Urteil des OLG Hamm vom 22.04.1997

OLG Hamm (kläger, adäquate kausalität, stationäre behandlung, schmerzensgeld, 1995, ausgleich, fahrlässigkeit, unfall, unterlassen, obhut)

Oberlandesgericht Hamm, 27 U 22/97
Datum:
22.04.1997
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
27. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
27 U 22/97
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 21 O 49/95
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird - unter Zurückweisung des
Rechtsmittels im übrigen - das am 25. September 1996 verkündete Urteil
der 21. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 6.000,00 DM nebst 4 %
Zinsen seit dem 15. April 1995 zu zahlen.
Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger
sämtlichen materiellen und immateriellen Zukunftsschaden zu ersetzen,
der aus dem Schadensereignis vom 30. März 1994 auf der ... in
...entstehen wird, soweit die Ansprüche nicht auf
Sozialversicherungsträger übergegangen sind.
Im übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Der am 31. Oktober 1989 geborene Kläger begehrt von der Beklagten vollen Ersatz
seiner immateriellen Schäden (Schmerzensgeldvorstellung: 15.000,00 DM) sowie die
Feststellung der uneingeschränkten künftigen Ersatzpflicht aufgrund eines
Verkehrsunfalls am 30. März 1994 innerorts von ... auf der ... weil er von seinem Dreirad,
das von der Kinderpflegerin ... in einer aus sechs Kindern und drei Betreuerinnen
bestehenden Kindergartengruppe auf dem nördlichen Gehweg mittels einer
Schiebestange geschoben wurde, abgesprungen und zur Straße gelaufen war und dort
von dem Pkw ... der Pkw-Führerin ... erfaßt worden war, nachdem die ihm als Fahrerin
des ihn regelmäßig zum Kindergarten befördernden Behindertenbusses bekannte
Beklagte ihm von der gegenüberliegenden Straßenseite zugerufen hatte: " ..., bei ... war
schon der Osterhase!".
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Der Kläger hat den Unfall, bei dem er eine Fraktur des linken Oberschenkels erlitt, auf
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ein Verschulden der Beklagten zurückgeführt und behauptet, diese hätte ihn trotz seiner
ihr bekannten Hyperaktivität mehrfach angerufen, obgleich die Betreuerinnen sie
aufgefordert hätten, dies zu unterlassen.
Das Landgericht hat die Klage nach Auswertung der Ermittlungsakten 61 Js 695/94 der
Staatsanwaltschaft Dortmund abgewiesen, weil der Beklagten angesichts der
Beaufsichtigung der Kindergartengruppe durch 3 Betreuerinnen kein
Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen sei. Auf die Berufung des Klägers ist dieses Urteil
vom Senat gem. § 539 ZPO aufgehoben worden, weil die Kammer es versäumt habe,
den Beweisantritten beider Parteien nachzugehen und den konkreten Unfallverlauf
aufzuklären.
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Das Landgericht hat die Klage nach uneidlicher Vernehmung der Zeugen ... und ...
erneut abgewiesen, weil sich ein Verschulden der Beklagten nicht feststellen lasse. Für
diese sei nicht voraussehbar gewesen, daß der Kläger auf ihren Zuruf auf die Straße
laufen würde, da er sich in sicherer Obhut befunden habe.
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Gegen dieses Urteil, auf das wegen der Einzelheiten verwiesen wird, richtet sich die
Berufung des Klägers, der der Beklagten nach wie vor Fahrlässigkeit vorwirft. Diese
habe aufgrund seiner - ihr unstreitig bekannten - Hyperaktivität mit seiner
Spontanreaktion rechnen und zudem berücksichtigen müssen, daß er nicht an der Hand
geführt worden sei, sondern sich in einer gewissen räumlichen Distanz von der
Aufsichtsperson auf dem Dreirad befunden habe.
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Der Kläger beantragt,
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abändernd
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1.
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in
das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 4 % Zinsen seit dem 15. April 1995
(Rechtshängigkeit) zu zahlen,
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2.
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festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtlichen materiellen und
immateriellen Zukunftsschaden zu ersetzen, soweit er nicht auf
Sozialversicherungsträger übergegangen ist.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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Der Senat hat den Zeugen ... uneidlich als Zeugen vernommen und die Pflegeeltern des
Klägers zu dessen noch vorhandenen unfallbedingten Beschwerden angehört. Insoweit
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wird auf den Vermerk des Berichterstatters zur mündlichen Verhandlung vom 22. April
1997 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Berufung hat teilweise Erfolg.
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Die Beklagte ist dem Kläger gemäß § 823 Abs. 1 BGB zu vollem Schadensersatz
verpflichtet (1.). Der Kläger kann deshalb gemäß §§ 847, 823 BGB zum Ausgleich des
erlittenen immateriellen Schadens ein Schmerzensgeld von 6.000,00 DM beanspruchen
(2.). Auch sein Feststellungsbegehren ist begründet (3.).
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1.
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Die adäquate Kausalität des Zurufes der Beklagten für die Verletzung des Klägers steht
außer Frage, da sich der Geschehensablauf nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht
als ungewöhnlich oder gänzlich unwahrscheinlich darstellt und der
Zurechnungszusammenhang durch ein etwaiges Versagen der Betreuerin ... oder der
Pkw-Führerin ... nicht unterbrochen wird.
