Urteil des OLG Hamm vom 25.01.2006

OLG Hamm: ärztliche behandlung, neurotische fehlentwicklung, somatoforme schmerzstörung, invaliditätsgrad, leistungsfähigkeit, icd, osteoporose, ergänzung, anschlussberufung, unfallversicherung

Oberlandesgericht Hamm, 20 U 89/05
Datum:
25.01.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
20. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 U 89/05
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 6 O 194/02
Tenor:
Die Berufung des Klägers und die Anschlussberufung der Beklagten
gegen das am 20.04.2005 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des
Landgerichts Bielefeld werden zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufungsinstanz werden zu 93 % dem Kläger und zu 7
% der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Den Parteien bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des nach dem Urteil
vollstreckbaren Betrages abzuwenden, sofern nicht die Gegenseite
zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages
erbringt.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe:
1
I.
2
Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer bei dieser im Jahre 1997 genommenen
Unfallversicherung (Versicherungssumme 145.000,00 DM), der die D.A.S AUB 94
zugrunde liegen, auf Zahlung einer (weiteren) Invaliditätsentschädigung in Anspruch.
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Am 29.09.2000 erlitt der Kläger beim Abkuppeln eines Anhängers einen Arbeitsunfall.
Das nicht richtig befestigte Stützrad kippte weg, so dass der Kläger die Last des
Anhängers kurzzeitig allein tragen musste. Der Kläger begab sich unmittelbar in
ärztliche Behandlung. Dort wurde eine frische Kompressionsfraktur des dritten
Lendenwirbelkörpers festgestellt.
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Der Kläger meldete der Beklagten den Unfall und beanspruchte eine
Invaliditätsentschädigung. Die Beklagte holte das fachorthopädische Gutachten des
Orthopäden Dr. U vom 15.10.2001 ein. Dieser stellte eine erhebliche Vorerkrankung
infolge einer erheblich herabgesetzten Knochenstabilität fest. Er schätzte den
Mitwirkungsanteil durch die Vorerkrankung auf wenigstens 50 % ein. Er kam zu dem
Ergebnis, dass unter Berücksichtigung der besonderen Lokalisation im mittleren
Lendenbereich als Folge des Unfalles eine Beeinträchtigung der körperlichen
Leistungsfähigkeit von maximal 10 % angenommen werden könne. Als weitere
Gesundheitsstörung stellte er einen "Verdacht einer neurotischen Fehlentwicklung,
möglicherweise auch somatoforme Schmerzstörung" fest und führte in diesem
Zusammenhang aus, dass eine solche psychische Erkrankung in der privaten
Unfallversicherung nicht eingeschlossen sei (Bl. 50, 56 d.A.).
5
Mit Schreiben vom 06.11.2001 rechnete die Beklagte – unter Bezugnahme auf das
Gutachten Dr. U - den Unfall auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 10 % (14.500,00
DM) unter Berücksichtigung eines Mitwirkungsanteiles von 50 % mit 7.250,00 DM ab.
6
Der Kläger hat eine unfallbedingte Invalidität von mindestens 80 % behauptet und
hierzu ausgeführt:
7
Eine Vorerkrankung – wie von Dr. U dargelegt – habe nicht bestanden. Vor dem Unfall
habe es keine Einschränkungen und Verletzungen gegeben, insb. keine
Knochenkalksalzminderung. Eine Behandlung der Lendenwirbel sei vor dem Unfall
nicht erforderlich gewesen. Seit dem Unfall leide er unter anhaltenden
Rückenschmerzen, die in das linke Bein ausstrahlen würden und unter
Geheinschränkungen. Der Bruch sei nicht stabil verheilt. Es komme zu einem tauben
Gefühl in beiden Beinen. Dies wirke sich insb. nachts aus, so dass er nur zwei bis drei
Stunden täglich schlafe. Unfallbedingt leide er auch unter einer Schwäche im linken
Bein sowie intermittierender Harn- und Stuhlinkontinenz. Die aufgetretenen
Schmerzerkrankungen und Störungen seien nicht psychischer Natur, es handele sich
dabei um neurologische, unfallbedingte Befunde.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn 55.602,99 € nebst 5 % Zinsen über dem
Basiszinssatz seit dem 21.12.2001 zu zahlen.
