Urteil des OLG Hamm vom 14.06.2000

OLG Hamm: bandscheibenvorfall, akte, schulterverletzung, kernspintomographie, bandscheibenoperation, anhörung, rückenbeschwerden, anzeichen, urlaub, invaliditätsgrad

Oberlandesgericht Hamm, 20 U 241/99
Datum:
14.06.2000
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
20. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 U 241/99
Vorinstanz:
Landgericht Münster, 15 O 54/99
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das am 7. September 1999 verkündete
Urteil der 15. Zivilkammer des Landgerichts Münster wird
zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufung werden dem Kläger auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Dem Kläger bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 25.000,00 DM abzu¬wenden, sofern
nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Beide Parteien können Sicherheitsleistung durch Bankbürgschaft
erbringen.
Tatbestand:
1
Der Kläger unterhält bei der Beklagten seit 1980 eine Unfallversicherung mit einer
Grundversicherungssumme von 93.000,00 DM für Invalidität. Dem Vertrag liegen die
AUB 61 zugrunde.
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Am 29. Januar 1996, seinem ersten Urlaubstag in I/P, wurde der Kläger auf dem Weg
zur "Entenalm" als Spaziergänger von einem Skifahrer von hinten angefahren und
stürzte auf die linke Schulter. Er hat behauptet, er sei anschließend eine Böschung
rechts neben dem Weg "hinuntergekugelt". Unstreitig konnte er ohne fremde Hilfe
wieder aufstehen und den Spazierweg zusammen mit seiner Ehefrau, der Zeugin T, zur
"Entenalm" fortsetzen. Am Tag nach diesem Unfall suchte er einen örtlichen Arzt auf,
der eine Röntgenaufnahme von der linken Schulter machte. Nach der Rückkehr aus
dem trotz des Unfalls nicht abgebrochenen Urlaub begab sich der Kläger am
13.02.1996 in Behandlung eines Orthopäden, des Zeugen Dr. N, der ihn seit mehreren
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Jahren wegen Wirbelsäulenbeschwerden behandelt. Dr. N veranlaßte am 19. August
1996 jeweils eine Kernspintomographie des linken Schultergelenks sowie auch der
Lendenwirbelsäule. Bei der von Dr. M am 21. August 1996 hinsichtlich der
Lendenwirbelsäule durchgeführten Kernspintomographie wurde ein medialer bis rechts
paramedialer Bandscheibenprolaps in Höhe L 3/L 4 mit Einengung des Spinalkanals
festgestellt. Deswegen erfolgte am 18. September 1996 eine Bandscheibenoperation im
Krankenhaus Gilead durch Prof. Dr. P.
Der Kläger hat sich bereits mehreren Wirbelsäulenoperationen unterzogen, nämlich im
April 1982 einer Bandscheibenoperation im Bereich L 4/L 5, im August 1986 einer
Rezidivoperation im Bereich L 4/L 5 und im September 1992 einer Cloward-Operation
im Bereich C 5/C 6.
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Den im April 1982 operierten Bandscheibenschaden führt der Kläger auf einen im
Januar 1982 erlittenen Unfall Sturz von einer Leiter zurück. Wegen dieses
Unfallschadens leistete die Beklagte eine Invaliditätsentschädigung nach einem
Gesamtinvaliditätsgrad von 75 % bezüglich der Wirbelsäulenverletzung und der
Gebrauchswertminderung des linken Beines.
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Den Unfall vom 29. Januar 1996 meldete der Kläger der Beklagten mit Schreiben vom
20. Februar 1996, wegen dessen Inhalts auf Blatt 193 f. der Akte verwiesen wird. Wegen
der in dem oben genannten Schreiben erlittenen Schulterverletzung erkannte die
Beklagte einen unfallbedingten Invaliditätsgrad von 23,33 % für den linken Arm (1/3
Armwert) an und zahlte an den Kläger eine Invaliditätsleistung von 21.696,90 DM.
