Urteil des OLG Hamm vom 30.11.1999

OLG Hamm: commotio cerebri, fraktur, beweiswürdigung, gaststätte, lokal, strafakte, körperverletzung, verjährungsfrist, offenkundig, beweisergebnis

Oberlandesgericht Hamm, 9 U 213/98
Datum:
30.11.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
9. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
9 U 213/98
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 4 O 310/95
Tenor:
Der Antrag des Beklagten auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe für die
Berufung gegen das am 16.07.1998 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer
des Landgerichts Bielefeld - Einzelrichterin - wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Der Beklagte begehrt Prozeßkostenhilfe für die Berufung gegen das im Tenor
bezeichnete Urteil, durch das er verurteilt worden ist, an das klagende Land 10.833,04
DM nebst 6,2 % Zinsen seit dem 09.08.1995 zu zahlen und das seine Verpflichtung
festgestellt, dem klagenden Land den materiellen Schaden zu ersetzen, der ihm durch
die von dem Beklagten am 09.07.1988 verursachte Körperverletzung des Herrn y künftig
noch entstehen wird.
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Das klagende Land hat den Kläger aus übergegangenem Recht gemäß §§ 5 OEG, 81 a
BVG, 823 Abs. 1 und 2 BGB, 223 StGB auf Zahlung von Schadensersatz in Anspruch
genommen mit der Begründung, er habe am 09.07.1988 zusammen mit seinem Bruder
S den Zeugen y körperlich verletzt. Insoweit ist unstreitig, daß sich der Zeuge y an
diesem Tag in der Gaststätte Q in I befunden hat, als der Beklagte zusammen mit
seinem Bruder S erschien. Als die Brüder G veranlaßt werden sollten, das Lokal wegen
eines Hausverbots zu verlassen, kam es vor der Gaststätte zu einer körperlichen
Auseinandersetzung zwischen ihnen und dem Zeugen L3, dem der Zeuge y beistehen
wollte. Das klagende Land behauptet, der Beklagte und sein Bruder hätten den Zeugen
y angegriffen und zusammengeschlagen. Sie hätten gemeinschaftlich noch auf ihn
eingetreten und dabei am Kopf getroffen, als er schon bewußtlos am Boden gelegen
habe. Der Zeuge hat eine Fraktur der medio cranaialen Wand des sinus phenoidalis
links, eine Fraktur der medialen korsalen knöchernen Begrenzung des rechten sinus
maxillaris, eine ventrale Fraktur des sinus maxillaris links und des Jochbein rechts
sowie eine commotio cerebri und Kopfplatzwunden erlitten. Ferner sei eine Schädigung
der Sehnerven eingetreten. Für Krankengeld, Beitragsanteile zur Renten- und
Arbeitslosenversicherung, Heilbehandlungskosten und Krankentransport habe es
insgesamt 10.833,04 DM ersatzfähiger Leistungen durch das Versorgungsamt N
erbracht.
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Der Beklagte hat sich auf die Einrede der Verjährung berufen und bestritten, daß er den
Zeugen y verletzt habe; vielmehr habe er sich entfernt, bevor es zu den Verletzungen
durch seinen inzwischen verstorbenen Bruder S gekommen sei.
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Das Landgericht hat den Beklagten nach Beweisaufnahme durch Vernehmung der
Zeugen L4, y, C und L
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L und unter Verwertung der zu Beweiszwecken beigezogenen Strafakte 25 Js 1305/88
der StA Bielefeld nach Antrag des klagenden Landes verurteilt. Es hat dabei
insbesondere die für glaubwürdig angesehene Aussage des Zeugen L3 zugrunde
gelegt, auf dessen erneute Vernehmung für die erste Instanz die Parteien
übereinstimmend verzichtet hatten.
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Mit der gegen dieses Urteil gerichteten Berufung verfolgt der Beklagte sein auf volle
Klageabweisung gerichtetes Ziel weiter und beantragt dafür die Bewilligung von
Prozeßkostenhilfe. Er bestreitet weiterhin, an der Verletzung des Zeugen y beteiligt
gewesen zu sein und greift insoweit die Beweiswürdigung des Landgerichts an. Er hält
die im Verlauf des Verfahrens erfolgten Aussagen des Zeugen L3 für widersprüchlich
und bezieht sich zum Beweis für die Richtigkeit seines Vorbringens auf die erneute
Vernehmung der Zeugen L und L2 und der Zeugin C. Außerdem wiederholt er die
Einrede der Verjährung.
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Das klagende Land verteidigt das angefochtene Urteil und die erstinstanzliche
Beweiswürdigung.
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II.
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Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe ist zurückzuweisen, da die Berufung
keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Bei der derzeitigen Sach- und Beweislage
wird es dem Beklagten voraussichtlich nicht gelingen, den als geführt anzusehenden
Beweis seiner Beteiligung an der schweren Körperverletzung des Zeugen y erschüttern.
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1.
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Die in erster Instanz erfolgte Beweisaufnahme durch Vernehmung der Zeugen L4, y, C
und L ist im gegenseitigen Einverständnis der Parteien bewußt unvollständig geblieben.
