Urteil des OLG Hamm vom 12.03.2009

OLG Hamm: gefahr im verzuge, befragung von zeugen, im bewusstsein, körperliche unversehrtheit, blutentnahme, rüge, blutprobe, beweisverwertungsverbot, bak, ausnahme

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss 31/09
Datum:
12.03.2009
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss 31/09
Vorinstanz:
Amtsgericht Lemgo, 24 Ds 332/08
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendrichter
zuständige Abteilung des Amtsgerichts Lemgo zurückverwiesen.
Gründe
1
I.
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Der Jugendrichter beim Amtsgericht Lemgo hat den Angeklagten wegen Vollrausches
mit einer Geldbuße von 900,- Euro, zahlbar zu Gunsten einer gemeinnützigen
Einrichtung belegt und ihm ferner die Fahrerlaubnis entzogen, den Führerschein
eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, ihm vor Ablauf von 15 Monaten
keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.
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Nach den Feststellungen des Amtsgerichts hatte der Angeklagte am 01.05.2008
(Maifeiertag) erheblich dem Alkohol zugesprochen und sich aus Unachtsamkeit in einen
erheblichen Rauschzustand versetzt. In diesem Zustand fuhr er um 19.05 Uhr mit einem
PKW durch die Ortschaft L2 und kam infolge alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit von der
Fahrbahn ab, geriet frontal mit beiden Vorderrädern über die Bordsteinkante, wobei die
Vorderreifen platzten, befuhr eine kleine Rasenfläche, überfuhr ein Hinweisschild und
einen Zaun auf einer Länge von etwa 5 Metern. Auch das vom Angeklagten geführte
Fahrzeug wurde beschädigt. Ohne wegen der Schäden die Feststellung seiner
Personalien zu ermöglichen und nunmehr im Bewusstsein der alkoholbedingten
Fahruntüchtigkeit setzte der Angeklagte die Fahrt fort und fuhr mit quietschenden
Reifen, mit den Vorderrädern auf den Felgen fahrend, davon. Beinahe kollidierte er
dabei mit einem anderen fahrenden PKW. Schließlich parkte er das Fahrzeug vor
seinem Wohnhaus und legte sich ins Bett. Die um 20.08 Uhr auf Anordnung eines
Polizeibeamten entnommene Blutprobe ergab einen BAK-Wert von 2,6 Promille.
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Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision. Er rügt die Verletzung
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formellen und materiellen Rechts.
II.
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Die Revision des Angeklagten hat mit der Rüge der Verletzung des § 81a StPO in
vollem Umfang Erfolg.
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1.
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Der Rüge liegen folgende, von der Revision vorgetragene Verfahrenstatsachen zu
Grunde:
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Nachdem die von Zeugen des Vorfalls herbeigerufenen Polizeibeamten nach 19:35 Uhr
vor dem Haus, in dem der Angeklagte bei seinen Eltern wohnt, eingetroffen und dort den
Vater des Angeklagten beim Reifenwechsel an dem Tatfahrzeug angetroffen hatten,
geriet der Tatverdacht schnell auf den Angeklagten. Dieser wurde geweckt und fiel
durch schwankenden Gang und Stand sowie Atemalkoholgeruch auf. Einen Alkoholtest
lehnte er ab. Darauf hin ordnete der Polizeibeamte, POK H., auf der Grundlage des §
81a StPO eine Blutentnahme an, ohne zuvor Kontakt mit der Staatsanwaltschaft oder
dem Ermittlungsrichter aufgenommen oder dies versucht zu haben. Im angefochtenen
Urteil heißt es insoweit: "Im vorliegenden Fall hatte die Polizei entsprechend der
langjährigen Praxis die Anordnung einer Blutprobe ohne vorherige Einschaltung der
Staatsanwaltschaft und des Amtsgerichts getroffen."
