Urteil des OLG Hamm vom 17.01.2008

OLG Hamm: täterschaft, beweiswürdigung, beweismittel, pflichtverteidiger, strafrichter, rüge, strafzumessung, schweigerecht, verwertung, zeugnis

Oberlandesgericht Hamm, 5 Ss 565/07
Datum:
17.01.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
5. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 Ss 565/07
Vorinstanz:
Amtsgericht Gladbeck, 6 Ds 13 Js 688/07 (162/07)
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts -
Strafrichter - Gladbeck zurückverwiesen.
Gründe:
1
I.
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Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts – Strafrichter – Gladbeck vom
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12. Oktober 2007 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von
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8 Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden.
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Zur Sache hat das Amtsgericht die folgenden Feststellungen getroffen:
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"Am 25. Februar 2007, zu einem Zeitpunkt, in dem der Angeklagte unstreitig mit der
Zeugin Q zusammenlebte, kam es um 5.00 Uhr morgens zwischen dem Angeklagten
und der Zeugin Q zu einer körperlichen Auseinandersetzung. Während dieser
Auseinandersetzung erlitt die Zeugin die auf den Fotos deutlich sichtbaren
Verletzungen. Diese Verletzungen sind durch das Attest Bl. 10 d. A. festgestellt worden.
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Die Zeugin Q erlitt Hämatome an der rechten Gesichtshälfte und am rechten Auge.
Blutabgänge an Hals, Nase und Mund und Ohr waren festzustellen.
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Der Angeklagte selbst hat im Anerkenntnisurteil im Zivilverfahren vom 01.03.2007
anerkannt, sich nach dem Gewaltschutzgesetz nicht mehr der Zeugin Q näher als 20 m
zu nähern."
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Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte durch seinen Verteidiger mit zunächst
unbestimmtem Rechtsmittel, welches er nach Urteilszustellung als Revision bezeichnet
und begründet hat. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
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II.
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1.
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Die Sprungrevision ist gem. § 335 StPO statthaft; sie ist insbesondere rechtzeitig
eingelegt und gem. § 345 Abs. 1 S. 2 StPO fristgerecht begründet worden. Zwar ist im
Adressfeld des Empfangsbekenntnisses bei der Urteilszustellung fälschlicherweise
Rechtsanwalt E als Verteidiger benannt worden, der nach seiner anfänglichen
Bestellung als Pflichtverteidiger ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung durch
Beschluss vom 12. Oktober 2007 von Rechtsanwalt X als Pflichtverteidiger abgelöst
worden war. Da jedoch Rechtsanwalt X das an seinen Sozius Rechtsanwalt E
gerichtete Empfangsbekenntnis unterschrieben hat, ist die Zustellung letztlich wirksam
an den richtigen Pflichtverteidiger bewirkt worden.
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2.
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Die Revision hat in der Sache einen – zumindest vorläufigen – Erfolg.
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Das Urteil unterliegt bereits aufgrund der formellen Rüge der Verletzung des § 261 StPO
der Aufhebung. Die Rüge der Verletzung des § 261 StPO genügt den Anforderungen
gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO an die gebotene Form. Bei der hier gegebenen
Fallgestaltung, dass der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch machte und
die – einzige – Zeugin die Aussage gem. § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO verweigerte, ist es
ausreichend, wenn die Revision unter Darlegung des Hauptverhandlungsprotokolls
vorträgt, dass der nach den Feststellungen angeblich gerichtsbekannte Inhalt der
Zivilakte in der Hauptverhandlung weder verlesen noch vorgehalten noch erörtert
worden sei; solche Quellen aber scheiden bei der gegebenen Prozesssituation, bei der
das Hauptverhandlungsprotokoll entsprechende Prozessvorgänge nicht ausweist, aus.
