Urteil des OLG Hamm vom 22.04.1983
OLG Hamm (blutprobe, grobe fahrlässigkeit, vvg, versicherungsfall, formular, unfall, vertreter, fahrlässigkeit, vorsätzlich, ergebnis)
Oberlandesgericht Hamm, 20 U 329/82
Datum:
22.04.1983
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
20. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 U 329/82
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, 2 O 141/82
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 23. Juni 1982 verkündete
Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bochum abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 12.200,- DM nebst 4 %
Zinsen seit dem 15. März 1982 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
Tatbestand:
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Die Klägerin hatte für ihren Pkw Mercedes 230 bei der Beklagten eine
Kaskoversicherung abgeschlossen, aus der sie die Beklagte wegen eines Unfalls in
Anspruch nimmt.
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Am 8.3.1981 gegen 4.00 Uhr morgens erlitt die Klägerin mit diesem Pkw in ... einen
Unfall. Nach einer Betriebsfeier wollte die Klägerin nach Hause fahren; beim Einbiegen
von der ... in die ...geriet der Pkw ins Rutschen, stieß gegen die Bordsteinkante und
danach gegen einen Laternenmast.
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Der Klägerin wurde um 4.50 Uhr eine Blutprobe entnommen, die eine
Blutalkoholkonzentration von 0,97 %o ergäbe. In dem örtlichen Bericht zur Entnahme
der Blutprobe heißt es unter anderem:
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"Gans (geradeaus): sicher, plötzliche Kehrtwendung nach vorherigem Gehen: sicher,
Sprache: deutlich, Denkablauf: geordnet, Verhalten: beherrscht."
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Die Klägerin hatte seit dem 22.8.1980 die Fahrerlaubnis.
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Der von der Klägerin gefahrene Pkw hatte Winterreifen. Die Straße war naß, in dem
Straßenbett befanden sich Straßenbahnschienen und im Bereich der Schienen war
Kopfsteinpflaster verlegt.
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Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 12.200,- DM nebst 4 % Zinsen seit
Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, die Klägerin habe den Versicherungsfall grob
fahrlässig herbeigeführt, so daß die Beklagte gemäß §61 VVG von der Leistungspflicht
frei sei. Dies ergebe sich auch aus dem Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 14.7.1981,
das die Klägerin wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 25
Tagessätzen zu je 25,- DM verurteilt und in den Gründen ausgeführt hat, die Klägerin
habe infolge ihrer alkoholischen Beeinflussung die Gewalt über das Fahrzeug verloren.
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Weiterhin hat sich die Beklagte darauf berufen, daß sie von der Pflicht zur Leistung frei
sei, weil die Klägerin in der Schadensanzeige vorsätzlich falsche Angaben gemacht
habe: In der Rubrik Blutprobe sei anstelle des Kästchens vor dem Ja das Wort Nein
durchgestrichen und in der dazugehörigen Rubrik "Ergebnis" ein Strich gemacht
worden.
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Die Klägerin hat demgegenüber geltend gemacht, sie habe keine falschen Angaben
gemacht; beim Ausfüllen der Schadensanzeige sei ihr ein Bekannter, der ..., behilflich
gewesen, der für sie das Formular ausgefüllt habe.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und in den Gründen ausgeführt, die
Beklagte sei aufgrund von §61 VGG frei, weil die Klägerin den Versicherungsfall grob
fahrlässig herbeiführt habe. Im einzelnen wird auf das angefochtene Urteil Bezug
genommen.
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Mit der Berufung wendet sich die Klägerin gegen die Annahme der grob fahrlässigen
Herbeiführung des Versicherungsfalls und wiederholt ihr Vorbringen aus erster Instanz.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 12.200,- DM nebst 4 % Zinsen seit
Zustellung der Klage zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
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Auch sie wiederholt ihr Vorbringen aus erster Instanz.
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Die Klägerin hat im Senatstermin vom 22.4.1983 persönlich nach §141 ZPO erklärt:
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Die Schadensanzeige habe der ... geschrieben, sie selber habe nur unterschrieben. Sie
sei zuvor bei dem Vertreter der Beklagten, dem Versicherungsvertreter Palm, gewesen,
habe den Schaden gemeldet und dem Versicherungsvertreter erklärt, daß sie auf der
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Rückfahrt von einer Betriebsfeier gewesen sei. ... habe ihr erklärt, für Betrunkene zahle
die Versicherung sowieso nicht. Sie habe das Formular von diesem Vertreter mit nach
Hause genommen und den ... aufgesucht, der ihr bei der Ausfüllung geholfen habe. Sie
habe dem Zeugen Kost sogleich gesagt, daß ihr eine Blutprobe entnommen worden sei,
da sie von einer Betriebsfeier auf dem Weg nach Hause gewesen sei. Bei der
Ausfüllung des Formulars sei ziemlich viel Betrieb im Büro des ... gewesen. Sie habe
nicht gemerkt, daß das Formular möglicherweise mißverständlich ausgefüllt worden sei.