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Der Angeklagte leistete der Anordnung widerspruchslos Folge. Die Blutprobe wurde um
20.08 Uhr im Klinikum M entnommen. Ein sog. "Nachtrunk" hat nicht stattgefunden.
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Bereits zu Beginn der Hauptverhandlung meldete der Verteidiger des Angeklagten
Bedenken im Hinblick auf die Verwertung des auf der entnommenen Blutprobe
basierenden BAK-Gutachtens wegen Verletzung des Richtervorbehalts an und
widersprach der Verlesung und Verwertung noch vor Verlesung des Gutachtens in der
Hauptverhandlung. Darauf verkündete das Gericht den Beschluss, dass das Gutachten
verlesen und verwertet werden solle. Es wurde sodann durch Verlesung in die
Hauptverhandlung eingeführt.
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2.
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Die Rüge genügt den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Danach
müssen bei einer Verfahrensrüge die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden
Tatsachen so genau dargelegt werden, dass das Revisionsgericht auf Grund dieser
Darlegung das Vorhandensein – oder Fehlen – eines Verfahrensmangels feststellen
kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden (BGH
NJW 1995, 2047; OLG Hamm NJW 2009, 242; OLG Hamm Urt. v. 12.02.2008 – 3 Ss
541/07 = Beck RS 2008, 07744). Dem wird der Vortrag der Revision gerecht.
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Zwar enthält die Revisionsbegründung keine Ausführungen dazu, ob überhaupt beim für
L2 örtlich zuständigen Amtsgericht Lemgo am 1. Mai 2008 zum Zeitpunkt der Anordnung
der Blutprobenentnahme (der im übrigen ebenfalls nicht näher mitgeteilt wird) ein
richterlicher Eildienst bestand. Dies ist jedoch unschädlich. Denn entweder hat der die
Blutprobenentnahme anordnende Polizeibeamte gegen den Richtervorbehalt
verstoßen, in dem er – trotz bestehenden richterlichen Eildienstes – nicht versucht hat,
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dessen Anordnung einzuholen, oder es liegt ein justizseitiger Verstoß (des Präsidiums
oder des Eildienstrichters) vor, weil ein richterlicher Eildienst nicht eingerichtet war,
obwohl er hätte eingerichtet sein müssen.
Aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bedeutung des
Richtervorbehalts ist die Erreichbarkeit des zuständigen Richters zur Tagzeit (wobei
insoweit u.a. auf § 104 Abs. 3 StPO verwiesen wird, der die Nachtzeit als den Zeitraum
von neun Uhr abends bis vier Uhr bzw. sechs Uhr morgens definiert) stets zu
gewährleisten (BVerfG NJW 2001, 1121, 1122; BVerfG Beschl. v. 13.12.2005
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– 2 BvR 447/05 – juris). Zwar bezog sich diese Rechtsprechung zunächst auf Verstöße
gegen verfassungsrechtliche Richtervorbehalte (Art. 13 Abs. 2, 104 Abs. 2 GG),
während es bei der Frage der Blutentnahme nach § 81a StPO zunächst einmal um die
körperliche Unversehrtheit des Beschuldigten geht, für die in Art. 2 Abs. 2
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S. 1 GG kein verfassungsrechtlicher Richtervorbehalt vorgesehen ist und nur ein
einfachrechtlicher (§ 81a Abs. 2 GG) besteht (vgl. BVerfG Beschl. 21.01.2008
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– 2 BvR 2307/07). Es gibt aber keinen sachlichen Grund, bei Auslegung des einfachen
Rechts, den einfachgesetzlichen Richtervorbehalt grundlegend anders zu behandeln,
als (auch) verfassungsrechtlich gewährleistete Richtervorbehalte (vgl. insoweit BVerfG
NJW 2007, 1345, 1346; BVerfG NJW 2008, 3053, 3054; OLG Hamm Beschl. v.
