Urteil des OLG Hamm vom 01.10.1998

OLG Hamm (mutter, kläger, abweisung der klage, leichte fahrlässigkeit, schwester, schmerzensgeld, höhe, abwesenheit, dauer, nähe)

Oberlandesgericht Hamm, 6 U 92/98
Datum:
01.10.1998
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 U 92/98
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, 2 O 538/96
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird - unter Zurückweisung des
Rechtsmittels im übrigen - das am 04. Fe-bruar 1998 verkündete Urteil
der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bochum abgeändert und wie folgt
neu gefaßt:
Die Beklagte bleibt verurteilt, an den Kläger 50.682,92 DM zu zahlen.
Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle
weiteren Schäden aufgrund des Unfalls vom 19.06.1996 zu ersetzen,
soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder son-stige
Dritte übergegangen sind.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagten wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils beizutreibenden
Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in
dieser Höhe Sicherheit leistet. Die Parteien können die Sicherheit durch
eine unbedingte und unbefristete selbst-schuldnerische Bürgschaft einer
deutschen Großbank, öffentlichen Sparkasse oder
Genossenschaftsbank lei-sten.
Beschwer der Beklagten: 70.682,92 DM.
Beschwer des Klägers: 10.000,00 DM.
T a t b e s t a n d :
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Der am 10.07.1991 geborene Kläger war am 19.06.1996 mit seiner Mutter zu Besuch
bei deren Schwester, der Beklagten. Er spielte in der Küche mit deren etwa
gleichaltrigen Sohn Tobias auf dem Boden mit Legosteinen. Die Mutter des Klägers saß
zunächst am Küchentisch, während die Beklagte auf der Arbeitsplatte in unmittelbarer
Nähe des Spielortes der Kinder Kartoffeln schälte. Als sie damit fertig war, ließ sie das
Kartoffelschälmesser auf der Arbeitsplatte liegen und nahm die Kartoffeln zur
gegenüberliegenden Spüle mit. Anschließend verließ sie die Küche, um auf die Toilette
zu gehen, und bat zuvor die Mutter des Klägers, auf die Speisen zu achten, die auf dem
Herd standen. Diese wandte daraufhin den Kindern den Rücken zu. Kurz darauf stand
der Sohn der Beklagten, ohne daß die Mutter des Klägers es bemerkte, vom Fußboden
auf, ergriff das immer noch auf der Arbeitsplatte liegende Kartoffelschälmesser und warf
es nach dem Kläger. Dieser wurde in erheblichem Umfang am rechten Auge verletzt.
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Durch das angefochtene Urteil hat das Landgericht dem Kläger antragsgemäß
Schmerzensgeld in Höhe von 60.000,00 DM sowie Ersatz materiellen Schadens in
Höhe von 682,92 DM zuerkannt und die Feststellung getroffen, daß die Beklagte ihm
vorbehaltlich des Anspruchsübergangs auf Dritte sämtliche noch entstehenden
materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfall vom 19.06.1996 zu ersetzen
habe.
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Mit der Berufung erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage.
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Sie ist der Auffassung, das Landgericht habe die Anforderungen an die Aufsichtspflicht
überspannt und zu wenig berücksichtigt, daß die Mutter des Klägers bei den friedlich
spielenden Kindern in der Küche geblieben sei; zumindest müsse sich der Kläger ein
Mitverschulden seiner Mutter anrechnen lassen, der gegebenenfalls in gleicher Weise
eine Aufsichtspflichtverletzung zur Last falle. Sie hält das zuerkannte Schmerzensgeld
für übersetzt, bestreitet die Höhe des materiellen Schadens und vertritt die Auffassung,
es bestehe kein Feststellungsinteresse, da nicht mit einer Verschlimmerung des
unfallbedingten Augenschadens zu rechnen sei.
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Die Beklagte beantragt,
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unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt das angefochtene Urteil.
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Der Senat hat die Beklagte und die Mutter des Klägers gemäß
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§ 141 ZPO angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf den im Einverständnis der
Parteien gefertigten Berichterstattervermerk Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung der Beklagten führt zur einer Reduzierung des zuerkannten
Schmerzensgeldes auf 50.000,00 DM; im übrigen ist sie unbegründet.
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1.
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Die Beklagte ist dem Kläger gem. §§ 823, 832, 847 BGB zum Schadensersatz
verpflichtet, weil sie das Schälmesser in gefährlicher Nähe der spielenden Kinder hat
liegenlassen und dadurch eine wesentliche Ursache für die Verletzung des Klägers
gesetzt hat, und weil sie den durch diese Gefahrenlage gesteigerten Anforderungen an
die Aufsichtspflicht nicht genügt hat.