Der ... hat im Senatstermin vom 22.4.1983 ausgesagt: Er sei seit drei bis vier Jahren mit
der Klägerin bekannt, diese sei mit einem Formular zu ihm gekommen und er habe nach
Angaben der Klägerin die Schadensanzeige ausgefüllt. Die Klägerin habe ihm erklärt,
daß ihr eine Blutprobe entnommen worden sei. Er wisse nicht, weshalb in der Rubrik
Blutprobe nicht das Kästchen vor dem "Ja" durchgestrichen worden sei, sondern das
Wort "Nein". Er habe die Art der Ausfüllung des Fragebogens nicht gewählt, um zu
vertuschen, daß der Klägerin eine Blutprobe entnommen worden sei. Möglicherweise
sei dies darauf zurückzuführen, daß im Büro ziemlich viel Betrieb gewesen sei und
deshalb nicht die nötige Sorgfalt auf die Ausfüllung der Schadensanzeige verwendet
worden sei.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist begründet, weil die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch aus der
Kaskoversicherung hat. Die Beklagte ist weder nach §61 VVG noch nach den §§7 Abs.
5 Nr. 4 AKB in Verbindung mit §6 Abs. 3 VVG von der Leistungspflicht frei.
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Die Beklagte hat nicht den ihr obliegenden Beweis erbracht, daß die Klägerin den
Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt hat.
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Zwar wäre grobe Fahrlässigkeit der Klägerin zu bejahen, wenn sie den Unfall durch den
Alkoholgenuß verursacht hätte. Die Klägerin hatte 0,97 %o Alkohol im Blut.
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Der Ansicht des Landgerichts, aus dem Unfallverlauf ergebe sich, daß eine typische
alkoholbedingte Enthemmung zu der unfallursächlichen Fahrweise geführt habe, kann
aber nicht gefolgt werden. Es lagen nämlich eine Reihe von weiteren Risikofaktoren vor,
die die Ursächlichkeit des Alkoholgenusses für den Unfall zweifelhaft erscheinen
lassen. Da die von der Klägerin befahrene Straße naß war, Straßenbahnschienen mit
Kopfsteinpflaster vorhanden und der Pkw der Klägerin, ein Mercedes 230, mit
Winterreifen versehen war, war die Rutschgefahr besonders groß. Wenn die Klägerin
dies nicht in ausreichendem Maße bei ihrer Fahrweise berücksichtigt hat, muß dieser
Fehler nicht auf den Alkoholgenuß zurückzuführen sein. Die Klägerin hatte nämlich erst
seit gut 7 Monaten die Fahrerlaubnis. Außerdem war die Klägerin zur Zeit des Unfalls
vermutlich übermüdet, da sie nach einer Betriebsfeier um 4.00 Uhr morgens nach Hause
fuhr. Gegen die Annahme der Verursachung des Unfalls durch den Alkoholgenuß kann
schließlich auch das Ergebnis des Untersuchungsberichts des Arztes sprechen, der die
Blutprobe entnommen hat: Danach sind keine Ausfallserscheinungen im Verhalten der
Klägerin festgestellt worden.
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Insgesamt ist somit angesichts der nicht geklärten Frage, worauf der Unfall sicher
zurückzuführen ist, nicht bewiesen, daß die Klägerin den Versicherungsfall grob
fahrlässig herbeigeführt hat.
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Die Beklagte ist von ihrer Pflicht zur Leistung auch nicht nach den §7 Abs. 5 Nr. 4 AKB
in Verbindung mit §6 Abs. 3 VVG frei geworden.
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Die von der Klägerin unterschriebene Schadensanzeige ist zwar möglicherweise
insofern mißverständlich, als in der Rubrik Blutprobe das Wort "Nein" durchgestrichen
ist, während in anderen Fällen in diesem Fragebogen das Kästchen vor dem "Ja"
durchgekreuzt ist.
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Eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung der Klägerin selbst scheidet aber aus, weil
die Klägerin die Schadensanzeige nicht selbst ausgefüllt, sondern nur unterschrieben
hat.
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Nach ihren glaubwürdigen Angaben im Senatstermin vom 22.4.1983 hat die Klägerin
den Zeugen ... einen befreundeten Versicherungsvertreter, gebeten, die Anzeige
auszufüllen und dabei auch erklärt, daß eine Blutprobe entnommen worden sei. Dies
hat der Zeuge ... bestätigt. Daß die Klägerin bei dem Unterschreiben der
Schadensanzeige nicht bemerkt hat, daß die Frage nach der Blutprobe möglicherweise
mißverständlich beantwortet worden war, kann allenfalls den Vorwurf der Fahrlässigkeit
begründen, der jedoch wegen Folgenlosigkeit nicht zur Leistungsfreiheit der Beklagten
führt.
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Auch in der Person des Zeugen ... der der Klägerin beim Ausfüllen der
Schadensanzeige behilflich war, kann kein Vorsatz festgestellt werden: Er hat in
glaubwürdiger Weise geschildert, wie es zu der Ausfüllung der Schadensanzeige
gekommen ist; daß er die Absicht gehabt hätte, zugunsten der Klägerin falsche
Angaben zu machen, kann danach nicht angenommen werden. Einleuchtend war
insbesondere die Erklärung des Zeugen, daß ihm als Versicherungsvertreter natürlich
bekannt sei, daß die Versicherung insbesondere bei mißverständlichen Angaben sofort
die Ermittlungsakten beiziehen würde.
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Im übrigen brauchte die Klägerin, die dem Zeugen Kost zutreffende Angaben gemacht
hat, sich nicht dessen davon vorsätzlich abweichende Ausfüllung der Schadensanzeige
zurechnen zu lassen, da der ... nicht als Vertreter aus eigenem Wissen Erklärungen
abgab, sondern Hilfsperson der Klägerin war (vgl. BGH Versicherungsrecht 1968, 185;
NJW 1981, 1952).
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Zinsen waren der Klägerin aufgrund von §291 BGB zuzusprechen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §91 ZPO.
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Der Wert der Beschwer beträgt 12.200,- DM.
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