10
Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat die Ansicht vertreten, dass evtl. beim Kläger vorhandene weitergehende
psychische Beeinträchtigungen gemäß § 2 IV AUB 94 nicht entschädigungspflichtig
seien. Es handele sich um psychische Reaktionen, evtl. um eine neurotische
Fehlverarbeitung.
13
Das
Landgericht
X, welches der Sachverständige schriftlich ergänzt hat sowie ein neurologisches
Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. I eingeholt. Es hat – unter Abweisung der
Klage im Übrigen – die Beklagte zur Zahlung von 3.706,87 € verurteilt und hierzu
ausgeführt:
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Der Kläger habe Anspruch auf eine Invaliditätsentschädigung in Höhe von 10 %
(14.500,00 DM) und dementsprechend unter Berücksichtigung bereits gezahlter
7.500,00 DM von noch 7.500,00 DM (3.706,87 €). Dies folge aus dem Gutachten des
Sachverständigen Prof. Dr. X, der ebenso wie Dr. U diesen Invaliditätsgrad festgestellt
habe. Bei dem vom Sachverständigen festgestellten Invaliditätsgrad sei der
Mitwirkungsanteil bereits zum Unfallzeitpunkt vorhandener Erkrankungen berücksichtigt.
Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. I keine Unfallfolgen auf
neurologischem Gebiet festgestellt.
15
Mit der Berufung verfolgt der Kläger seinen erstinstanzlichen Antrag weiter:
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Das Gericht habe sich in unzulässiger Weise auf das Parteigutachten Dr. U berufen.
Das Gutachten Dr. X sei nicht verwertbar, zumindest unschlüssig und könne nicht zur
Entscheidungsfindung herangezogen werden. Es werde gerügt, dass das Gutachten
nicht von Dr. X erstellt worden sei. Dem Gutachten liege eine undifferenzierte
Untersuchung vor. Im Gutachten werde ausgeführt, dass die Durchführung von
projektionsradiographischen Aufnahmen erforderlich sei. Dieses sei aber nicht erfolgt.
Das Gutachten erläutere nicht, warum ein traumatischer Ursprung für den LWK 1 und 2
ausgeschlossen werden könne und bzgl. des LWK 3 nur eine Teilursache vorliege. Der
Kläger sei vor dem Unfallgeschehen im Klinikum I untersucht worden. Aus einer dort
gefertigten Röntgenaufnahme sei nicht ersichtlich, dass Verletzungen an der LWS
bestanden hätten. Die vom Sachverständigen festgestellte Kalksalzminderung existiere
nicht.
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Mit Schriftsatz vom 13.10.2005 behauptet der Kläger unter Berufung auf das - im
sozialgerichtlichen Verfahren vor dem LSG NRW, Az: L 17 U 238/03 eingeholte -
Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E vom 27.09.2005, dass er an einer
Somatisierungsstörung (ICD-10: F45 O), die "mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem
ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall vom 29.09.2000" stehe, leide. Allein
daraus habe sich eine MdE von 30 % ergeben. Es sei deshalb ein weiteres Gutachten
einzuholen.
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Der Kläger beantragt,
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1.) abändernd nach seinen zuletzt gestellten Anträgen zu entscheiden, soweit die
Klage abgewiesen worden ist,
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2.) die Anschlussberufung der Beklagten zurückzuweisen.
21
Die Beklagte beantragt,
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1.) die Berufung des Klägers zurückzuweisen,
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2.) teilweise abändernd die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
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Sie hält am Klageabweisungsantrag fest und greift im Wege der (unselbständigen)
Anschlussberufung das Urteil insoweit an, als das Landgericht angenommen hat, dass
beim Invaliditätsgrad von 10 % der Mitwirkungsanteil von 50 % bereits enthalten sei. Der
Kläger sei mit der erstmals mit der Berufung vorgetragenen Einwendung, Prof. Dr. X
habe das Gutachten nicht selbst verfasst, ausgeschlossen. Der Einwand sei auch
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unbegründet, da der Sachverständige sich die Auswertungen seiner Mitarbeitern Dr. G
zu eigen gemacht habe.