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Zutreffend wird zwar mit der Berufung darauf hingewiesen, daß auch für Kinder im
Kindergartenalter eine ständige Überwachung "auf Schritt und Tritt" im Regelfall nicht
erforderlich (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 1996, 710) und eine jedes Risiko
ausschließende Überwachung nicht möglich ist (vgl. Senat, OLGR 1994, 65). Hier liegt
aber der wesentliche Anknüpfungspunkt für die Haftung der Beklagten darin, daß sie vor
dem Verlassen der Küche das scharfe und spitze Schälmesser in der Nähe der
spielenden Kinder hat liegenlassen. Damit hat sie fahrlässig gehandelt, weil die Gefahr
voraussehbar war, daß eines der Kinder sich des Messers bemächtigen und sich selbst
oder das andere verletzen konnte.
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Zwar können keine Vorkehrungen für alle abstrakt denkbaren Schadensrisiken getroffen
werden; vielmehr darf die Möglichkeit einer Schädigung nicht ganz fernliegen (vgl. BGH
VersR 1975, 812). Das Ergreifen des auf dem Küchentisch abgelegten Schälmessers
und sein anschließender gefährlicher Einsatz durch eines der Kinder durfte hier aber
nicht als ganz fernliegend außer acht bleiben zum einen wegen der Größe des
Schadens, der sich - wie es hier geschehen ist - bei einer unglücklichen Verkettung der
Umstände verwirklichen konnte, zum anderen auch darum, weil die Beklagte ihrer
eigenen Darstellung im Senatstermin zufolge wußte, daß ihr Sohn darauf erpicht war,
selbst einmal ein Messer in die Hand zu bekommen. Weil sie dies offenbar mit gutem
Grund bisher verhindert hatte, durfte sie trotz vorangegangener verbaler Verbote auch
nicht davon ausgehen, daß er die Gelegenheit, ein Messer zu bekommen,
vorübergehen lassen werde, oder daß er gegebenenfalls vernünftig damit umgehen
werde.
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Sie durfte auch nicht damit rechnen, daß sie für die kurze Dauer ihrer Abwesenheit das
Messer deshalb gefahrlos in der Nähe der Kinder liegenlassen konnte, weil ihre
Schwester - die Mutter des Klägers - bei den Kindern in der Küche blieb. Denn zum
einen war nicht gewährleistet, daß die Schwester das auf dem Küchentisch
liegengelassene Messer überhaupt registriert hatte; zum anderen war sie abgelenkt,
weil die Beklagte sie gebeten hatte, sich für die Dauer ihrer Abwesenheit um die
Speisen auf dem Herd zu kümmern mit der Folge, daß die Schwester den Küchentisch
und den Kindern den Rücken zuwandte. Das Ausmaß der Unachtsamkeit, welche der
Beklagten anzulasten ist, ist zwar eher gering angesichts ihrer kurzen Abwesenheit und
des Umstandes, daß ihre Schwester bei den relativ friedlich spielenden Kindern in der
Küche blieb; das schließt aber den Vorwurf einer - wenn auch nur leichten -
Fahrlässigkeit nicht aus.
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2.
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Es kann dahingestellt bleiben, ob der Mutter des Klägers, der für die Dauer der
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Abwesenheit der Beklagten faktisch die Aufsicht über beide Kinder zugefallen war, auch
ein Verschulden zur Last fällt; denn das entlastet die Beklagte nicht.
2.1.
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Die Zurechnung eines eventuellen Mitverschuldens der Mutter gemäß §§ 254, 278 BGB
scheitert daran, daß im Augenblick des Unfalls kein Schuldverhältnis oder ein ähnliches
Sonderrechtsverhältnis zur Beklagten bestand, was Voraussetzung für eine Zurechnung
wäre (vgl. BGH VersR 1988, 632; Senat r + s 1998, 282). Insbesondere wurde ein
derartiges Sonderrechtsverhältnis nicht dadurch begründet, daß der Mutter des Klägers -
von ihr stillschweigend akzeptiert -für die Dauer der Abwesenheit der Beklagten faktisch
die Aufsicht über beide Kinder zufiel. Dabei handelte es sich um einen Vorgang
außerhalb der rechtsgeschäftlichen Sphäre, der mangels rechtsgeschäftlichen
Bindungswillens nicht aus dem Bereich der Gefälligkeit herausragte (vgl. BGH VersR
1968, 1043).
23
2.2.
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Gesichtspunkte der Haftungseinheit können deswegen nicht zu einer Zurechnung
führen, weil der nicht deliktsfähige Kläger den Unfall nicht zurechenbar mitverursacht
hat und deswegen nicht in einer Zurechnungseinheit mit seiner Mutter stehen kann (vgl.
BGH VersR 1988, 632; Senat r + s 1998, 282; OLG Düsseldorf VersR 1982, 300).
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2.3.