02.12.2008 – 4 Ss 466/08 = BeckRS 2009, 06454; Rabe von Kühlewein JR 2007, 517,
520). Dafür spricht auch, dass zum einen auch eine Anordnung nach § 81a StPO ggf.
mit einer Freiheitsentziehung verbunden sein kann, zum anderen, dass aufgrund der
verfassungsgerichtlichen Anforderungen jedenfalls ein Haftrichter zu den genannten
Zeiten erreichbar sein muss, der dann auch über andere, grundsätzlich der richterlichen
Anordnung vorbehaltene Ermittlungsmaßnahmen entscheiden kann. Entsprechend ist
auch in den (für die Rechtsprechung allerdings mangels Gesetzescharakters nicht
bindenden) landesinternen Verwaltungsvorschriften geregelt, dass bei allen
Amtsgerichten sicherzustellen ist, dass an allen Tagen in der Zeit von 6 Uhr bis 21 Uhr
zur Erledigung unaufschiebbarer Amtshandlungen die Erreichbarkeit eines zuständigen
Richters zu gewährleisten ist (AV d. JM vom 15.05.2007 – 2043 – I.3. – JMBl. NRW
2007 S. 165). Angesichts dessen kann hier davon ausgegangen werden, dass in dem
Zeitraum der vorliegend für die Anordnung der Blutprobe in Frage kam (zwischen 19.35
Uhr- Eintreffen am Haus des Angeklagten - und 20.08 Uhr – Entnahme der Blutprobe)
ein Eildienst eingerichtet war. Dass die Revision sich etwa gegen einen rechtswidrig
nicht bestehenden Eildienst wendet, wird von ihr auch nicht geltend gemacht.
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Selbst wenn – wie dies vereinzelt in der Literatur (vgl. Fickentscher/Dingelstadt NStZ
2009, 124, 128) und auch in der Rechtsprechung (vgl. OLG Jena Beschl. v. 25.11.2008
– 1 Ss 230/09 = BeckRS 2009, 04235) anklingt – in (wie hier) ländlich geprägten
Amtsgerichtsbezirken noch kein den verfassungsgerichtlichen Anforderungen
genügender Bereitschaftsdienst eingerichtet gewesen sein sollte (im Rahmen der
Prüfung des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO kann das Revisionsgericht weitergehende
Erkenntnisse aus der Begründetheitsprüfung noch nicht verwenden), wäre der fehlende
Vortrag der Revision hierzu unschädlich. Denn dann hätte zwar der einzelne
Polizeibeamte subjektiv nicht vorwerfbar die Anordnung wegen Gefahr im Verzuge
treffen können, denn eine richterliche Anordnung wäre dann frühestens am nächsten
Werktag in den Dienststunden des Gerichts zu erlangen gewesen. Der Verstoß gegen
den Richtervorbehalt läge dann allerdings im Bereich der Justizorganisation. Hieraus
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kann dem Beschuldigten kein Nachteil erwachsen, so dass das Fehlen des gesetzlich
gebotenen Eildienstes bzw. der Erreichbarkeit des Eildienstrichters objektiv Gefahr im
Verzuge nicht zu begründen vermag (OLG Jena Beschl. v. 25.11.2008 – 1 Ss 230/09 =
BeckRS 2009, 04235; Fickentscher/Dingelstadt NStZ 2009, 124, 128).
Gleich wie die Sachlage im vorliegenden Fall also war, ergibt sich aus dem
Revisionsvortrag auch ohne Darlegung des Bestehens und Umfangs eines richterlichen
Eildienstes ein Verstoß gegen den Richtervorbehalt.
21
3.
22
Die Rüge der Verletzung des § 81a StPO ist begründet.