Aus dem Ergebnis dieser Beweisaufnahme läßt sich kein vollständiges Bild über die
Vorgänge bei der Auseinandersetzung am 09.07.1988 gewinnen. Demgegenüber
bieten die aus der Strafakte ersichtlichen, protokollierten Aussagen des Zeugen L3 ein
sicheres, detailgenaues und nach Auffassung des Senats widerspruchsfreies Bild über
den Hergang der Auseinandersetzung. Insbesondere ist es auf der Grundlage dieser
Aussage als erwiesen anzusehen, daß sich der Beklagte zumindest an den Tritten
gegen den Körper des bewußtlos am Boden liegenden Zeugen y beteiligt hat. Er ist
danach als Mittäter im Sinne des § 830 Abs. 1 Satz 1 BGB für die eingetretenen
Verletzungsfolgen in vollem Umfange verantwortlich.
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Ohne Erfolg wendet der Beklagte ein, die protokollierten Aussagen des Zeugen L3
seien widersprüchlich und nicht mit den Bekundungen der Zeugin C in Einklang zu
bringen. Da sich die Vorgänge am 09.07.1988 höchst dramatisch zugespitzt hatten,
nachdem bereits der Zeuge L4 geflüchtet war und der Zeuge L3 dafür sorgen wollte, die
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Brüder G aus dem Lokal zu entfernen, kann es bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit
der Aussage des Zeugen L3 nicht auf kleinere Abweichungen ankommen, wie sie die
Berufung jetzt ins Feld führt. Für das Kerngeschehen und den wesentlichen Gehalt der
Aussage, nämlich für die Tatsache, daß der Zeuge beobachtet hat, wie die Brüder G auf
den Verletzten y gemeinschaftlich eingetreten haben, ist es nicht von entscheidender
Bedeutung, ob dies vor oder nach dem Angriff gegen ihn selbst erfolgte, bei dem er mit
dem Kopf gegen einen Eisenpfahl geschlagen wurde. Den Aussagen des Zeugen L3
stehen auch nicht die Bekundungen der Zeugin C entgegen, die angibt beobachtet zu
haben, daß nur der - inzwischen verstorbene - G den Zeugen y trat, als er schon am
Boden lag. Diese Bekundung kann zutreffen, ohne daß damit die Richtigkeit der
Bekundung des Zeugen L3 in Zweifel gezogen wäre. Die Zeugin C hatte nämlich eine
wesentlich ungünstigere Beobachtungsposition. Sie war nicht in unmittelbarer Nähe des
Tatorts: Zum anderen ist es denkbar, daß der Beklagte inzwischen von dem Verletzten y
abgelassen hatte, während sein Bruder die Verletzungshandlungen noch fortsetzte. Daß
der Beklagte ebenfalls draußen war, also sich nicht mehr in der Gaststätte aufhielt und
deshalb eine Tatbeteiligung grundsätzlich in Betracht kam, hat auch die Zeugin C3
bekundet. Jedenfalls setzten ihre Beobachtungen erst ein, als die Schlägerei schon im
Gange war. Deshalb hat sie auch nicht mitbekommen, wie der Zeuge L3 mit dem Kopf
gegen einen Metallpfahl geschlagen wurde. Ihre Beobachtungen lassen sich daher in
keiner Beziehung zeitlich präzise einordnen und deshalb auch nicht mit den
Bekundungen des Zeugen L3 in Widerspruch setzen.
Die Aussagen der Zeugen L und L2 enthalten auch nach Auffassung des Senats, eher
ungenaue, ausweichende und offenkundig tendenzielle Angaben, auf die sich keine
sicheren Feststellungen stützen lassen. Sie sind auch nicht geeignet, die weitgehend
präzise, detaillierte und bei Unsicherheiten mit den notwendigen Vorbehalten
versehene Aussage des Zeugen L3 durchgreifende in Zweifel zu ziehen.
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2.
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Nach dem derzeitigen Verfahrensstand ist auch nicht zu erwarten, daß der Beklagte
dieses vorläufige Beweisergebnis wird erschüttern können. Es fehlt an dem Vortrag
hinreichend sicherer Grundlagen, aus denen sich ergeben könnte, daß die Bekundung
des Zeugen L3 unzutreffend ist. Das Berufungsvorbringen des Beklagten erschöpft sich
vielmehr darin, auf der Grundlage der bisherigen Aussagen Widersprüche zu
konstruieren, die bei sachgerechter Würdigung nicht vorliegen und die jedenfalls keine
durchgreifende Bedeutung haben, um ernsthafte Zweifel an dem vom Landgericht
umfassend und zuverlässig dargelegten Gesamtbild der gemeinschaftlichen Beteiligung
der Brüder G zu begründen.
