Urteil des OLG Hamm vom 22.04.2008

OLG Hamm: Schlagworte: Bindung an Verweisungsbeschluss, körperverletzung, örtliche zuständigkeit, willkür, schwurgericht, verdacht, bindungswirkung, rücktritt, strafrichter, bewährung

Oberlandesgericht Hamm, 3 (s) Sbd I. 8,9/08
Datum:
22.04.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 (s) Sbd I. 8,9/08
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 37 Ks 3/08
Schlagworte:
Bindung an Verweisungsbeschluss
Leitsätze:
Ein bloß rechtsfehlerhafter Verweisungsbeschluss nach § 270 StPO
lässt dessen Bindungswirkung nicht entfallen. Diese entfällt erst dann,
wenn die Verweisung mit Grundsätzen rechtstaatlicher Ordnung,
insbesondere dem gesetzlichen Richter, in offensichtlichem
Widerspruch steht, d.h. wenn sie widersprüchlich, unverständlich oder
sonst offensichtlich unhaltbar ist.
Tenor:
Das Landgericht - Schwurgericht - Dortmund wird als das für die
Durchführung des Strafverfahrens zuständige Gericht bestimmt.
Gründe
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I.
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Die Staatsanwaltschaft (Amtsanwalt) Dortmund hat mit Anklageschrift vom 18.09.2007
gegen die Angeklagten die öffentliche Klage wegen gefährlicher Körperverletzung
(Tatvariante des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) vor dem Amtsgericht
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- Strafrichter – Kamen erhoben. Mit Beschluss vom 27.11.2007 hat das Amtsgericht die
Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen. In der Hauptverhandlung vom 06.02.2008
hat das Amtsgericht nach Vernehmung der Angeklagten sowie von vier Zeugen
beschlossen, die Sache nach § 270 StPO zur weiteren Verhandlung und Entscheidung
an die große Strafkammer – Schwurgericht - des Landgerichts Dortmund verwiesen,
weil nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen bzgl. des Angeklagten S der Verdacht
bestand, dass dieser einen versuchten Totschlag sowie tatmehrheitlich hierzu eine
gefährliche Körperverletzung begangen hat. Den Angeklagten U hielt es einer
Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung für verdächtig.
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Das Schwurgericht hat die Sache mit Beschluss vom 21.02.2008 an das Amtsgericht
zurückverwiesen. Es hält den amtsgerichtlichen Verweisungsbeschluss wegen Willkür
für nicht bindend. Das Amtsgericht hat daraufhin die Sache mit Beschluss vom
11.03.2008 dem Senat zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
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II.
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1.
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Die Vorlage ist analog §§ 14, 19 StPO zulässig. Die Vorschriften betreffen unmittelbar
nur den Kompetenzstreit um die örtliche Zuständigkeit. Sie sind aber entsprechend auch
auf andere Fälle des (negativen) Kompetenzstreits anwendbar (BGH NJW 1999, 2604,
2605; OLG Karlsruhe NStZ 1990, 100). Das Oberlandesgericht ist als
gemeinschaftliches oberes Gericht des AG Kamen und des LG Dortmund zur
Entscheidung berufen.
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2.
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Das Landgericht – Schwurgericht - Dortmund ist für die Verhandlung und Entscheidung
der vorliegenden Sache zuständig.
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a) Die Zuständigkeit ergibt sich aus dem Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts
Kamen nach § 270 StPO. Aufgrund des Verweisungsbeschlusses wird die Sache bei
dem Gericht, an das verwiesen wird, unmittelbar rechtshängig (vgl. § 270 Abs. 3 StPO;
BGH MDR 1984, 599; Meyer-Goßner, StPO 50. Aufl. § 270 Rdn. 18). Aufgrund dessen
ist das Gericht, an das verwiesen wird, an den Verweisungsbeschluss gebunden
(BGHSt 27, 99, 103; OLG Frankfurt NStZ-RR 1997, 311; LG Magdeburg Beschl v
17.1.2007 - 21 AR 20/07).
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b) Ein formell oder materiell fehlerhafter Verweisungsbeschluss lässt die
Bindungswirkung nicht entfallen (BGHSt 29, 216, 219; BGH bei Kusch NStZ 1992, 29).