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a) Dadurch dass der Polizeibeamte POK H. die Blutentnahme ohne Einschaltung eines
Richters angeordnet hat, hat er gegen den in § 81a Abs. 2 StPO geregelten
Richtervorbehalt verstoßen. Die Voraussetzungen für eine Blutentnahme nach § 81a
Abs. 1 StPO lagen hier zwar vor. Es lag auch eine Anordnung nach § 81a StPO vor. Der
Angeklagte hat sich nicht etwa freiwillig der Blutprobenentnahme unterzogen. Die
Anordnung zur Blutentnahme wurde jedoch ohne Einschaltung eines Richters trotz
eines – ausweislich der vom Berichterstatter eingeholten Auskunft vom Amtsgericht
Detmold - im Jahre 2008 an allen Tagen in der Zeit von 6 Uhr bis 21 Uhr beim nach §
162 StPO für den gesamten Landgerichtsbezirk Detmold, und damit auch für L2,
zuständigen Amtsgericht Detmold eingerichteten richterlichen Eildienstes von einem
Polizeibeamten getroffen. Dies hat er nicht etwa wegen Gefahr im Verzuge getan,
sondern – so die Urteilsfeststellungen – "entsprechend der langjährigen Praxis". Der
Polizeibeamte hat sich mithin darüber, ob Gefahr im Verzuge vorliegt und ihm
deswegen die Anordnungskompetenz (ausnahmsweise) zusteht, überhaupt keine
Gedanken gemacht. Auch die entsprechenden Teile der Ermittlungsakte, die der Senat
aufgrund der zulässig erhobenen Verfahrensrüge verwerten kann, ergeben für eine
Prüfung der Frage (oder gar eine entsprechende Dokumentation), ob Gefahr im Verzuge
vorliegt, keinerlei Anhaltspunkte.
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Auch objektiv ergeben sich keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von Gefahr im
Verzuge. Diese Frage beurteilt sich danach, ob durch die vorherige Anrufung des
Gerichts die Gefährdung des Untersuchungserfolges aufgrund einzellfallbezogener
Tatsachen zu gewärtigen ist (BVerfG NJW 2007, 1345, 1346; BVerfG NJW 2008, 3053,
3054; OLG Hamm NJW 2009, 242, 243). Das ist hier eher fernliegend. Der Sachverhalt
war sehr einfach gelagert, so dass eine richterliche Anordnung auf telefonischem Wege
einholbar gewesen wäre. Nicht jede richterliche Anordnung kann zwingend erst nach
Aktenvorlage erfolgen (vgl. BGHSt 51, 285; OLG Hamm NJW 2009, 242, 243 m.w.N.).
Der richtige Beschuldigte stand fest, ebenso wie seine Alkoholisierung und der
Verdacht bestimmter Verkehrsdelikte.
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Es ging um die Feststellung des Blutalkoholwertes, nicht um den Nachweis von
Betäubungsmitteln, bei denen der Nachweis mit zunehmendem Abbau auch bei
Rückrechnung schwieriger ist (Rabe v. Kühlewein JR 2007, 517, 518). Der
Generalstaatsanwaltschaft ist zuzugeben, dass hier aufgrund der Weigerung des
Angeklagten, einen Atemalkoholtest durchzuführen, die Gefahr bestand, dass sich die
Alkoholisierung des Angeklagten in der Nähe der strafrechtlich relevanten Grenzwerte
bewegte, was grundsätzlich für die Vermeidung weiterer Verzögerungen durch die
Einholung eine richterlichen Anordnung und für die Bejahung von Gefahr im Verzuge
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spricht (vgl. OLG Hamm NJW 2009, 242, 244 m.w.N.). Warum aber bei dem
vorliegenden, einfach gelagerten Sachverhalt eine nennenswerte Verzögerung durch
Einholung einer (telefonischen) richterlichen Anordnung, die zu einem
Beweismittelverlust hätte führen können, zu erwarten gewesen wäre ist nicht erkennbar.