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b)
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Auch die beantragte erneute Vernehmung der Zeugin C und des Zeugen L sowie die
weitere Vernehmung des Zeugen L2 werden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine
neuen, bisher noch nicht bekannten Umstände ergeben, die Zweifel an der Bekundung
des Zeugen L3 begründen könnten. Dies ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil
nach dem inzwischen eingetretenen Zeitablauf seit der Verletzung am 09.07.1988 für
die Tatsachenfeststellung die zeitnahen Aussagen von überwiegender Bedeutung
bleiben werden. Denn bei der Würdigung jede erneuten Aussage muß berücksichtigt
werden, daß in der Regel mit zunehmendem zeitlichen Abstand die Erinnerung
verblaßt, Details in den Hintergrund treten oder vergessen werden und (möglicherweise
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scheinbare) Widersprüche aufgrund subjektiver Verfälschungen des Erinnerungsbildes
eintreten können. Daß die Zeugen L und die Zeugin C im Verhältnis zu ihren bisherigen
Angaben nun weiterführende Aussagen machen können, trägt der Beklagte selbst nicht
vor. Im übrigen müßte es durchgreifenden Zweifeln begegnen, wenn jetzt - bei einer
erneuten Vernehmung die Zeugin C und die Zeugen L weitergehende, den Beklagten
entlastende Umstände bekunden, die bisher noch nicht Gegenstand ihrer Aussagen
waren.
Die Berücksichtigung der vorstehend im einzelnen aufgezeigten Umstände ist bei der
nach § 114 ZPO gebotenen summarischen Erfolgsprüfung statthaft. Nach
höchstrichterlicher Rechtsprechung ist im Prozeßkostenhilfeprüfungsverfahren eine
vorwegnehmende Beweiswürdigung zulässig (vgl. BGH NJW 1988, 267). Fällt die
Beweisprognose dahin aus, daß die Richtigkeit einer unter Beweis gestellten Tatsache
für sehr unwahrscheinlich angesehen werden muß, darf Prozeßkostenhilfe auch dann
verweigert werden, wenn das Gericht aus beweisrechtlichen Gründen einem von der
Partei gestellten Beweisantrag im Erkenntnisverfahren stattgeben müßte (BGH NJW
1994, 1160). Die Entscheidung über die Erfolgsprognose im Rahmen des PKH-
Prüfungsverfahrens ist nämlich unabhängig von dem strengen Maßstab der
Beweiserhebungspflicht zu treffen. Während das Gericht einem Beweisantritt auch dann
folgen muß, wenn auch nur die nicht ausgeschlossene Möglichkeit besteht, daß eine
Tatsache erweislich ist, bindet das Gesetz die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe an die
hinreichende Erfolgsaussicht, ist also insofern enger als das Gebot der Beweiserhebung
(vgl. BVerfG NVwZ 1987, 786; Musielek/Fischer, ZPO, 1. Aufl. (1999) § 114 Rn. 22).
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Die Berufung wird auch nicht wegen des wiederholten Einwandes der Verjährung
erfolgreich sein können. Im vorliegenden Fall greift die kurze Verjährung des § 852 Abs.
1 BGB ein, wonach Ansprüche aus unerlaubter Handlung binnen einer Frist von drei
Jahren verjähren, von dem an der Berechtigte von dem Schaden, dem Schädiger und
den Unfallhergang Kenntnis erlangt hat. Nach gefestigter Rechtsprechung kommt es bei
Erstattungsansprüchen nach §§ 5 Abs. 1 OEG, 81 a BVG auf die Kenntnis der
Bediensteten der für Regresse zuständigen Stellen des Versorgungsträgers an (vgl.
BGH in ständiger Rechtsprechung - NJW 1986, 2315; NJW 1992, 1755 f.; VersR 1995,
600, 602). Diese Frist beginnt regelmäßig dann, wenn die zuständige
Leistungsabteilung des Versorgungsamtes die Versorgungsakten dem für den Regreß
zuständigen Landesversorgungsamt zur Prüfung solcher Ansprüche vorlegt. Dies ist
hier unter dem 29.10.1993 verfügt worden; die Akten sind am 04.11.1993 beim
Landesversorgungsamt eingegangen. Folglich wurde ab diesem Tage die
Verjährungsfrist in Lauf gesetzt. Sie war noch nicht abgelaufen, als der Antrag auf Erlaß
eines Mahnbescheides unter dem 13.04.1995 beim Mahngericht einging. Dadurch
wurde die Verjährung nach § 209 Abs. 2 Nr. 1 BGB, 693 Abs. 2 ZPO unterbrochen.
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Daß das Versorgungsamt N bereits im Dezember 1988, ferner im März 1989 und erneut
im November 1992 die Akte des in dieser Sache gegen den Beklagten gerichteten
Strafverfahrens bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld anforderte und einsah, konnte die
Verjährungsfrist nicht in Lauf setzen. Denn es handelte sich nicht um Vorlagen an die
beim Landesversorgungsamt N zuständige Regreßabteilung sondern an die zuständige
Leistungsbehörde beim Versorgungsamt.
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Nach allem bietet die Berufung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Antrag auf
Bewilligung von Prozeßkostenhilfe ist daher zurückzuweisen.
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