Urteil des OLG Hamm vom 15.07.2008
OLG Hamm: KLs 40/07, untersuchungshaft, strafvollstreckung, fortdauer, strafverfahren, wahrscheinlichkeit, vollzug, überwachung, anstalt, behandlung
Oberlandesgericht Hamm, 1 Ws 469 u. 472/08
Datum:
15.07.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 Ws 469 u. 472/08
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 150 Js 150/07 – 35 KLs 40/07
Tenor:
1.
Die (Haft-) Beschwerde wird als unbegründet auf Kosten des
Angeklagten (§ 473 Abs. 1 StPO) verworfen.
2.
Der Beschluss des Vorsitzenden der 35. Strafkammer vom 26. Mai 2008
wird aufgehoben.
Die Sache wird insoweit zur erneuten Behandlung und Entscheidung –
auch über die Kosten dieser Beschwerde – an den Vorsitzenden der 35.
Strafkammer des Landgerichts Dortmund zurückverwiesen.
Gründe:
1
I.
2
Der Angeklagte wurde in dem vorliegenden Verfahren aufgrund des Haftbefehls des
Amtsgerichts Dortmund vom 11. April 2007 am 17. Oktober 2007 vorläufig
festgenommen. Er befindet sich seit dem 29. Oktober 2007 ununterbrochen im Vollzug
der Untersuchungshaft. Die 35. große Strafkammer des Landgerichts Dortmund hat den
Angeklagten inzwischen in der Hauptverhandlung vom 24. April 2008 wegen
unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 2 Fällen,
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 59 Fällen und wegen
Versuchs der Beteiligung an einem Verbrechen zu einer Gesamtfreiheits-strafe von 4
Jahren und 9 Monaten verurteilt und die Fortdauer der Untersuchungshaft aus den
Gründen ihrer Anordnung nach Maßgabe des verkündeten Urteils angeordnet. Das
Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da der Angeklagte, der einen Freispruch angestrebt
hatte, Revision eingelegt hat.
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1)
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Gegen die Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts hat der Angeklagte
(Haft)Beschwerde eingelegt und dazu ausgeführt, der Zeuge I habe ihn in der
Hauptverhandlung zu Unrecht belastet. Der Haftbefehl sei deshalb aufzuheben.
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2)
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Mit einem von ihm selbst gefertigten Schreiben vom 24. Mai 2008 hat der Angeklagte
außerdem beantragt, die Anordnung der akustischen Besuchsüberwachung
aufzuheben. Der Vorsitzende der 35. Strafkammer hat diesen Antrag mit Beschluß vom
26. Mai 2008 zurückgewiesen, weil ein Absehen von dieser Maßnahme nur im
Ausnahmefall möglich sei, der hier aber nicht vorliege. Der Betroffene habe zur Sache
keine Angaben gemacht, deshalb sei "zur Vermeidung des Austausches von
Informationen über Hintergründe und weitere Beteiligte ... die Überwachung aller
Gespräche weiterhin erforderlich". Gegen diese Entscheidung hat der Betroffene durch
seinen Verteidiger mit Schreiben vom 19. Juni 2008 Beschwerde eingelegt.
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Die Strafkammer bzw. der Vorsitzende der 35. Strafkammer haben den Beschwerden
nicht abgeholfen.
8
II.
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Die Rechtsmittel haben teilweise Erfolg. Während die Haftbeschwerde als unbegründet
zu verwerfen war, war der Beschwerde gegen die Aufrechterhaltung der akustischen
Besuchsüberwachung ein – jedenfalls vorläufiger - Erfolg nicht zu versagen.
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1.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat zu der Haftbeschwerde u. a. wie folgt Stellung
genommen:
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"Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus dem Umstand, dass das Landgericht
nach Durchführung eines rechtsstaatlichen Regeln unterworfenen
Erkenntnisverfahrens zu der Überzeugung von der Täterschaft und Schuld des
Angeklagten gelangt ist, die fehlende Rechtskraft des Urteils steht der Annahme
einer hohe Wahrscheinlichkeit strafbaren Handelns in der festgestellten Weise nicht
entgegen (zu vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 04.08.2005
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– 4 Ws 340/05 – m. w. N.).
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Gegen den Angeklagten besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2
Nr. 2 StPO, die nach der erstinstanzlichen Verurteilung an Intensität zugenommen
hat, denn seine Hoffnung, mit seinen durch die Strafkammer zu Recht als lebensfern
gekennzeichneten Einlassungen zur Herkunft des bei ihm sichergestellten
Bargeldes einer Verurteilung zu entgegen, hat sich als nicht belastbar erwiesen.
Trotz der durch Anrechnung vollzogener Untersuchungshaft als verbüßt geltenden
Haftzeiten überwiegt die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeklagte für den Fall
seiner Freilassung dem weiteren Verfahren und insbesondere der Strafvollstreckung
nicht stellen wird. Insofern ist zu berücksichtigen, dass er bereits unter falschen
Personalien aufgetreten ist und ersichtlich über Kontakte zu Strukturen der
internationalen organisierten Rauschgiftkriminalität verfügt bzw. in diese
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eingebunden ist.