Auch der Tatrichter, der von "besonderen Schwierigkeiten und Verzögerungen" durch
die Anrufung des Eildienstes ausgeht, legt diese nicht näher dar. Eine Verzögerung
wäre darüber hinaus noch weniger wahrscheinlich gewesen, wenn man zweistufig
vorgegangen wäre: Zunächst hätte man, wenn man z. B. wegen der bereits
verstrichenen Zeit seit der Tat einen Beweismittelverlust wegen Unsicherheiten bei
einer Rückrechnung im Strafverfahren von einem BAK-Wert aufgrund einer wegen
Verzögerungen bei der Einschaltung des Richters noch später entnommenen Blutprobe
befürchtet hätte, den Angeklagten zunächst auf der Grundlage des § 81a StPO, dies
dann aufgrund eigener Anordnung der Ermittlungsperson, festhalten und sich mit ihm
auf den Weg zur Blutentnahme machen können. Während dessen – und noch vor der
Blutentnahme selbst – hätte man dann noch versuchen können, fernmündlich die
richterliche Anordnung für das weitere Vorgehen auf der Grundlage des § 81a StPO
einzuholen (zu diesem zweistufigen Vorgehen vgl. OLG Hamm NJW 2009, 242, 244;
Fickentscher/Dingelstadt NStZ 2009, 124, 127).
Eine Dringlichkeit der Blutentnahme, die noch nicht einmal die fernmündliche
Beteiligung des Richters erlaubte, ist hier also nicht evident. Der Senat schließt nicht
aus, dass sich auch in Fällen wie dem vorliegenden eine solche Dringlichkeit ergeben
kann. Dann müssen aber Umstände, wie z. B. die nicht sofortige Erreichbarkeit des
Ermittlungsrichters, dessen gleichzeitige Befassung mit anderen dringlichen
Rechtssachen oder seine Weigerung, ohne Vorlage schriftlicher Unterlagen zu
entscheiden, vorliegen. Dem ist hier nicht so, jedenfalls sind weitere Umstände nicht
dokumentiert.
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b) Der Verstoß gegen den Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO führt hier zu einem
Beweisverwertungsverbot.
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In der Strafprozessordnung ist allerdings kein ausdrückliches Verbot der Verwertbarkeit
von unter Verstoß gegen § 81a Abs. 2 StPO erlangten Beweisen geregelt. Nicht jeder
Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot zieht damit ein Beweisverwertungsverbot
nach sich. Die Frage nach einem Beweisverwertungsverbot ist nach gefestigter, vom
Bundesverfassungsgericht gebilligter obergerichtlicher und höchstrichterlicher
Rechtsprechung jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der
Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes, unter Abwägung der widerstreitenden
Interessen zu entscheiden. Dabei muss beachtet werden, dass die Annahme eines
Verwertungsverbots, auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf
Wahrheitserforschung "um jeden Preis" gerichtet ist, eines der wesentlichen Prinzipien
des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die
Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle
Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Daran
gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die nur nach
ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im
Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich mit beeinflusst wird das Ergebnis der demnach
vorzunehmenden Abwägung vom Gewicht des in Frage stehenden
Verfahrensverstoßes. Dieses wird seinerseits wesentlich von der Bedeutung der im
Einzelfall betroffenen Rechtsgüter einerseits und andererseits davon bestimmt, ob die
Annahme von Gefahr im Vollzuge willkürlich erfolgte oder auf einer besonders groben
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Fehlbeurteilung beruhte (vgl. BVerfG NJW 2008, 3053; BGH NJW 2007, 2269, 2271;
OLG Hamm Beschl. v. 02.12.2008 – 4 Ss 466/08 = BeckRS 2009, 06454; OLG Hamburg
NJW 2008, 2597, 2599; OLG Jena Beschl. v. 25.11.2008 – 1 Ss 230/08 = BeckRS 2009,
04235; OLG Köln Beschl. v. 26.09.2008
– 83 Ss 69/08 = BeckRS 2008, 23570; OLG Stuttgart NStZ 2008, 238 f.).
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Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass – entgegen der Ausführungen im angefochtenen
Urteil – der Umstand, dass der Angeklagte gegen die angeordnete Blutprobenentnahme
keinen Widerspruch (vor dem Polizeibeamten) erhoben hat, nicht relevant ist. Dass der
Angeklagte sich widerstandslos einer polizeilichen Anordnung gebeugt hat, ist nur das,
was grundsätzlich vom jedem Bürger erwartet wird und hat darüber hinaus keine
Aussagekraft.
