richter muss sich deshalb vor der
auf § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG gestützten Ablehnung eines Beweisantrages
Gewissheit darüber verschaffen, ob die Hauptverhandlung mit der beantragten
Beweiserhebung innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO fortgeführt werden
kann. Ohne eine solche Prüfung, die sich vorliegend weder aus dem
Hauptverhandlungsprotokoll noch aus den Urteilsgründen ergibt, hätte der
Beweisantrag des Betroffenen nicht gem. § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG zurückgewiesen
werden dürfen (zu vgl. Senatsbeschluss in NZV 2008, 160).
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Die Rüge der Verletzung des § 261 StPO ist unbegründet. Die vom Amtsgericht
getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen
fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Die
Geschwindigkeitsermittlung auf der Grundlage des vorliegend verwendeten
ProVida-Systems ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung als sogenanntes
standardisiertes Messverfahren im Sinne der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs anerkannt (zu vgl. OLG Hamm, NZV 2001, 90). Daher genügt
der Tatrichter den Mindestanforderungen, die an die Feststellungen des Urteils zu
stellen sind, wenn er die Art des angewandten Messverfahrens und die nach
Abzug der Messtoleranz ermittelte Geschwindigkeit angibt. Dem werden die
Ausführungen der Tatrichterin, die mitgeteilt hat, dass die Geschwindigkeit mit
einem Messfahrzeug unter Verwendung einer Videokamera des Typs ProVida
durch Nachfahren ermittelt und von dieser Geschwindigkeit ein Toleranzwert in
Höhe von 5 % abgezogen worden ist, gerecht. Bei einer Messung nach dem
ProVida-System, das gerade darauf ausgerichtet ist, in kurzen Zeiträumen
Geschwindigkeiten zu messen, ist es, um möglichen Fehlern Rechnung zu tragen,
ausreichend, wenn bei Fehlen besonderer Umstände ein Toleranzwert von 5 % der
ermittelten Geschwindigkeit bei Werten über 100 km/h berücksichtigt wird (zu vgl.
Senatsbeschlüsse vom 01.09.2009 – 2 Ss OWi 707/08 – und vom 22.09.2003 – 2
Ss OWi 518/03 – jeweils m. w. N.).
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Der Rechtsfolgenausspruch hält dagegen einer rechtlichen Nachprüfung nicht
stand.
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Die Feststellungen des Amtsgerichts zur Anordnung des Fahrverbotes ermöglichen
es dem Rechtsbeschwerdegericht nicht zu überprüfen, ob die getroffene
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Entscheidung rechtsfehlerfrei ist oder nicht. Zwar reicht – worauf die Tatrichterin zu
Recht hingewiesen hat – die bloße Behauptung des Betroffenen, im Falle eines
Fahrverbotes hätte er mit durchgreifenden beruflichen Schwierigkeiten zu rechnen,
nicht aus, um darauf das Absehen vom Regelfahrverbot zu stützen. Das
angefochtene Urteil leidet aber insoweit an einem Mangel, als es keine
Feststellungen zu den persönlichen, insbesondere den beruflichen Verhältnissen
des Betroffenen enthält. Damit ist es dem Rechtsbeschwerdegericht nicht möglich
zu prüfen, ob die Verhängung eines Fahrverbotes etwa wegen besonderer
Umstände in den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen eine möglicherweise
unverhältnismäßige Reaktion auf die Tat da stellt. Die Notwendigkeit, hierzu
Feststellungen zu treffen, entfällt auch nicht deshalb, weil der Regelfall des § 4
Abs. 2 S. 2 BKatV vorliegt. Denn gemindert ist in solchen Fällen für den Tatrichter
allein der notwendige Begründungsaufwand (zu vgl. OLG Hamm, DAR 2000,
130)."
Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Sachprüfung
an, so dass das Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen
aufzuheben war und insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das
Amtsgericht Schwelm zurückzuverweisen war.
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