Wegen der Abrechnung der Beklagten vom 02.04.1997 wird auf Blatt 66 der Akte
verwiesen.
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Der Kläger verlangt nunmehr eine weitere Invaliditätsleistung für eine bei dem Unfall
vom 29. Januar 1996 auch an der Wirbelsäule erlittenen Verletzung. Dazu hat er
behauptet, er habe sofort nach dem Unfall starke Schmerzen im gesamten Körper,
insbesondere im Rücken, in den Armen, an der Schulter und in den Beinen verspürt und
infolge des Sturzes über die steile Böschung einen Wirbelsäulenschaden, nämlich den
Bandscheibenvorfall im Bereich L 3/L 4 erlitten, der im September 1996 habe operiert
werden müssen. Auch nach der Operation sei eine erhebliche Funktionsstörung beider
Beine verblieben. Die Beeinträchtigung seiner Leistungsfähigkeit betrage 100 %. Zur
Begründung seiner Behauptung, der im September 1996 operierte Bandscheibenvorfall
sei unfallbedingt, hat sich der Kläger auf eine gutachterliche Stellungnahme des Zeugen
Dr. N berufen, die dieser am 15. Juni 1998 für die B Sportversicherung erstellt hat und
wegen deren Inhalts auf Blatt 33 der Akte verwiesen wird.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn 187.535,10 DM nebst 4 % Zinsen seit dem
18. August 1998 zu zahlen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte hat bestritten, daß der Kläger bei dem Unfall am 29. Januar 1996 eine
Verletzung an der Wirbelsäule erlitten hat und daß der im August 1996 diagnostizierte
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Bandscheibenvorfall im Bereich L 3/L 4 auf den Unfall vom 29. Januar 1996
zurückzuführen ist. Dafür sei vielmehr eine unfallunabhängige degenerative
Vorschädigung der Wirbelsäule verantwortlich.
Das Landgericht hat nach Anhörung des Klägers und Vernehmung der Zeugen T und
Dr. N die Klage abgewiesen und es nicht für bewiesen erachtet, daß der im September
1996 operierte Bandscheibenvorfall auf den Unfall vom 29. Januar 1996 zurückzuführen
ist.
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Gegen diese Entscheidung, wegen deren Einzelheiten auf ihren Inhalt verwiesen wird,
richtet sich die Berufung des Klägers. Der Kläger rügt vornehmlich die
Beweiswürdigung des Landgerichts und hält seine Behauptung aufrecht, der
Bandscheibenvorfall im Bereich L 3/L 4 sei durch das Unfallereignis vom 29. Januar
1996 verursacht worden und nicht auf Verschleiß zurückzuführen. Er ist der Auffassung,
gegen bloßen Verschleiß der Wirbelsäule spreche, daß das hintere Längsband
gerissen sei, wie sich aus dem Operationsbericht des Prof. Dr. P über den Eingriff vom
18. September 1996 ergebe. Gegen degenerativen Verschleiß spreche schließlich auch
der von Dr. N wiedergegebene Arztbericht vom 13. Mai 1994.
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Der Kläger beantragt,
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in Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an ihn
187.535,10 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 18. August 1998 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Beklagte verteidigt die Entscheidung des Landgerichts unter Aufrechterhaltung ihres
erstinstanzlichen Vorbringens. Sie bestreitet nach wie vor die Ursächlichkeit des Unfalls
vom 29. Januar 1996 für den im September 1996 operierten Bandscheibenvorfall. Sie ist
der Auffassung, gegen die Unfallursächlichkeit spreche insbesondere, daß der Kläger
erstmals im Mai 1996 überhaupt über Rückenschmerzen geklagt habe.
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Der Senat hat den Kläger gemäß § 141 ZPO angehört und die Zeugen Dr. N und T
vernommen. Wegen des Ergebnisses der Anhörung und der Beweisaufnahme wird auf
den Vermerk der Berichterstatterin zum Senatstermin verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung des Klägers ist nicht begründet.