Die sachlichen Einwendungen des Klägers habe der Sachverständige bereits in seiner
Ergänzung vom 05.01.2004 zurückgewiesen. Eine Röntgenaufnahme könne das
Ergebnis einer MR-Tomographie vom 09.11.2000 nicht in Frage stellen. Auch in C sei
eine Kalksalzminderung festgestellt worden.
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Auf eine (bestrittene) Somatisierungsstörung komme es nicht an, da diese behauptete
Invalidität nicht innerhalb des ersten Jahres eingetreten und innerhalb weiterer drei
Monate ärztlich festgestellt worden sei. Auch könne der Kläger gesundheitliche
Spätschäden, die nach Ablauf von drei Jahren nach dem Unfall eingetreten seien, nicht
mehr geltend machen. Im Übrigen greife die Ausschlussklausel des § 2 Abs. 4 AUB.
27
Der Senat hat den Sachverständigen Prof. Dr. X ergänzend angehört. Wegen des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Berichterstattervermerk zum
Senatstermin vom 25.01.2006 verwiesen.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den
Inhalt der gewechselten Schriftsätze und der zu den Akten gereichten Anlagen Bezug
genommen.
29
II.
30
Die zulässigen Berufungen beider Parteien sind unbegründet. Das Urteil des
Landgerichts erweist sich im Ergebnis als zutreffend. Die Klage ist in Höhe der
zuerkannten 3.706,87 € nebst – nicht angegriffener – Zinsen begründet. Dem Kläger
steht gemäß §§ 7 I Nr. 1, Nr. 2 c AUB 94 in Verbindung mit dem Versicherungsvertrag
ein Anspruch auf Zahlung einer Invaliditätsentschädigung in dieser Höhe zu. Die
Invaliditätsentschädigung bemisst sich nach einem unfallbedingten Invaliditätsgrad des
Klägers von 10 %. Bei einer vereinbarten Versicherungssumme von 145.000,00 DM
entspricht das einem Betrag von 14.500,00 DM. Unter Berücksichtigung der von der
Beklagten bereits gezahlten 7.250,00 DM verbleibt noch ein Anspruch in Höhe von
7.250,00 DM (= 3.706,87 €), den das auch Landgericht ausgeurteilt hat. Die von beiden
Parteien mit ihren Rechtsmitteln hiergegen vorgebrachten Einwendungen erweisen sich
als unbegründet.
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1.) Gem. §§ 7 I Nr. 1 AUB 94 steht dem Kläger ein Anspruch auf Invaliditätsleistung zum
Ausgleich der aufgrund des Unfalls vom 29.09.2000 erlittenen dauernden
Beeinträchtigungen seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit zu. Dessen
Höhe richtet sich nach dem Grad der Invalidität (§ 7 I Nr. 2 AUB 94). Dabei legt die in § 7
I Nr. 2 a AUB 94 vereinbarte Gliedertaxe nach einem abstrakten und generellen
Maßstab feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder dem Verlust gleichgestellter
Funktionsfähigkeit der in ihr benannten Glieder fest. Für den Fall, dass durch den Unfall
Körperteile oder Sinnensorgane betroffen sind, die in der Gliedertaxe nicht aufgeführt
sind, ist es maßgebend, inwieweit die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit bei
medizinischer Betrachtungsweise beeinträchtigt ist (§ 7 I Nr. 2 c AUB 94).
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a) Die unfallbedingte für die Bemessung der Invaliditätsentschädigung relevante
Invalidität des Klägers auf
orthopädischem Fachgebiet
AUB).
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aa) Zwischen den Parteien ist nicht im Streit, dass der Kläger durch den Unfall und die
dadurch eingetretene Fraktur des LWK3 einen zu entschädigenden – orthopädischen -
Dauerschaden erlitten hat. Die Höhe der Invaliditätsentschädigung bemisst sich nach §
7 I Nr. 2 c AUB 94, da die Gliedertaxe bei einem Dauerschaden an der Wirbelsäule nicht
anwendbar ist.