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Zwar ist hier zu berücksichtigen, dass die Straftatbestände, derer der Angeklagte
verdächtig war, dem Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs und damit (wegen des
dahinter stehenden Schutzes insbesondere von Leben und Gesundheit anderer
Verkehrsteilnehmer) dem Schutz hoher Rechtsgüter dienen, während der Eingriff, dem
sich der Angeklagte unterziehen musste, lediglich eine geringfügige Beeinträchtigung
der körperlichen Unversehrtheit darstellt. Weiter ist zu berücksichtigen, dass in der
Sache eine entsprechende richterliche Anordnung bei Einschaltung des
Eildienstrichters rechtmäßigerweise erteilt worden wäre. Ferner ist zu berücksichtigen,
dass die Anordnungskompetenz wenn auch nachrangig grundsätzlich auch dem
Polizeibeamten zustand und damit der Verstoß weniger schwer wiegt, als wenn selbst
dies gesetzlich nicht zugelassen wäre. Zudem handelt es sich nicht um einen
verfassungsrechtlichen Richtervorbehalt, sondern nur um einen einfachgesetzlichen, bei
dem Annahme eines Verwertungsverbots aus verfassungsrechtlichen Gründen unter
dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Mindeststandards nicht geboten ist (BVerfG
NJW 2008, 3053, 3054 m. zust. Anm. Laschewski NZV 2008, 637 f.). Auch der bei dem
gegebenen Sachverhalt zwangsläufig fehlenden, aber – mit Ausnahme von
Evidenzfällen - verfassungsgerichtlich geforderten Dokumentation zu den
Voraussetzungen der Gefahr im Verzuge, kommt hier hinsichtlich der Frage eines
Verwertungsverbotes kein eigenständiges Gewicht zu. Im übrigen würde sie allein
genommen auch kein Verwertungsverbot begründen können (BGH NStZ-RR 2007, 242;
vgl. auch BVerfG NJW 2008, 3053, 2054).
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Dies alles vermag aber nicht darüber hinweg zu helfen, dass hier ein objektiv
willkürliches Vorgehen bzw. ein grober Verstoß des handelnden Polizeibeamten bzw.
der Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft generell (weil nicht hinreichend dafür
Sorge getragen wurde, dass der Bedeutung des Richtervorbehalts auch auf der Ebene
des Polizeibeamten vor Ort Rechnung getragen wird) vorlag, was ein
(einfachgesetzliches) Verwertungsverbot begründet (vgl. dazu BVerfG NJW 2007, 1345,
1346; BGH NJW 2007, 2269, 2272; OLG Jena Beschl. v. 25.11.2008
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– 1 Ss 230/08 = BeckRS 2009, 04235; OLG Stuttgart NStZ 2008, 238; vgl. auch OLG
Karlsruhe NStZ 2005, 399, 400; Fickentscher/Dingelstadt NStZ 2009, 124, 128;
Müller/Trurnit StraFo 2008, 144, 147 ff.). In diesem Zusammenhang ist zu
berücksichtigen, dass er sich – sowohl nach den Urteilsfeststellungen als auch nach
dem relevanten Akteninhalt – keinerlei Gedanken über die Fragen von Gefahr im
Verzuge und richterlicher Anordnungskompetenz gemacht hat oder eine entsprechende
Prüfung vorgenommen hätte, sondern allein aufgrund "langjähriger Praxis" eine eigene
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Anordnung getroffen hat. Das ist schon unabhängig von der Betrachtung jeglicher
verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung rechtlich bedenklich, da dies bereits nach
dem Gesetzeswortlaut seit je her unabdingbare Voraussetzung für einen Verzicht auf
die Einschaltung eines Richters war. Eine "langjährige Praxis" ist nicht geeignet, die
gesetzlichen Anforderungen außer Kraft zu setzen.
