Urteil des OLG Hamm vom 08.04.2001

OLG Hamm: staatliches handeln, stadt, verordnung, bevölkerung, persönlichkeit, tierhaltung, zusammenwirken, angemessenheit, vorrang, verfassungsrecht

Oberlandesgericht Hamm, 5 Ss OWi 1225/00
Datum:
08.04.2001
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
5. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 Ss OWi 1225/00
Vorinstanz:
Amtsgericht Lünen, 16 OWi 77 Js 254/00 - 194/00
Tenor:
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Der Betroffene wird auf Kosten der Landeskasse, die auch seine
notwendigen Auslagen trägt, freigesprochen.
Gründe:
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I.
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Das Amtsgericht Lünen hat gegen den Betroffenen wegen vorsätzlichen Verstoßes
gegen § 7 der Ordnungsbehördlichen Verordnung der Stadt L in zwei Fällen jeweils
eine Geldbuße in Höhe von 100,00 DM verhängt.
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Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen ging der Betroffene mit seinem Hund am 10.
März 2000 gegen 6.43 Uhr und am 7. April 2000 gegen 7.13 Uhr in L spazieren, ohne
diesen angeleint zu haben.
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Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 der Ordnungsbehördlichen Verordnung der Stadt L über die
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Stadt L vom 1. Oktober
1991 in der Fassung vom 23. November 1998, in Kraft getreten am 1. Januar 1999,
dürfen Hunde auf Verkehrsflächen und in Anlagen nur an einer 1 m kurzen Leine und
nur von solchen Personen geführt werden, die ausreichend auf sie einwirken können.
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Ein vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstoß gegen die genannte Vorschrift kann gemäß §
16 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 der genannten Ordnungsbehördlichen Verordnung mit einer
Geldbuße geahndet werden.
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Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde vom 19. September
2000, deren Zulassung er zugleich beantragt hat. Er macht unter anderem geltend, die
fragliche Bestimmung über die Anleinpflicht verstoße gegen das verfassungsrechtliche
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Übermaßverbot.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Antrag auf Zulassung der
Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.
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II.
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Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zur
Fortbildung des Rechts geboten. Klärungsbedürftig ist die Frage der
Verfassungsgemäßkeit der fraglichen ordnungsbehördlichen Bestimmung.
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Die somit zulässige Rechtsbeschwerde führt zu Aufhebung des angefochtenen Urteils
und zum Freispruch des Betroffenen.
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Grundsätzlich verstößt ein ordnungsbehördlich geregelter allgemeiner Leinenzwang für
Hunde weder gegen das höherrangige bundesrechtliche Tierschutzgesetz noch
Verfassungsrecht (vgl. OLG Hamm JMBl NW 1988, 69; OLG Düsseldorf VRS 82, 59).
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Eine Regelung, wonach ohne Rücksicht auf Art und Größe der Hunderassen für das
gesamte Gemeindegebiet ohne zeitliche Ausnahme ein genereller Leinenzwang
besteht, ist jedoch unverhältnis-
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mäßig und damit, als Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot,
unzulässig.
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Staatliches Handeln genügt, wenn es subjektive Rechte der Bürger beeinträchtigt, nur
dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn es geeignet, erforderlich und im
Einzelfall angemessen ist, um den verfolgten öffentlichen Zwecken zum Erfolg zu
verhelfen. Zweck und Mittel müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen
(BVerfGE 65,1 [54]; 76,1 [51]; 92, 262 [273]).
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Der Leinenzwang dient dem Schutz der Bevölkerung vor Gefahren und Belästigungen,
die von frei umherlaufenden Hunden ausgehen. Demgegenüber steht das Recht des
Hundehalters auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und das Interesse an
artgerechter Tierhaltung. Ersterem ist grundsätzlich, aus Gründen der Gefahrenabwehr,
weitgehend Vorrang einzuräumen. Nach Auffassung des Senats ist es jedoch nicht
erforderlich und angemessen, aus diesem Grunde den Leinenzwang auf das gesamte
Gemeindegebiet zeitlich unbeschränkt auszudehnen.
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Die Begriffsbestimmungen in § 1 der fraglichen Verordnung der Stadt L lassen Flächen,
auf denen kein Anleinzwang besteht, nicht erkennen. Wie der räumliche, so ist auch der
zeitliche Geltungsbereich nicht eingeschränkt. Ebenso wenig wird nach Art und Größe
der Hunderassen differenziert. Damit wird dem Interesse und Anspruch (eines Teils) der
Bevölkerung, vor Gefahren und Belästigungen durch freilaufende Hunde geschützt zu
werden, einseitig Rechnung getragen. Um diesen Zweck zu erreichen, reicht es aber
auch aus, wenn kommunale Verordnungen im Zusammenwirken mit der Nordrhein-
Westfälischen Landeshundeverordnung einen weitgehenden Leinenzwang anordnen,
beschränkte öffentliche Flächen, die als solche kenntlich gemacht sind, davon jedoch,
jedenfalls zu bestimmten Zeiten, ausnehmen.
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Die (teilweise) fehlende Erforderlichkeit und Angemessenheit der fraglichen Regelung
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macht diese unwirksam, so dass eine Verurteilung darauf nicht gestützt werden kann.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und der Betroffene mit der Kostenfolge
aus § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO freizusprechen.
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III.
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Die Entscheidung über die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 a Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 OWiG durch einen Richter, die Entscheidung über die zugelassene
Rechtsbeschwerde durch drei Richter ergangen (vgl. Göhler, OWiG, 12. Aufl., § 80 a
Rdnr. 4).
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