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bb) Nach dem Ergebnis der ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme beträgt die
durch den Unfall eingetretene Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit des
Klägers im Ausgangswert 20 %. Dies folgt aus den widerspruchsfreien, von zutreffenden
tatsächlichen Feststellungen ausgehenden, nachvollziehbaren und deshalb
überzeugenden gutachterlichen Ausführungen und Schlussfolgerungen des
Sachverständigen Prof. Dr. X, der dem Senat als besonders sachkundig bekannt ist, im
schriftlichen Gutachten vom 11.09.2003, der Ergänzung vom 05.01.2004 in Verbindung
mit seinen Ausführungen im Senatstermin vom 25.01.2006. Der Sachverständige hat –
unter ergänzender Bezugnahme auf sein schriftliches Gutachten – ausgeführt, dass bei
der Bemessung der Leistungsminderung des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet
unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere auch der Schmerzsymptomatik,
von einem Grad von 20 % ausgehen ist. Dem schließt sich der Senat nach eigener
Prüfung an.
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cc) Dieser Invaliditätsgrad ist jedoch gemäß § 8 AUB 94 zu kürzen, da bei der
Gesundheitsbeschädigung und deren Folgen Krankheiten (regelwidriger Zustand, der
ärztliche Behandlung bedarf) oder Gebrechen (dauernder abnormer
Gesundheitszustand, der eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen –
teilweise nicht mehr zulässt) mitgewirkt haben.
36
(1) Nach den gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. X
bestanden bei dem Kläger bereits vor dem Unfall Wirbelkörperveränderungen. Es
handelte sich dabei nicht um einen normalen, altersbedingten Verschleiß (der nicht
unter § 8 AUB 94 fallen und eine Kürzung nicht rechtfertigen würde). Der Umstand, dass
der Kläger vor dem Unfall – nach eigenen Angaben – symptomlos gelebt hat, spricht
nicht gegen diese Bewertung. Zum einen ist eine evtl. Symptomlosigkeit aus
gutachterlicher Sicht nicht entscheidend. Zum anderen hat der Sachverständige die
krankhaften Veränderungen nach Auswertung der vorhandenen Aufnahmen (insb. der
zeitnahen MR-Tomographie der Wirbelsäule vom 09.11.2000) festgestellt. Diese haben
neben dem - frischen - Bruch auch ältere Veränderungen gezeigt. Der Sachverständige
hat die – unfallunabhängigen - Wirbelkörperveränderungen und den – unfallbedingten –
Bruch des LWK 3 insb. auf eine beim Kläger bereits vor dem Unfall vorhandene
Knochenkalksalzminderung und auf die hierauf beruhende verminderte Stabilität der
Wirbelkörper zurückgeführt. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang einwendet,
dass bei einer - nach dem Unfall - in einer Klinik in C durchgeführten Untersuchung eine
Kalksalzminderung nicht festgestellt worden sei, so ist dies unzutreffend. Ausweislich
des Arztbriefes von Prof. Dr. N vom 23.09.2003, der im Gutachten des Sachverständigen
Prof. Dr. I Erwähnung findet (Bl. 216 d.A.), ist in der Klinik in C eine Osteoporose
festgestellt worden. Im Gutachten von Prof. Dr. E vom 27.09.2005 wird in einer Diagnose
vom 29.11.2000 ebenfalls eine Osteoporose beschrieben (Bl. 340 d.A.). Bei einer
Osteoporose handelt es sich um eine Knochenkalksalzminderung.
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(2) Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. X, dem der Senat folgt,
tragen beide Ursachenketten in vergleichbarer Weise zur Invalidität des Klägers bei. Der
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Mitwirkungsanteil der Vorerkrankung an der Gesundheitsbeschädigung kann deshalb
mit 50 % eingeschätzt werden. Der Anteil beträgt somit mehr als 25 % (vgl. § 8 AUB 94),
so dass der Ausgangsinvaliditätsgrad entsprechend, also um 50 %, zu kürzen ist. Die zu
entschädigende Invalidität des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet beträgt somit 10
%.
dd) Die von dem Kläger gegen das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. X bzw.
gegen den Sachverständigen selbst vorgebrachten - weiteren - Einwendungen
verfangen nicht.