Zu berücksichtigen ist auch, dass es sich bei der Entwicklung der Rechtsprechung zum
Richtervorbehalt um keine ganz junge Entwicklung mehr handelt. Die Bedeutung, die
das Bundesverfassungsgericht dem Richtervorbehalt grundsätzlich zumisst, ist
mindestens mit der Entscheidung vom 20.02.2001 (NJW 2001, 1121) deutlich
geworden. In der Folgezeit ist die Bedeutung auch des einfachgesetzlichen
Richtervorbehalts, u. a. auch bei § 81a StPO, in der verfassungsgerichtlichen
Rechtsprechung aufgezeigt und veröffentlicht worden (insbesondere mit den
Beschlüssen vom 12.02.2007 = NJW 2007, 1345 und vom 31.10.2007 – 2 BvR 1346/07
– juris). Auch zum Zeitpunkt der hier in Frage stehenden Anordnung war daher die
Relevanz des Richtervorbehalts nach § 81a Abs. 2 StPO in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts damit schon mehr als ein Jahr bekannt. Von einem
Ausschluss der objektiven Willkür, weil zum Anordnungszeitpunkt die entsprechenden
Rechtsfragen noch im Streit waren (so OLG Köln Beschl. v. 26.09.2008 – 83 Ss 69/08 =
BeckRS 2008, 23570, für einen allerdings zeitlich noch näher an der ersten der beiden
oben genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gelegenen Fall) kann
daher nicht mehr die Rede sein. Vielmehr handelte es sich – so letztlich auch die
entsprechende, bereits zitierte, Feststellung im angefochtenen Urteil - um die langfristige
Fortführung einer bestehenden Praxis, welche mit der Rechtslage nicht in Einklang
stand und letztlich die Besorgnis einer dauerhaften und ständigen Umgehung des
Richtervorbehalts des § 81a Abs. 2 StPO begründet. Die Schwere des Verstoßes ergibt
sich hier also nicht daraus, dass ein Polizeibeamter im Einzelfall die Voraussetzungen
des Richtervorbehalts verkannt oder nicht geprüft hat, sondern daraus, dass dessen
Voraussetzungen – so das angefochtene Urteil – aufgrund langjähriger Praxis, also
gleichsam einem "Fehler im System", ungeprüft geblieben sind.
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Der Fall liegt hier anders als der, der der Entscheidung des Bundesgerichtshofes in
NStZ-RR 2007, 242, zu Grunde lag, in der ein Verwertungsverbot verneint wurde. Dort
war zumindest versucht worden, den grundsätzlich vorgesehenen Eildienstrichter zu
erreichen, was aber nicht gelang, so dass dann die Anordnung durch den zuständigen
Bereitschaftsstaatsanwalt wegen Gefahr im Verzuge erfolgt ist. Ebenfalls ist er anders
gelagert, als der Fall, der der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in NJW
2008, 3053, zu Grunde lag. Dort war die Verabsäumung der Einholung einer
richterlichen Anordnung augenscheinlich nicht Ausfluss einer langjährigen Praxis, die
eine Prüfung der Voraussetzungen der Gefahr im Verzuge ersetzte.
36
4.
37
Die mithin fehlerhafte Verwertung des BAK-Gutachtens beschwert den Angeklagten
auch. Es ist auch unter Anwendung des Jugendstrafrechts nicht auszuschließen, dass
es ohne die Verwertung des Gutachtens nicht zur Verurteilung nach § 323a StGB
gekommen wäre, weil sich dann die Alkoholisierung auch nicht anderweitig hätte
aufklären lassen (z. B. durch Befragung von Zeugen zu Trinkmengen und Trinkzeiten)
und dann ggf. auch eine Verurteilung nach §§ 316, 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB
ausgeschieden wäre. Weitere Feststellungen sind grundsätzlich möglich, so dass hier
die Sache nach § 354 Abs. 2 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Lemgo
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zurückzuverweisen war.
III.
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Da die Revision bereits mit der Rüge der Verletzung des § 81a StPO vollumfänglich
Erfolg hat, bedurfte es eines Eingehens auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts
und auf die Rüge der Verletzung des § 52 StPO nicht mehr.
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