Urteil des OLG Hamm vom 05.07.2007

OLG Hamm: wiedereinsetzung in den vorigen stand, wohnung, anschrift, verschulden, zustellung, briefkasten, kopie, eigenschaft, lebensmittelpunkt, aufenthalt

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ws 403/07
Datum:
05.07.2007
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ws 403/07
Vorinstanz:
Landgericht Essen, 29 Ns 78/06
Normen:
§ 44 StPO, § 329 StPO, §§ 37 Abs. 1 StPO, 180 ZPO
Leitsätze:
Eine Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten ist unwirksam,
wenn der Zustellungsempfänger für die Dauer eines Semesters im
Ausland studiert.
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Dem Angeklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen
die Versäumung der Berufungshauptverhandlung vom 15.01.2007
gewährt.
Von der Erhebung von Gerichtskosten wird hinsichtlich der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 21 Abs. 1 GKG
abgesehen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem
Angeklagten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der
Staatskasse zur Last.
Gründe:
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I.
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Der Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Essen vom 23.06.2006 wegen
vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15 €
verurteilt. Gegen dieses Urteil wandte sich der Angeklagte mit seiner rechtzeitig durch
Schriftsatz seines damaligen Verteidigers vom 26.06.2006 eingelegten und auf den
Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung. Der Vorsitzende der Strafkammer der
Landgerichts bestimmte am 26.09.2006 einen Termin zur Berufungshauptverhandlung
auf den 15.01.2007. Zu diesem Termin wurde der Angeklagte unter der Anschrift M-
Straße in #### C mittels Ersatzzustellung durch Einlegung des Schriftstücks in den
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Briefkasten am 31.10.2006 geladen.
Zu dem Termin zur Berufungshauptverhandlung erschien der Angeklagte nicht, sondern
lediglich sein damaliger Verteidiger. Durch Urteil vom 15.01.2007 hat die IX. kleine
Strafkammer des Landgerichts Essen die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs.
1 StPO mit der Begründung verworfen, der Angeklagte sei ungeachtet der durch
Urkunde vom 31.10.2006 nachgewiesenen Ladung zu dem Hauptverhandlungstermin
unentschuldigt nicht erschienen. Nach Zustellung dieses Urteil hat der Angeklagte
durch Schreiben vom 04.03.2007 privatschriftlich vorgetragen, er habe zur
Berufungshauptverhandlung nicht erscheinen können, weil er ein Auslandssemester in
den USA absolviert habe. Auf gerichtliche Aufforderung hat er die Kopie einer
Bescheinigung der Universität aus T vom 16.01.2007 vorgelegt, wonach er vom
24.08.2006 bis 16.12.2006 dort studiert hat. Zugleich hat der Angeklagte vorgetragen, er
habe sich noch einige Zeit in den USA aufgehalten, um u.a. Hausarbeiten zu
korrigieren. Erst danach sei er nach Deutschland zurückgeflogen, was durch eine Kopie
des Rückflugtickets eines Fluges am 01.02.2007 belegt werde.
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Die Vorsitzende der IX. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen hat durch den
angefochtenen Beschluss vom 16.04.2007 den Antrag des Angeklagten auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen. Zur Begründung ist
ausgeführt, der Angeklagte habe nicht glaubhaft gemacht, dass er ohne sein
Verschulden verhindert war, zum Termin zur Hauptverhandlung zu erscheinen.
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Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seiner am 29.05.2007
eingegangenen sofortigen Beschwerde.
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II.
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Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 329 Abs. 3, 46 Abs. 3 StPO statthaft und
fristgerecht (§ 311 Abs. 2 StPO) von dem Angeklagten eingelegt worden. Sie ist auch
begründet.
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Der Angeklagte war zu dem Termin zur Berufungshauptverhandlung vor dem
Landgericht Essen am 15.01.2007 nicht ordnungsgemäß geladen. Insofern ist
anerkannt, dass der nicht oder nicht ordnungsgemäß Geladene dem Säumigen i. S. v.
§ 44 StPO gleichzusetzen ist und ihm ohne Rücksicht auf ein Verschulden
Wiedereinsetzung zu gewähren ist, wenn das Gericht das Fehlen oder die
Unwirksamkeit der Ladung nicht gesehen hat (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 49. Auflage, §
329 Rdnr. 41).
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Die Ersatzzustellung der Ladung zum Hauptverhandlungstermin am 31.10.2006 war
unwirksam. Der Angeklagte hat durch die Vorlage von Kopien einer
Studienbescheinigung und des Rückflugtickets hinreichend glaubhaft gemacht, dass er
im Zeitpunkt der Zustellung (31.10.2006) unter der Anschrift M-Straße in #### C nicht
wohnhaft war.
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Die Wirksamkeit einer Ersatzzustellung gemäß §§ 37 Abs. 1 StPO, 180 ZPO ist
grundsätzlich nur dann gegeben, wenn diese durch Einlegung in einen zur Wohnung
gehörenden Briefkasten erfolgt. Grundsätzlich gilt als Wohnung der räumliche
Lebensmittelpunkt des Zustellungsempfängers, wobei maßgeblich ist, ob er
hauptsächlich in den Räumen lebt und insbesondere dort schläft (BGH, NJW 78, 1858).