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(1) Das Gutachten ist nicht entgegen § 407 a ZPO erstellt worden. Der Sachverständige
hat durch die Erklärung "Einverstanden aufgrund eigener Urteilsbildung" (Bl. 114 d. A.)
volle Verantwortung für das Gutachten übernommen (vgl. hierzu OLG Frankfurt VersR
2004, 1121).
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(2) Das Landgericht hat sich – entgegen der Auffassung des Klägers – nicht auf das von
der Beklagten in Auftrag gegebene Gutachten von Dr. U vom 15.10.2001, sondern auf
das Gutachten von Prof. Dr. X gestützt. Aus dem Umstand, dass Prof. Dr. X die
gutachterliche Einschätzung von Dr. U teilt, kann der Kläger nichts Gegenteiliges
herleiten.
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(3) Zu dem - bereits erstinstanzlich erhoben – Einwand des Klägers, der
Sachverständige habe eine von ihm für erforderlich gehaltene Untersuchung nicht
durchgeführt, hat der Sachverständige bereits in seiner Ergänzung vom 05.01.2004 (Bl.
145 d.A.) nachvollziehbar und erschöpfend Stellung genommen. Der Senat nimmt
hierauf Bezug.
42
b) Demnach hat die Beklagte auf orthopädischem Fachgebiet einen Invaliditätsgrad von
10 % zu entschädigen.
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2.) Eine unfallbedingte Invalidität auf
neurologischem Fachgebiet
nicht. Das hat das Landgericht unter Berufung auf das Gutachten des Sachverständigen
Prof. Dr. I vom 13.12.2004 (Bl. 202 ff. d.A.) ausführlich und nachvollziehbar begründet.
Der Kläger greift diese Feststellungen nicht an (§§ 529 Abs. 1 Nr. 1, 520 Abs. 3 ZPO).
44
3.) Bei der Bemessung der dem Kläger zustehenden Invaliditätsentschädigung sind
unfallbedingte - Beeinträchtigungen der geistigen oder körperlichen Leistungsfähigkeit,
die auf psychischen bzw. psychiatrischen Fachgebiet bestehen,
nicht
berücksichtigen.
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a) Der Kläger beruft sich zur Begründung seines Anspruches in der Berufungsinstanz
(auch) auf das im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten
von Prof. Dr. E vom 27.09.2005 (Bl. 339 ff. d.A.). Er macht in diesem Zusammenhang
geltend, dass die von ihm vorgetragenen dauerhaften Gefühlsstörungen und
Schwächezustände am linken Bein sowie die Blasen- und
Mastdarmentleerungsstörungen (Inkontinenz) und die damit verbundenen
Durchschlafstörungen auf eine unfallbedingte Somatisierungstörung (ICD-10: F45.0)
beruhten und daher von der Beklagten zu entschädigen seien.
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b) Auf der Grundlage der im Gutachten enthaltenen Feststellungen, die sich der Kläger
zu eigen macht, hat die Beklagte evtl. im Zusammenhang mit einer
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Somatisierungsstörung stehende Dauerfolgen (Gefühlsstörungen, Inkontinenz etc, s.o.)
nicht zu entschädigen. Denn diese Folgen fallen nicht unter den Versicherungsschutz.
aa) Entgegen der Auffassung der Beklagten kann dem Kläger allerdings nicht gemäß §§
531 Abs. 2, 520 ZPO entgegengehalten werden, dass er sich bereits erstinstanzlich auf
das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E bzw. auf die entsprechenden
Feststellungen hätte berufen müssen. Das Sachverständigengutachten datiert vom
27.09.2005, so dass es dem Kläger nicht möglich war, dessen Inhalt bereits
erstinstanzlich vorzutragen (§ 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Auch innerhalb der bis zum
25.07.2005 laufenden – verlängerten – Berufungsbegründungsfrist war dies dem Kläger
nicht möglich.
48
bb) Der Senat kann letztlich offen lassen, ob sämtliche formellen Voraussetzungen für
die Zuerkennung einer Invaliditätsentschädigung auf psychischem bzw.
psychiatrischem Fachgebiet vorliegen.