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Dem Kläger steht kein Anspruch nach den §§ 1, 49 VVG in Verbindung mit § 8 Abs. II (1)
und (4) AUB 61 auf Zahlung einer weiteren Invaliditätsentschädigung wegen einer bei
dem Unfall vom 29. Januar 1996 erlittenen dauernden Beeinträchtigung zu.
23
1.
24
Soweit der Kläger bei dem Unfall eine Arm/Schulterverletzung mit einer dauernden
Bewegungseinschränkung erlitten hat, hat die Beklagte eine Invalidität als Unfallfolge
anerkannt. Der Kläger beanstandet insoweit auch nicht den mit 1/3 Armwert
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bemessenen Invaliditätsgrad von 23,33 % und die Höhe der gezahlten Entschädigung
von 21.696,90 DM.
2.
26
Soweit der Kläger eine weitere Invaliditätsentschädigung wegen eines Dauerschadens
an der Lendenwirbelsäule mit Funktionsbeeinträchtigung beider Beine verlangt, ist sein
Begehren nicht begründet.
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Zwar mag der im September 1996 operativ behandelte Bandscheibenvorfall im Bereich
L 3/L 4, der bei der Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule vom 19. August 1996
mit ergänzender Computertomographie vom 21. August 1996 durch Dr. M diagnostiziert
worden ist, eine dauernde Beeinträchtigung von Wirbelsäule und Beinen ausgelöst
haben. Der Kläger hat jedoch auch in der Berufungsinstanz nicht zu beweisen vermocht,
daß das Unfallereignis vom 29. Januar 1996 für diesen Bandscheibenvorfall (mit)
ursächlich geworden ist.
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Ein Bandscheibenvorfall kann durch einen Unfall ausgelöst werden, kann aber auch
ausschließlich auf einer Vorerkrankung beruhen. Dies wird in dem für die Beklagte
erstatteten neurochirurgischen Gutachten des Prof. Dr. P vom 1. Januar 1998 im
einzelnen ausgeführt und ist dem Senat auch aus zahlreichen ähnlich gelagerten
Rechtsstreitigkeiten bekannt.
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Vorliegend ist aber selbst nach der Bekundung des sachverständigen Zeugen Dr. N, der
den Kläger seit mehreren Jahren als Orthopäde behandelt, ein Zusammenhang
zwischen dem Unfallereignis vom 29. Januar 1996 mit dem mehrere Monate später
diagnostizierten Bandscheibenvorfall nicht zu beweisen, sondern genauso
wahrscheinlich wie ein fehlender Ursachenzusammenhang. Dabei sprechen zwar
Sequestrierungen des Bandscheibengewebes und eine Zerreißung des hinteren
Längsbandes in der fraglichen Etage, wie sie dem Operationsbericht des Prof. Dr. P hier
zu entnehmen sind, eher für einen Zusammenhang des Bandscheibenvorfalls mit dem
Unfallereignis. Dem Operationsbericht lassen sich jedoch auch Anzeichen für eine
Degeneration entnehmen, wie der Zeuge Dr. N berichtet hat. So ist in dem
Operationsbericht von einem engen Wirbelkanal die Rede, was auf eine Degeneration
hindeutet. Auch hat sich das Gewebe als degenerativ verändert dargestellt. Diese
Anzeichen sprechen auch nach der Bekundung von Dr. N gegen eine Verantwortlichkeit
des Unfalls vom 29. Januar 1996 für den Bandscheibenvorfall.
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Das Verhalten des Klägers nach dem Unfallereignis deutet schließlich auch nicht darauf
hin, daß er dabei auch eine Verletzung an der Wirbelsäule erlitten hat, denn er hat nicht
sofort über starke Beschwerden in diesem Bereich geklagt, sondern vornehmlich über
Schulter- und Armschmerzen. Er konnte ohne fremde Hilfe die angeblich steile
Böschung hinaufklettern und den Fußweg zur Alm fortsetzen. Er ist auch nicht noch
sogleich am Unfalltag, sondern erst am nächsten Tag zum örtlichen Arzt gegangen.