Die Bindungswirkung entfällt erst dann (mit der Folge, dass das Gericht, an das
verwiesen wurde, die Sache zurückverweisen kann), wenn der Verweisungsbeschluss
willkürlich ist (Senatsbeschluss vom 24.02.2005 - 3 (s) Sbd. 1 - 2/05 OLG Hamm). Das
ist der Fall, wenn die Verweisung, wenn sie mit Grundsätzen rechtsstaatlicher Ordnung,
insbesondere dem des gesetzlichen Richters, in offensichtlichem Widerspruch steht,
d.h. wenn sie widersprüchlich, unverständlich oder offensichtlich unhaltbar ist (OLG
Bamberg NStZ 2005, 377 ). Insbesondere kann Willkür vorliegen, wenn das Gericht die
Sache ohne Vernehmung der Angeklagten und Beweisaufnahme – also bei gegenüber
dem Eröffnungszeitpunkt unverändertem Tatsachenstand – verweist und es sich nicht
um einen Fall der sog. "korrigierenden Verweisung" (nach versehentlicher Eröffnung
des Hauptverfahrens) handelt (BGH NJW 1999, 2604). Weitere Fälle der Willkür können
sein, dass bei einer Verweisung wegen der (höheren) Straferwartung eine solche, die
die Zuständigkeit des höheren Gerichts begründen würde, offensichtlich
ausgeschlossen ist, weil z.B. wegen Strafrahmenverschiebungen zu Gunsten des
Angeklagten eine solche Strafe ausscheidet (OLG Bamberg NStZ 2005, 377),
Umstände, die einen höheren Strafrahmen oder eine mögliche Unterbringung nach § 63
StGB begründen würden, nur vermutet werden (OLG Düsseldorf NStZ 1986, 426; OLG
Frankfurt NStZ-RR 1996, 42, 43) oder aber die Verweisung nur darauf beruht, dass der
Angeklagte ein erwartetes Geständnis nicht abgibt, ohne dass aufgrund des nunmehr
möglicherweise entfallenden Strafmilderungsgrundes eine Straferwartung für ein
höheres Gericht begründet würde (OLG Karlsruhe NStZ 1990, 100).
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aa) Von einem solchen oder einem vergleichbaren Fall von Willkür kann hier – auf der
Grundlage der bisherigen Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren und der
Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht - keine Rede sein. Das Amtsgericht hat im
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vorliegenden Fall die Angeklagten zunächst zur Sache und sodann vier Tatzeugen
vernommen. Aufgrund dieser Beweisaufnahme kam es zu der Einschätzung, dass (u.a.)
der Verdacht des versuchten Totschlags bei dem Angeklagten S gegeben ist. Dass das
Amtsgericht dies in seinem Verweisungsbeschluss nicht näher ausführt ist unschädlich,
denn eine Beschlussbegründung ist grundsätzlich nicht erforderlich. Notwendig sind nur
die Angaben des Gerichts, an das verwiesen wird und (wegen § 270 Abs. 3 StPO) die
für einen Anklagesatz notwendigen Angaben.
bb) Die Ansicht des Amtsgerichts, dass der Verdacht eines versuchten Totschlags
gegeben ist, ist – wenn er sich auch nicht gerade aufdrängt – jedenfalls nicht so fern
liegend, dass von Willkür im o.g. Sinne gesprochen werden könnte. Die von den
Zeugen in der Hauptverhandlung ausweislich des Protokolls bekundeten (mehreren)
Schläge mit einem Baseballschläger oder einer Stange gegen den Kopf des Opfers sind
grundsätzlich objektiv geeignet, seinen Tod herbeizuführen.
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Ob der Angeklagte S, der die Tat bestreitet, einen entsprechenden Tötungsvorsatz hatte,
lässt sich nur anhand der Tatumstände erschließen. Als besonders gefährlich erkannte
Tathandlungen, wie z. B. mehrere mit Kraft geführte Schläge gegen den besonders
empfindlichen Kopf eines Menschen, der hierdurch potentiell schwerste und tödliche
Verletzungen davontragen kann (BGH Urt. v. 11.10.2000 – 3 StR 321/00 = BeckRS
2000, 30136111; BGH Urt. v. 24.03.2005 – 3 StR 402/04 = BeckRS 2005, 04290),
können dabei ein starkes Indiz für ein wenigstens billigendes Inkaufnehmen des
Todeserfolges sein, wobei es angesichts der hohen Hemmschwelle bei einem
Tötungsdelikt aber einer sorgfältigen Abwägung aller Umstände bedarf (BGH NStZ
2003, 431 f.)