49
(a) Zwar dürfte die Somatierungstörung insbesondere innerhalb eines Jahres nach dem
Unfall vom 29.09.2000 eingetreten und innerhalb von 15 Monaten ärztlich festgestellt
worden sein (§ 7 I Nr. 1 Satz 3 AUB 94).
50
Entsprechende Feststellungen finden sich bereits im – auf Veranlassung der Beklagten
– vom Sachverständigen Dr. U erstatteten Gutachten vom 15.10.2001. Dr. U hat – auch
auf der Grundlage der vom Kläger bereits zum damaligen Zeitpunkt beschriebenen
Taubheitsgefühle und Inkontinenzbeschwerden, Bl. 41 d.A. - insb. folgende
Feststelllungen getroffen
51
""Heute finden sich folgende Gesundheitsstörungen:
52
………………..
53
Verdacht einer neurotischen Fehlentwicklung, möglicherweise auch somatoformen
Schmerzstörung" (Bl. 50 d.A.):.
54
"Entscheidend tritt aber auch eine offensichtliche neurotische Fehlentwicklung
hinzu, möglicherweise auch im Sinne einer somatoformen Schmerzstörung zu
deuten" (Bl. 56 d.A.).
55
Nach Auffassung des Senats impliziert die Verwendung des Ausdrucks "neurotische
Fehlentwicklung" die Unfallbedingtheit und die Dauerhaftigkeit der Erkrankung.
56
Soweit der Sachverständige weiter ausführt, dass "eine solche psychische Erkrankung
grundsätzlich in der privaten Unfallversicherung nicht eingeschlossen" sei (Bl. 56 d.A.),
so wird hierdurch die Richtigkeit der vorangegangen Aussage in Bezug auf die
Unfallbedingtheit nicht in Zweifel gezogen. Denn es handelt sich bei dieser Aussage
nicht um eine tatsächliche Feststellung in medizinischer Hinsicht, zu der der
Sachverständige berufen ist, sondern um eine rechtliche Bewertung, die dem
Sachverständigen weder obliegt noch zusteht.
57
(b) Dem Kläger dürfte auch nicht vorgeworfen werden können, die auf die
Somatisierungsstörung zurückzuführende Invalidität nicht fristgerecht (15 Monate nach
dem Unfall) geltend gemacht zu haben. Zwar ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger
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innerhalb dieser Frist der
Beklagten
Somatisierungsstörung ausgelösten Gefühlsstörungen im Bein und auf die Inkontinenz
etc. berufen hat. Dies ist jedoch unschädlich. Denn der Kläger beruft sich (auch) darauf,
dass es sich bei den geklagten Beschwerden um Folgen der unstreitig fristgerecht
geltend gemachten Invalidität aufgrund der Kompressionsfraktur des LWK mit der Folge
eines höheren Invaliditätsgrades handelt. Das reicht aus.
Entgegen der Auffassung der Beklagten (vgl. Schriftsatz vom 19.10.2005, Bl. 358) sind
diese Schäden nicht nach Ablauf von drei Jahren nach dem Unfall eingetreten.
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Dies folgt aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. E, der seinen
Feststellungen im Gutachten vom 27.09.2005 u.a. Befunde aus dem Jahr 2002
zugrunde gelegt hat (vgl. Bl. 340/341 d.A.).
60
cc) Letztlich braucht der Senat zur Frage des Vorliegens der formellen
Anspruchsvoraussetzungen nicht abschließend Stellung zu nehmen. Denn mögliche
unfallbedingte Dauerfolgen des Klägers, die auf einer Somatisierungsstörung beruhen,
sind nach § 2 IV AUB 94 vom Unfallversicherungsschutz ausgeschlossen. Bei den vom
Kläger dargelegten Folgen der Somatisierungsstörung handelt sich um
krankhafte
Störungen infolge psychischer Reaktionen
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(1) Die Klausel des § 2 IV AUB 88 – identisch mit dem hier relevanten § 2 IV AUB 94 -
ist nach der Rechtsprechung des BGH, die vom Senat geteilt wird, wirksam (vgl. BGH,
Urteil vom 23.06.2004, Az: IV ZR 130/03, BGHZ 159, 360 = VersR 2004, 1039; Urteil
vom 29.09.2004, Az: IV ZR 233/03, NJW-RR 2005, 32).