Diesem gegenüber hat er über Schulterschmerzen, nicht aber auch über
Rückenschmerzen geklagt. Gegen ein sofortiges Auftreten heftiger Schmerzen und
Beschwerden im Rückenbereich spricht schließlich auch der Umstand, daß der Kläger
in der ersten Unfallmeldung an die Beklagte nur eine Schulterverletzung, nicht aber
Rückenbeschwerden angezeigt hat, wie seinem Schreiben vom 20. Februar 1996,
wegen dessen Inhalts auf Blatt 193 ff der Akte verwiesen wird, zu entnehmen ist. Auch
dem behandelnden Arzt Dr. N gegenüber hat er bei seiner ersten Vorstellung nach der
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Rückkehr aus dem Urlaub am 13. Februar 1996 nur über Schulterschmerzen geklagt.
Erstmals am 14. Mai 1996, also ein Vierteljahr nach dem Unfallereignis, ist er wegen
aufgetretener Rückenbeschwerden behandelt worden, wie Dr. N bei seiner
Vernehmung vor dem Senat bestätigt hat.
Soweit der Kläger behauptet hat, er sei aber von einer Heilpraktikerin schon zuvor
wegen aufgetretener Lumboischialgieen behandelt worden, hat sich sein Vortrag nach
Vorlage der Rechnungen der Heilpraktikerin als unrichtig erwiesen; denn den
Rechnungen auf Blatt 99 ff der Akte ist zu entnehmen, daß der Kläger zunächst wegen
einer traumatisch bedingten "Periarthropathia humeroscapularis" behandelt worden ist
und erst in der Zeit ab 24. April 1996 wegen "Ischialgie" (Bl. 100 d.A.).
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Da regelmäßig akute und heftige Schmerzen auftreten, wenn ein Bandscheibenvorfall
eintritt, wie nicht nur Prof. Dr. P in seiner gutachterlichen Stellungnahme für die Beklagte
ausgeführt, sondern auch Dr. N bei seiner Vernehmung vor dem Landgericht bestätigt
hat, läßt das aufgezeigte Beschwerdebild des Klägers den Schluß zu, daß der
Bandscheibenvorfall nicht unmittelbar am Unfalltag oder kurze Zeit später aufgetreten
ist. Zwar hat Dr. N bei seiner Vernehmung vor dem Senat erklärt, erst der Austritt des
Bandscheibengewebes verursache die typischen starken Beschwerden, die beim
Zerreißen des Längsbandes noch nicht aufträten. Es ist deshalb nicht gänzlich
ausgeschlossen, daß das hintere Längsband bei dem Unfallereignis vom 29. Januar
1996 zerrissen ist; denn nach der Bekundung des Zeugen Dr. N ist ein zeitliches
Intervall zwischen Zerreißen des Längsbandes und Austreten des
Bandscheibengewebes denkbar. Auch das Zerreißen des Längsbandes verursacht aber
einen spürbaren Schmerz, wie Dr. N bekundet hat, dessen Auftreten vom Kläger jedoch
nicht in zeitlich nahem Abstand zum Unfallereignis in der Schadensmeldung gegenüber
der Beklagten und bei seiner Vorstellung in der Praxis des Dr. N dokumentiert ist.
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Bei diesem Ergebnis der Beweisaufnahme hat der Senat in Übereinstimmung mit dem
Landgericht nicht feststellen können, daß der Bandscheibenvorfall mit den darauf
beruhenden Dauerbeeinträchtigungen, über die der Kläger heute noch klagt, auf das
Unfallereignis vom 29. Januar 1996 zurückzuführen ist.
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Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708
Ziff. 10 und 711 ZPO.
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Die Beschwer des Klägers beträgt 187.553,10 DM.
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