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Der Gesichtspunkt des gestörten Innenausgleichs unter Gesamtschuldnern, der hier im
Hinblick auf ein Mitverschulden der Mutter des Klägers wegen der
Haftungsprivilegierung gemäß § 1664 I BGB in Betracht zu ziehen ist (vgl. dazu BGH
VersR 1988, 632; Senat VersR 1993, 493; Senat r + s 1998, 282), führt ebenfalls nicht
zu einer Anspruchskürzung, weil der Mutter des Klägers jedenfalls kein weitergehender
Schuldvorwurf zu machen ist als ihrer Schwester, der Beklagten, der nur leichte
Fahrlässigkeit zur Last fällt. Da die Mutter des Klägers ihrem Kind jedenfalls wegen des
Sorgfaltsmaßstabes aus § 1664 BGB nicht haftet, stand sie mit der Beklagten nicht in
einem Gesamtschuldverhältnis, dessen Störung einen Ausgleich durch
Anspruchskürzung erforderte.
27
3.
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Die schweren Folgen der vom Kläger erlittenen Verletzung erfordern ein erhebliches
Schmerzensgeld. Aus dem vom Landgericht eingeholten augenärztlichen Gutachten
des Prof. Dr. X ergibt sich, daß der Kläger auf dem verletzten rechten Auge praktisch
blind ist. Wenn der Senat gleichwohl das erstinstanzlich zuerkannte Schmerzensgeld
um 10.000,00 DM auf 50.000,00 DM reduziert hat, so hat er damit zum einen
berücksichtigt, daß das Verschulden der Beklagten, wenngleich es zur Begründung
ihrer Haftung ausreicht, doch nur im unteren Bereich der in Betracht kommenden
Bandbreite einzustufen ist (zur Haftung in derartigen Fällen vgl. OLG Hamm - 30. ZS - r
+ s 1992, 137). Zum anderen hat er dem Gesichtspunkt Rechnung getragen, daß die
Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes im vorliegenden Fall angesichts der
familiären Verbundenheit der Beteiligten weitestgehend zurücktritt (vgl. hierzu OLG
Hamm - 13. ZS - r + s 1998, 234 m.Anm. Lemcke; ferner OLG Schleswig VersR 1992,
462 m.w.N.). Ob dieser Gesichtspunkt die Schmerzensgeldbemessung beeinflußt, wenn
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für den Schaden ein Pflichtversicherer einzustehen hat (dagegen OLG Hamm - 27. ZS -
r + s 1998, 236), kann dahingestellt bleiben. Wenn - wie hier - keine Pflichtversicherung
besteht, kann es für die Schmerzensgeldbemessung nicht außer acht bleiben, wenn
aufgrund der persönlichen Verbundenheit der Beteiligten die Genugtuungsfunktion in
den Hintergrund tritt. Andererseits hat der Senat berücksichtigt, daß die eingeschränkte
persönliche Leistungsfähigkeit der Beklagten angesichts der bestehenden
Privathaftpflichtversicherung keine weitere Reduzierung des Schmerzensgeldes
erfordert.
4.
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Den materiellen Schaden des Klägers hat das Landgericht, auf dessen Ausführungen
unter II. seiner Entscheidungsgründe insoweit gemäß § 543 II 2 ZPO Bezug genommen
wird, zutreffend mit 682,92 DM angesetzt.
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5.
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Der Feststellungsantrag ist zulässig, da nach dem Gutachten des Prof. Dr. X zukünftige
Schäden nicht auszuschließen sind. Auch besteht die Gefahr, daß bei einer eventuellen
künftigen Schädigung des bisher gesunden linken Auges der infolge des Unfalls vom
19.6.1996 eingetragene Sehverlust des rechten Auges nachträglich ein zusätzliches
Gewicht erhält. Nach dem oben Gesagten ist der Feststellungsantrag auch begründet.
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Zur Klarstellung und Abgrenzung wird darauf hingewiesen, daß der Senat bei der
Schmerzensgeldbemessung davon ausgegangen ist, daß es im wesentlichen bei dem
vom Sachverständigen Prof. Dr. X beschriebenen Zustand bleiben wird; nur bei einer
wesentlichen Verschlechterung wäre also auf der Grundlage des
Feststellungsausspruchs Raum für ein weiteres Schmerzensgeld. Die von Prof. Dr. X
angesprochenen Gefahren einer späteren Netzhautablösung oder eines
Sekundärglaukoms sind zwar schon erkennbar; die Wahrscheinlichkeit ihrer
Realisierung kann aber nicht als so hoch angenommen werden, daß sie mit der jetzt
vorgenommenen Schmerzensgeldbemessung abgegolten wäre; sie sind demgemäß
ausgeklammert worden. Wohl ist aber jetzt schon erfaßt worden, daß der Kläger mit der
Sorge um eine künftige Verwirklichung der Gefahr leben muß.
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6.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 II, 708 Nr. 10, 711, 108, 546
ZPO.
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