Bei diesem Sachverhalt sind mildere Maßnahmen nicht geeignet, den von der
hohen Straferwartung ausgehenden Fluchtanreiz zu beseitigen oder so erheblich zu
mindern, dass es des Vollzuges der Untersuchungshaft nicht bedarf, um sich seiner
nachhaltig zu versichern.
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Das Strafverfahren gegen ihn ist mit dem in Haftsachen gebotenen Nachdruck
gefördert worden und die Fortdauer des Vollzuges der Untersuchungshaft erscheint
auch unter Berücksichtigung ihrer bisherigen Dauer nicht unverhältnismäßig."
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Diesen Ausführungen tritt der Senat bei und macht sie zum Gegenstand seiner eigenen
Entscheidung.
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2.
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Die Beschwerde des Angeklagten gegen die Anordnung der akustischen Besuchs-
überwachung ist gem. § 304 Abs. 1 i. V. m. Nr. 74 Abs. 1 UVollzO statthaft und hat auch
in der Sache einen jedenfalls vorläufigen Erfolg. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung
der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung an den Vorsitzenden der
35. Strafkammer. Der Angeklagte ist insoweit unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Senats erneut zu bescheiden.
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Gem. § 119 Abs. 3 StPO i. V. m. Nr. 27 der UVollzO dürfen einem Untersuchungsge-
fangenen nur solche Freiheitsbeschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der
Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Justizvollzugsanstalt erfordert.
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Zweck der Untersuchungshaft – und nur über diesen Aspekt ist vorliegend zu befinden,
weil die Ordnung der Anstalt durch das Begehren des Angeklagten soweit ersichtlich
nicht berührt wird – ist es, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu
gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen (vgl. dazu BVerfGE 32,
S. 87, 93). Im Einzelnen dient die Untersuchungshaft den Zielen, die Anwesenheit des
jeweiligen Beschuldigten im Strafverfahren zu gewährleisten, Störungen der
Tatsachenermittlungen durch Beweisvereitelung oder –erschwerung zu verhindern und
die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel zu
sichern (zu vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Auflage, vor
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§ 112 Rdnr. 4 m. w. N.; Nr. 1 Abs. 1 UVollzO). Unter Berücksichtigung dieser Aspekte
trägt die angefochtene Entscheidung die Anordnung der akustischen
Besuchsüberwachung nicht. Die Generalstaatsanwaltschaft hat dazu u. a. wie folgt
Stellung genommen:
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"Indes ist durch das auf Freiheitsstrafe lautende Erkenntnis und die ihm zugrunde
liegenden tatsächlichen Feststellungen die gebotene umfassende Aufklärung der
Tat (vorläufig) abgeschlossen. Mithin ist die Anordnung beschränkender
Maßnahmen unter keinem Gesichtspunkt mehr geeignet, zur Gewährleistung eines
geordneten Strafverfahrens beizutragen.
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Unbeschadet davon, dass die vorbezeichneten Zwecke der Untersuchungshaft
immer nur für jenes Verfahren Geltung beanspruchen können, in welchem
Untersuchungshaft tatsächlich vollzogen wird oder für welches sie zumindest (als
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Überhaft) notiert ist, lässt sich den Vorgängen weder entnehmen, dass der
Angeklagte konkrete, den Ermittlungsbehörden angesichts der Dauer des
Verfahrens inzwischen als bekannt zu erwartende "weitere Beteiligte" zu schützen
versuchen könnte, noch dass nachprüfbare tatsächliche Anhaltspunkte dafür
bestehen, dass er entweder Verdunklungshandlungen vornehmen oder Straftaten
aus dem Vollzug der Untersuchungshaft heraus fortsetzen könnte.
Ebenso wenig ergeben sich aus dem angefochtenen Beschluss oder sonst aus den
Akten konkrete Anhaltspunkte dafür, dass nicht akustisch überwachte Besuche der
Vorbereitung und Förderung von Fluchtplänen dienen könnten. Allein die Tatsache,
dass sich der Angeklagte nach dem derzeitigen Verfahrensstand eine längere
Strafvollstreckung zu vergegenwärtigen hat, reicht nicht aus, eine derartige
Besorgnis zu begründen. Angesichts des verfassungsmäßig verbrieften
Freiheitsgrundrechts des Angeklagten hat der zur Haftentscheidung berufene
Richter vielmehr stets um Einzelfall zu prüfen und konkret darzulegen, welche
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Fluchtvorbereitungen getroffen werden könnten
(zu vgl. Senatsbeschlüsse vom 03.08.2004 – 1 Ws 227/04 -, 31.10.2006 – 1 Ws
734/06 – und 01.10.2007 – 1 Ws 693/07 – m.w.N.).
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Entsprechend kann die Anordnung des Vorsitzenden der Strafkammer keine
Bestand haben."
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Auch diesen Ausführungen tritt der Senat bei und weist ergänzend darauf hin, dass der
Vorsitzende der 35. Strafkammer auch in früheren Verfahren bereits auf die hier
genannten gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der akustischen
Besuchsüberwachung hingewiesen wurde.
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