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Der Beklagten ist eine (leicht) fahrlässige Verursachung des Unfalls vorzuwerfen, weil
das Unfallgeschehen für sie voraussehbar und durch Unterlassen des Zurufs ohne
weiteres vermeidbar war. Der Frage, ob sie den Kläger mehrfach angerufen hat, kommt
dabei keine entscheidende Bedeutung zu.
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Daß ein auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindliches Kind im Alter von etwa 4
Jahren auf den Zuruf einer ihm gut bekannten Person reagiert, indem es über die Straße
auf diese zuläuft, und daß es dabei von einem Fahrzeug erfaßt werden kann, entspricht
dem Wissensstand eines jeden verständigen Erwachsenen, denn es ist allgemein
bekannt, daß Kinder diesen Alters zu einer rationalen Steuerung ihres Verhaltens nur
begrenzt in der Lage sind und regelmäßig unvermittelt und schnell auf derartige Reize
reagieren, ohne die Gefahren des Straßenverkehrs zu berücksichtigen. Die Beklagte
mußte deshalb damit rechnen, daß der Kläger auf ihren Zuruf vom Dreirad springen und
versuchen würde, über die Straße zu ihr zu laufen. Dies gilt um so mehr, als ihr Zuruf,
der Osterhase sei schon bei ihr gewesen, das Interesse des Klägers wecken mußte und
von diesem sogar so verstanden werden konnte, als habe die Beklagte etwas für ihn.
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Die Beklagte durfte auch nicht darauf vertrauen, der Kläger würde sich in sicherer Obhut
einer erwachsenen Aufsichtsperson befinden, die den Versuch des Klägers, plötzlich
vom geschobenen Dreirad abzuspringen und zu ihr - der Beklagten - zu laufen, auf
jeden Fall unterbinden könne. Denn für sie war erkennbar, daß die Betreuerin den
Kläger nicht an der Hand führte und somit keinen unmittelbaren Zugriff auf diesen hatte,
sondern ihn mittels Stange auf dem - somit etwa 1 m entfernten - Dreirad schob.
Vernünftigerweise mußte die Beklagte deshalb damit rechnen, daß aus ihrem Zuruf eine
gefährliche Situation entstehen konnte, weil die Betreuerin zumindest erhebliche
Schwierigkeiten haben würde, den Kläger festzuhalten, wenn dieser plötzlich zur
allenfalls etwa 2 m entfernten Fahrbahn laufen würde. Darauf, daß der Betreuerin dies
gelingen würde, durfte die Beklagte schon deshalb nicht vertrauen, weil ihr nach dem
Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme die Hyperaktivität des Klägers, die sich
in besonderer Lebhaftigkeit und Schnelligkeit äußerte, bekannt war, worauf sie selbst
die Zeugin ... nach dem Unfall hingewiesen hat. Dieses Verhalten des Klägers konnte
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ihr aufgrund ihrer täglichen Kontakte mit ihm im übrigen kaum verborgen geblieben sein.
Ob neben der Fahrlässigkeit der Beklagten auch ein Versagen der Betreuerin ... oder
der Pkw-Führerin für den Unfall mitursächlich war, ist für die uneingeschränkte Haftung
der Beklagten ohne Belang, denn der Kläger müßte sich dieses unter keinem
rechtlichen Gesichtspunkt anspruchsmindernd zurechnen lassen. Eine
Anspruchsminderung gem. §§ 254, 278 BGB kommt mangels vertraglicher Beziehung,
die Anwendung des § 831 BGB sowie die Annahme einer "Zurechnungseinheit"
mangels Schuldfähigkeit des Klägers nicht in Betracht (vgl. hierzu KG in NZV 1995, 109
ff.).
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2.
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Zum Ausgleich des immateriellen Schadens des Klägers erscheint dem Senat ein
Schmerzensgeld von 6.000,00 DM angemessen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die
noch am Unfalltage operativ mittels Plattenosteosynthese versorgte Oberschenkelfraktur
relativ komplikationslos ausgeheilt ist und daß deren stationäre Behandlung nur etwa 2
Wochen dauerte.
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Als Verletzungsfolge ist bis heute eine - relativ geringfügige - Beinlängendifferenz von
0,8 cm verblieben, die dem Kläger nach längeren Belastungen Rückenbeschwerden
infolge Beckenschiefstandes verursacht und die in einigen Jahren einer weiteren
Behandlung bedarf, falls sie bis dahin nicht durch Wachstum ausgeglichen ist.
Außerdem ist eine reizlose, etwa 10 cm lange Narbe am Oberschenkel verblieben, die
den Kläger psychisch belastet und möglicherweise später einer kosmetischen
Korrekturbehandlung bedarf. Unter Berücksichtigung dieser Unfallfolgen, aber auch der
nur einfachen Fahrlässigkeit der Beklagten ist ein Schmerzensgeld von 6.000,00 DM
zum Ausgleich des immateriellen Schadens angemessen.
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3.
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Das Feststellungsbegehren ist begründet, da die nicht fernliegende ernsthafte
Möglichkeit des Eintritts künftiger Schäden, etwa infolge weiterer Behandlungen der
Beinlängendifferenz oder der Narbe, besteht.
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 und 708 Nr. 10 ZPO.
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Die Urteilsbeschwer beider Parteien liegt unter 60.000,00 DM.
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