62
(2) Der Bundesgerichtshof hat in den vorgenannten Urteilen weiter ausgesprochen,
dass der Ausschluss nicht greife "[f]ür den gesamten Bereich physisch vermittelter
Unfallschädigungen" (BGHZ 159, 360 unter II 2 b aa letzter Absatz, vgl. auch ebd. unter
II 2 b cc: "durch den Unfall körperlich/organisch betroffen sein muss"; VersR 2004, 1449
unter 2 a (2) letzter Absatz) und auch nicht "für organische Schädigungen, die ihrerseits
zu einem psychischen Leiden führen" (VersR 2004, 1449 unter 2 b (2)). Er hat diese
Aussage freilich zugleich wieder eingeschränkt und u.a. dahin formuliert, dass
Beeinträchtigungen nicht versichert seien, die allein durch ihre psychogene Natur erklärt
werden können (BGHZ 159, 360 unter II 1 b; VersR 2004, 1449 unter 2 a (1)). In
welchem Umfang psychische Folgen eines unfallbedingten Körperschadens versichert
sind, erscheint hiernach noch nicht abschließend geklärt. Nach Auffassung des
erkennenden Senats ist der letztgenannte Punkt entscheidend: Von den Folgen eines
unfallbedingten Körperschadens sind diejenigen versichert, die etwa in Anbetracht der
Schwere des Unfalls oder der eingetretenen Körperschäden gleichsam verständlich
oder nachvollziehbar sind und deshalb nicht allein durch ihre psychogene Natur erklärt
werden können. Auch bei (mittelbaren) Folgen eines unfallbedingten Körperschadens
greift der Ausschluss aber dann, wenn eine Beeinträchtigung nur durch ihre psychogene
Natur erklärt werden kann. Letzteres wird insbesondere regelmäßig anzunehmen sein,
wenn der Unfall und seine physischen Folgen nur Auslöser einer (evtl. auch latent
schon vorhandenen) psychischen Erkrankung sind.
63
dd) Bei der im Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E festgestellten
Somatisierungsstörung handelt es sich um eine psychische Reaktion im Sinne der
vorangegangenen Ausführungen, so dass evtl. darauf beruhende krankhafte Störungen
(Inkontinenz etc.) vom Unfallversicherungsschutz ausgeschlossen sind. Denn nach den
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(Inkontinenz etc.) vom Unfallversicherungsschutz ausgeschlossen sind. Denn nach den
Ausführungen des Sachverständigen sind die weitergehenden Folgen nicht durch den
Bruch des LWK3 (unfallbedingte organische Schädigung unmittelbar) physisch
verursacht, sondern sind psychogenen Ursprungs und beruhen auf einer beim Kläger
vorhandenen Somatisierungsstörung.
(1) Der Sachverständige Prof. Dr. E hat in diesem Zusammenhang im Wesentlichen
folgende Feststellungen getroffen:
65
"Bei Herrn L liegt aus psychosomatisch-psychotherapeutischer Sicht eine
Somatisierungsstörung (ICD: F45.0) vor. Die Störung steht mit hoher Wahrscheinlichkeit
in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall vom 29.09.2000. Für
diesen Zusammenhang spricht die Tatsache, dass Herr L zuvor in seinem Leben
niemals psychisch krank und beruflich leistungsfähig war. Es ist allerdings nicht
auszuschließen, dass, wäre der Arbeitsunfall nicht eingetreten, früher oder später ein
anderes Unfallereignis eine ähnliche Entwicklung ausgelöst hätte. Dies wäre
insbesondere dann denkbar, wenn Herr L am Arbeitsplatz weitere Kränkungen und
Enttäuschungen hinzunehmen gehabt hätte.
66
Gemäß den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht wird folgende Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit
durch die Somatisierungsstörung gegeben: 30 %. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit
hat seit dem Unfallereignis am 29.09.2000 bestanden" (Bl. 349R/350 d.A.).