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Die Rüge ist auch begründet, da ohne Rekonstruktion der Beweisaufnahme der
Nachweis geführt werden kann, dass die in dem angefochtenen Urteil getroffenen
Feststellungen nicht durch die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel und
nicht durch Vorgänge gewonnen worden sind, die zum Inbegriff der Hauptverhandlung
gehört haben. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls sind die Erkenntnisse aus
dem Zivilverfahren 12 C 115/07 AG Gladbeck nicht verlesen worden; sie waren auch
nicht Gegenstand der Hauptverhandlung, da sie weder im Wege einer Einlassung des
Angeklagten noch durch Zeugenvernehmung prozessordnungsgemäß in die
Hauptverhandlung eingeführt worden waren. Sie durften deswegen bereits im Urteil
nicht verwertet werden.
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Überdies sind Tatsachen, die den Schuldvorwurf betreffen, in der Hauptverhandlung
über diesen Vorwurf durch Beweiserhebung zu klären (vgl. KK-Hergeden, StPO, 5. Aufl.,
Rdnr. 71 zu § 244; BGHSt 6, 292 ff.; BGHStV 1982, 55 f.). Das Gericht kann bekannte
Ergebnisse führerer Beweiserhebungen in anderen Verfahren nicht einfach
übernehmen und dem Urteil als Tatsachenbasis des Schuldspruchs zugrundelegen
(vgl. BGHSt 6, 292 ff.; NJW 2000, 1204, 2002, 2401; KK-Hergeden, a.a.O. m. w. N.).
Dem erkennenden Gericht ist es nicht gestattet, aus indiziellen Sachverhalten, von
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denen es außerhalb der Hauptverhandlung in amtlicher Tätigkeit Kenntnis erlangt hat
und die das Resultat persönlicher Wahrnehmung, substantieller Würdigung und
individueller Beschreibung sind, tragende Sachverhaltsannahmen mit der Begründung
zu gewinnen, es handele sich um gerichtskundige Indizien (vgl. BGHSt 45, 354, 358 f.;
BGH NJW 2002, 2401 ff.; KK-Hergeden a.a.O.). Gerichtskundigkeit wird dagegen vor
allem akzeptiert bei sog. "Hintergrundtatsachen", prozessual erheblichen Tatsachen
und bei Tatsachen, die den allgemeinkundigen Tatsachen nahe stehen (vgl. KK-
Hergeden a.a.O., m. w. N.).
Die Frage der Begehung der Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin Q durch den
Angeklagten ist Kernfrage des Schuldspruchs, der prozessordnungsgemäß nicht auf
gerichtskundige Tatsachen zu stützen war. Das Urteil unterliegt bereits deshalb der
Aufhebung, denn der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf diesem
Verstoß gegen § 261 StPO beruht. Angesichts des schweigenden Angeklagten und der
das Zeugnis verweigernden Geschädigten erscheint es möglich, dass der Angeklagte
ohne die Verwertung des als gerichtskundig behandelten Inhalts des Zivilverfahrens
nicht verurteilt worden wäre, zumal auch nicht ersichtlich ist, aufgrund welcher sonstigen
Beweismittel der Tatrichter die "unstreitige" Erkenntnis gewonnen hat, dass der
Angeklagte und die Geschädigte zur Tatzeit zusammengelebt haben, was dann
allerdings den Schluss auf die Täterschaft des Angeklagten durchaus zugelassen hätte.
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Im Übrigen hält aber auch die den Feststellungen des angefochtenen Urteils
zugrundeliegende Beweiswürdigung der materiell-rechtlichen Überprüfung nicht Stand.
Zwar entscheidet über das Beweisergebnis der Tatrichter nach seiner freien
richterlichen Überzeugung (§ 261 StPO). Das Revisionsgericht darf die
Beweiswürdigung nur auf rechtliche Fehler prüfen, sie aber nicht durch eigene ersetzen
(BGHSt 10, 208, 210). Rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung aber insbesondere,
wenn sie in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar ist oder gegen Denkgesetze
und Erfahrungssätze verstößt (BGH NStZ 1983, 277 f. m. w. N.).