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Auf der Grundlage des bisherigen Ermittlungsstandes ist dazu Folgendes anzumerken:
Vorliegend hängt viel von der Wucht der Schläge ab. Gegen eine große Wucht, und
damit gegen einen Tötungsvorsatz, könnte sprechen, dass das Opfer "lediglich"
Platzwunden erlitt. Andererseits gab es mehrere Schläge gegen das Opfer, auch
nachdem dieses schon zu Boden gegangen war. Darüberhinaus ist zu berücksichtigen,
dass der Angeklagte S schon mehrfach durch Gewaltdelikte strafrechtlich in
Erscheinung getreten ist. Vier von insgesamt 13 Eintragungen im Bundeszentralregister
beziehen sich auf Körperverletzung oder gefährliche Körperverletzung. Nicht
ausgeschlossen ist also auch, dass das in dem Täter steckende und in der Tat zu Tage
getretene Gewaltpotential erheblich war und nur aufgrund glücklicher Umstände nicht
den Todeserfolg herbeigeführt hat.
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cc) Auch ein Rücktritt von einem etwaigen Versuch eines Tötungsdeliktes ist nicht derart
offensichtlich, dass von einer Willkür des Amtsgerichts gesprochen werden könnte. Die
für den Rücktritt erforderliche Freiwilligkeit der weiteren Tataufgabe könnte hier dadurch
ausgeschlossen sein, dass der Angeklagte S – wie ein Zeuge in seiner polizeilichen
Vernehmung bekundet hat – den Tatort im Anschluss an die Schläge (erst) dann
verlassen hat, als er mitbekam, dass die Polzei kam.
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dd) Im übrigen ist darauf hinzuweisen, dass im Hinblick auf die Straferwartung bei dem
Angeklagten S nach den Regelungen der §§ 24, 74 GVG jedenfalls eine Zuständigkeit
des Landgerichts (wenn auch möglicherweise nicht des Schwurgerichts) vorliegt, so
dass allenfalls eine Abgabe der Sache durch das Schwurgericht an eine allgemeine
große Strafkammer des Landgerichts denkbar gewesen wäre, welche freilich nach §
269 StPO ausscheidet.
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Es muss befremden, wenn in einer derartigen Sache Anklage durch den Amtsanwalt
zum Strafrichter erhoben wird. Nach dem Stand der Ermittlungen liegt die Straferwartung
für den Angeklagten S durchaus im Bereich von vier Jahren Freiheitsstrafe oder
darüber, so dass die Strafgewalt des Amtsgerichts nicht ausreichen könnte:
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Der erst 25 Jahre alte Angeklagte ist vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er
hat bereits einmal Jugendstrafe und einmal Freiheitsstrafe verbüßt.
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Der Bundeszentralregisterauszug weist mehrere Eintragungen wegen Gewaltdelikten
auf: Ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung wurde im Jahre 2001 nach § 45
Abs. 2 JGG eingestellt. In der am 26.01.2004 vom AG Rheine verhängten
Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren, die der Angeklagte zum Teil verbüßt hat, sind
zwei Verurteilungen wegen Körperverletzung enthalten. Am 21.05.2007 wurde der
Angeklagte vom AG Steinfurt wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung zu
einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Strafe sowie
der Strafrest aus der Verurteilung des AG Rheine sind bis 2009 bzw. 2010 zur
Bewährung ausgesetzt, so dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt unter Bewährung
stand. Die vorliegende Tat wurde zudem zu einem Zeitpunkt (01.04.2007) begangen,
als der Angeklagte von dem Verfahren vor dem AG Steinfurt schon Kenntnis haben
musste.
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Was das Tatgeschehen angeht, ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte nach dem
bisherigen Stand der Ermittlungen gleich mehrere Qualifikationsmerkmale des § 224
StGB verwirklicht hat (Nr. 2, 4, 5). Zudem hat er – nach den bisherigen Erkenntnissen -
auch noch eine weitere Person im Rahmen des Tatgeschehens körperlich misshandelt.
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c) Auch hinsichtlich des Mitangeklagten U ist die Verweisung nicht willkürlich. Die
Gerichtszuständigkeit für ihn folgt Kraft Sachzusammenhangs der Zuständigkeit für den
– nach dem derzeitigen Ermittlungsstand – Haupttäter S.
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