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"Die internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10,
Weltgesundheitsorganisation, 200) definiert diese Störungen wie folgt: Charakteristisch
sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die
meist bereits seit einige Jahren bestanden haben, bevor der Patient zum Psychiater
überwiesen wird. Die meisten haben in der Primärversorgung und in spezialisierten
medizinischen Einrichtungen eine lange und komplizierte Patientenkarriere hinter sich,
mit vielen Untersuchungen und ergebnislosen Operationen. Die Symptome können sich
auf jeden Köperteil oder jedes Körpersystem beziehen (…)" (Bl. 348 R d.A.)
68
"Es handelt sich bei Herrn L um die folgenden Symptome, die meines Erachtens im
Rahmen der Somatisierungsstörung zu verstehen sind:
69
- Schmerzen in den Beinen,
70
- Schwächegefühl in den Beinen,
71
-Verminderte Empfindungsfähigkeit in den Beinen,
72
- Stuhl- und Harninkontinenz,
73
- Sexuelle Funktionsstörung (Erektionsstörung)" (Bl. 348 R/349 d.A.)
74
"Herr L ist fest davon überzeugt, dass seine Beschwerden eine körperliche Ursache
haben, die nur deshalb nicht gefunden wurde, weil Ärzte und Gutachter ihn nicht
gründlich genug untersucht haben…Alle Symptome gemeinsam haben den
"unbewussten Sinn", Herrn L vor weiteren narzisstischen Kränkungen zu schützen und
sein Selbstwertgefühl zu stabilisieren" (Bl. 349 d.A.)
75
" Bei der Somatisierungsstörung handelt es sich dagegen um multiple, wiederholt
auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die sich auf mehrere
Körperteile oder Körpersysteme beziehen. In beiden Fällen sind die Betroffenen
üblicherweise davon überzeugt, dass für die Symptome eine körperliche Ursache
vorliegt. Das fluktuierende Auftreten von Schmerz, Schwächegefühl und
Sensibilitätsstörung in den Beinen sowie die Harn- und Stuhlinkontinenz ohne
organische Ursache haben mich zu der Diagnose einer Somatisierungsstörung
bewogen" (Bl. 350 R/351 d.A.).
76
(2) Diesen Feststellungen ist zu entnehmen, dass die Störungen, auf welche der Kläger
die weitergehende Invalidität stützt,
keine unmittelbare organische
Sie werden nicht unmittelbar durch den – unfallbedingten - Bruch des LWK3 oder die
daraus resultierenden Beschwerden hervorgerufen. Bei den geklagten Beschwerden
handelt es sich um Symptome einer bestehenden
psychischen Erkrankung
Form der Somatisierungsstörung. Diese steht zwar höchstwahrscheinlich im
Zusammenhang mit dem Unfall vom 29.09.2000, ist also dadurch ausgelöst worden,
hätte aber auch durch ein anderes Ereignis auftreten können. Insoweit hat sich durch
das Unfallereignis lediglich eine beim Kläger aufgrund seiner narzisstischen
Persönlichkeitsstruktur latent bestehende "Veranlagung" manifestiert. Der Unfall ist als
auslösendes Moment einer bereits vor dem Unfall bestehenden Vulnerabilität zu
bewerten (vgl. Bl. 346/347 d.A.). Durch die Beschwerden "schützt" sich der Kläger –
unbewusst – vor weiteren narzisstischen Kränkungen; sie "helfen" ihm, sein
Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Der Kläger reagiert damit psychisch auf die in seinem
Leben aufgetretenen Probleme (Familie, Arbeitsplatz, vgl. Bl. 344 ff. d.A.), die er bislang
nicht hinreichend aufgearbeitet hat.
77
4.) Ist von einer unfallbedingten Gesamtinvalidität des Klägers von 10 % auszugehen,
steht ihm – wie vom Landgericht ausgeführt – lediglich eine Invaliditätsentschädigung
von insgesamt 14.500,00 DM zu, so dass sowohl die Berufung des Klägers als auch die
Berufung der Beklagten unbegründet sind.
78
III.
79
Der Senat hat die Revision nach § 543 ZPO Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 zugelassen. Die
Zulassung bezieht sich auf den Inhalt und die Reichweite der in § 2 IV AUB 94
aufgenommenen "Psychoklausel", die durch die genannten Urteile des BGH nicht
abschließend geklärt worden ist.
80
IV.
81
Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
82