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Die Beweiswürdigung zur Täterschaft des Angeklagten ist vorliegend lückenhaft. Auf die
Täterschaft des Angeklagten weisen die allein erhobenen Beweise – die zum
Gegenstand des richterlichen Augenscheins gemachten Fotos sowie das verlesene
ärztliche Attest – nicht mit der erforderlichen Beweiskraft hin. Diese Beweismittel
bestätigen zwar die Verletzung der Geschädigten, jedoch nicht die Täterschaft des
Angeklagten. Insbesondere bei der Fallgestaltung, dass der Angeklagte von seinem
Schweigerecht Gebrauch macht und das Tatopfer berechtigter Weise das Zeugnis
verweigert, muss das Gericht nachvollziehbar dartun, woraus es die den Angeklagten im
Sinne der Täterschaft belastenden Umstände herleitet. Dem angefochtenen Urteil fehlt
es insoweit an jeglichen Ausführungen; das Amtsgericht geht in keiner Weise darauf
ein, ob mögliche andere Geschehensabläufe erwogen und gegebenenfalls solche
verworfen worden sind.
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Im Hinblick auf die erneute Hauptverhandlung sieht sich der Senat schließlich noch
veranlasst darauf hinzuweisen, dass die pauschale strafschärfende Berücksichtigung
von Vorstrafen wie vorliegend gegen die Grundsätze der Strafzumessung gem. § 46
StGB verstößt. Insoweit hat das Amtsgericht bei den persönlichen Verhältnissen des
Angeklagten lediglich folgendes ausgeführt:
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"Strafrechtlich ist der Angeklagte schon erheblich in Erscheinung getreten, jedoch nicht
einschlägig."
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Im Rahmen der Strafzumessung beschränken sich die Ausführungen auf folgende
Erwägung:
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"Das Gericht erachtete unter strafschärfender Berücksichtigung der Vorbelastungen eine
Freiheitsstrafe von 8 Monaten als schuld- und tatangemessen an."
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Die Urteilsgründe müssen die bestimmenden Zumessungserwägungen bei der
Bemessung der Strafe darlegen. Zwar ist eine erschöpfende Darstellung aller im
Katalog des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB genannten Umstände weder erforderlich noch
möglich. Ein sachlich-rechtlicher Mangel liegt aber vor, wenn in den Urteilsgründen
Umstände nicht dargelegt werden, die für die Bewertung des Unrechts- und
Schuldgehalts im konkreten Fall von besonderer Bedeutung sind. Da das Amtsgericht
die Vorstrafen im Einzelnen weder nach dem Vorwurf noch den Umständen der
Sanktionierung – Art und Höhe der Strafe, Entscheidungs- und Rechtskraftdatum der
gerichtlichen Entscheidung – darlegt, sind wesentliche Umstände der Strafzumessung
für das Revisionsgericht nicht nachvollziehbar. Zwar können Verurteilungen, die vor der
dem aktuellen Verfahren zugrundeliegenden Straftat erfolgt sind, grundsätzlich
strafschärfend berücksichtigt werden, wenn sie einschlägig sind oder erkennen lassen,
dass der Täter sich über frühere Warnungen hinweggesetzt hat (vgl. BGHSt 24, 198),
oder wenn sich ihm eine erhöhte Schuld des Täters und die gesteigerte Notwendigkeit
ergibt, auf ihn einzuwirken (NStZ 1992, 327; Fischer, StGB, 55. Aufl. Rdnr. 38 zu § 46).
Vorstrafen sind indes im Urteil so genau festzustellen, dass dem Revisionsgericht die
Prüfung ermöglicht ist, ob sie verwertbar sind und ob ihre Verwertung rechtsfehlerfrei
erfolgt ist (vgl. Köln NStZ 2003, 421; Fischer a.a.O.). Dazu reicht die undifferenzierte
pauschale Wiedergabe wie sie das Amtsgericht getätigt hat, in keiner Weise aus.
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Das angefochtene Urteil war daher, entsprechend dem Antrag der Generalstaats-
anwaltschaft, gem. § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an eine andere
Abteilung des Amtsgerichts – Strafrichter – Gladbeck zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2
StPO).
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