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Unerheblich ist es demgegenüber, ob der Zustellungsempfänger in dieser Wohnung
polizeilich gemeldet ist (vgl. Meyer-Goßner a. a. O., § 37 Rdnr. 8 m.w.N.). Hat der
Zustellungsempfänger die Räume in dieser Weise genutzt, hebt nicht jede
vorübergehende Abwesenheit, selbst wenn sie länger dauert, die Eigenschaft jener
Räume als Wohnung auf (BGH a.a.O.). Insbesondere eine bloß urlaubsbedingte oder
beruflich bedingte und zeitlich begrenzte Abwesenheit führt nicht zu einer Verlagerung
des gewöhnlichen Aufenthalts bzw. des Lebensmittelpunktes des
Zustellungsempfängers. Etwas anderes gilt aber dann, wenn sich während der
Abwesenheit des Zustellungsempfängers auch der räumliche Mittelpunkt seines Lebens
an den neuen Aufenthaltsort verlagert. Einer solchen Verlagerung des
Lebensmittelpunktes steht nicht entgegen, dass der Zustellungsempfänger seine
persönliche Habe in der bisherigen Wohnung zurückgelassen hat und er beabsichtigt,
später in die Wohnung zurückzukehren. So ist anerkannt, dass ein mehrmonatiger
Aufenthalt in einer Therapieeinrichtung zu einer Verlagerung des Lebensmittelpunktes
führt und während dieser Zeit die bisherige Wohnung keine Wohnung im Sinne der
Zustellvorschriften darstellt (Senat, Beschluß vom 17.06.2003, 3 Ws 243/03; OLG
Hamm, 1. Strafsenat, NStZ 1982, 521). Das gleiche gilt bei längerer Straf- oder
Untersuchungshaft oder einem längeren Auslandsaufenthalt zu beruflichen Zwecken
(Meyer-Goßner, a.a.O., § 37 Rdnr. 9 m.w.N.).
Nach diesen Kriterien wohnte der Angeklagte zur Zeit der Zustellung am 31.10.2006
nicht unter der genannten Anschrift in C. Er hatte für die Zeit seines Auslandssemesters
in den USA seinen räumlichen Lebensmittelpunkt und damit seine Wohnung für die
Dauer seines Studiums dorthin verlagert hatte. Seine über fünf Monate dauernde
Abwesenheit von der Wohnung in C ist weder der Art noch der Dauer nach mit einer nur
vorübergehenden (z.B. Urlaubs-) Abwesenheit zu vergleichen. Unschädlich ist, daß der
Angeklagte nach Beendigung seines Auslandsstudiums in seine bisherige Wohnung in
C zurückgekehrt ist.
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Zwar wird gelegentlich vertreten, dass die tatsächliche Benutzung einer Wohnung dann
nicht Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Ersatzzustellung ist, wenn sich der
Adressat nicht nur für diese Wohnung angemeldet hat, sondern sich als dort wohnend
geriert, seinen Schriftwechsel unter dieser Anschrift führt und seine Post dort abholt (vgl.
in diesem Sinne der 2. Strafsenat des OLG Hamm VRS 106, 57, 58; Thüringer OLG,
VRS 111, 422, 423; BayObLG VRS 106, 452, 453). Solche Umstände sind vorliegend
jedoch nicht ersichtlich. Der Senat kann deshalb offen lassen, ob für diese Fälle
ausnahmsweise auch ohne eine tatsächliche Wohnnutzung die Ersatzzustellung nach
§§ 178, 180 ZPO wirksam sein kann.
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Dass den Angeklagten das Verwerfungsurteil vom 15.01.2007 nach seiner Rückkehr in
die Wohnung unter der Anschrift M-Straße in C erreicht hat, ändert nichts an dem
Umstand, dass der Angeklagte während seines Auslandsaufenthalts dort nicht wohnte
und der Anschrift danach nicht die Eigenschaft zukam, zustellfähige Wohnung zu sein.
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Dem nicht ordnungsgemäß zur Berufungshauptverhandlung geladenen Angeklagten ist
die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ohne Rücksicht darauf zu bewilligen ist, ob
ihn ein (evtl. Mit-) Verschulden an der fehlerhaften Ladung trifft.
Wiedereinsetzungsgrund ist in den Fällen der Verwerfung der Berufung nach § 329
Abs. 1 StPO trotz nicht ordnungsmäßiger Ladung des Angeklagten allein das Fehlen
einer rechtswirksamen Ladung zur Berufungsverhandlung; ob den Angeklagten daran -
etwa mangels Vorsorge dafür, dass ihn die Ladung erreichen konnte - ein Verschulden
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trifft, ist in diesen Fällen - anders als bei kurzfristiger Abwesenheit aus der noch
bestehenden Wohnung - für die Frage der Gewährung der Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand unerheblich und deshalb nicht zu prüfen (OLG Hamm, NStZ 1982, 521,
523; Meyer-Goßner, a.a.O., § 329 Rdnr. 41 m.w.N.).
Soweit sich der Angeklagte in seinem Beschwerdeschreiben vom 04.03.2007 gegen die
Kostenentscheidung des Verwerfungsurteils vom 15.01.2007 wendet, ist eine
Entscheidung nicht veranlaßt, da die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zum Wegfall des Verwerfungsurteils führt (Meyer-Goßner, a.a.O., § 44 Rdnr. 24).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 4 StPO analog.
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