Urteil des OLG Hamm vom 09.12.1999
OLG Hamm: unfall, verdienstausfall, distorsion, wahrscheinlichkeit, arbeitsunfähigkeit, behandlung, sicherheit, arbeitsfähigkeit, schmerzensgeld, einkünfte
Oberlandesgericht Hamm, 6 U 80/98
Datum:
09.12.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 U 80/98
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 21 O 64/95
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird unter Zurückweisung des
Rechtsmittels im übrigen das am 28. Januar 1998 verkündete Urteil der
21. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund teilweise abgeändert.
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin
9.140,00 DM nebst 4 % Zinsen von 9.024,82 DM für die Zeit vom
20.12.1994 bis zum 25.05.1995 und von 9.140,00 DM seit dem
26.05.1995 zu zahlen.
Im übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen zu 4/5 die Klägerin und im übrigen
die Beklagten.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschwer der Parteien: unter 35.000,00 DM.
Entscheidungsgründe:
1
I.
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Die frühere Beklagte zu 1), die im Laufe des Rechtsstreits verstorben ist, fuhr am
16.03.1994 mit ihrem Pkw Seat Toledo, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert
war, auf einen vom Vater der Klägerin geführten Pkw Audi Quattro auf, der sich zum
Linksabbiegen eingeordnet hatte und den Gegenverkehr abwartete.
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Die Klägerin, die als Beifahrerin neben ihrem Vater saß, begab sich wegen starker Kopf-
und Nackenschmerzen am selben Tag in die Behandlung ihres Hausarztes, der ein
Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS) diagnostizierte.
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Mit der Behauptung, das unfallbedingte HWS-Trauma habe fortdauernde Beschwerden
zur Folge gehabt, hat die Klägerin die Beklagte auf Schmerzensgeld, Ersatz materiellen
Schadens und auf Feststellung der Ersatzpflicht für Zukunftsschäden in Anspruch
genommen.
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Durch das angefochtene Urteil hat das Landgericht nach Einholung eines
unfallanalytischen und eines orthopädisch-medizinischen Gutachtens die Klage
abgewiesen mit der Begründung, die von der Beklagten zu 2) vorprozessual gezahlten
Beträge reichten aus; weitere Schäden seien nicht zu erwarten.
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Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Begehren weiter.
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Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
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Der Senat hat die Klägerin gemäß § 141 ZPO angehört. Wegen des Ergebnisses wird
auf den Berichterstattervermerk Bezug genommen. Es ist Beweis erhoben worden durch
Einholung eines interdisziplinären unfallanalytischen und orthopädisch-medizinischen
Gutachtens. Auf den Inhalt wird gleichfalls Bezug genommen.
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II.
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Die Berufung hat teilweise Erfolg; im übrigen ist sie unbegründet.
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Dem Grunde nach ist die aus § 7 StVG, §§ 823, 1922 BGB, § 3 Nr. 1 PflVG folgende
Pflicht der Beklagten, für die Folgen des Unfalls vom 16.3.1994 einzustehen, nicht im
Streit. Die Klägerin ist bei dem Unfall verletzt worden (1). Sie war dadurch für ein Jahr in
ihrer Arbeitsfähigkeit so weit eingeschränkt, daß sie infolgedessen einen
Verdienstausfall erlitten hat (2); daneben sind ihr weitere materielle Schäden entstanden
(3). Ihr Schmerzensgeldanspruch ist durch die vorprozessualen Zahlungen der
Beklagten abgedeckt (4). Weil mit weiteren unfallbedingten Beeinträchtigungen nicht zu
rechnen ist, ist der Feststellungsantrag unbegründet (5).
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1. Es steht zur Überzeugung des Senats fest, daß die Klägerin bei dem Unfall einen
Distorsion der HWS erlitten hat, die nicht nur ganz unerhebliche Beschwerden zur Folge
hatte.
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Nach der Belastung, die auf die Wirbelsäule der Klägerin gewirkt hat, war deren
Verletzung weder ausgeschlossen noch unwahrscheinlich. Der Sachverständige Dipl.-
Ing. T hat in seinem Gutachten die stoßbedingte Geschwindigkeitsänderung des Pkw
Audi, in dem die Klägerin bei dem Unfall als Beifahrerin saß, gegenüber dem
erstinstanzlich zugrundegelegten Sachverständigengutachten Harz weiter eingegrenzt,
und zwar auf 9 bis 14 km/h. Es ist damit zwar möglich, aber doch weniger
wahrscheinlich, daß die auf die HWS einwirkende Stoßenergie unter der
Harmlosigkeitsgrenze von 10 km/h lag (vgl. dazu Senat, r+s 98, 326).
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Der erstuntersuchende Arzt hat am Unfalltage deutliche und typische Symptome einer
HWS-Distorsion diagnostiziert. Da die Klägerin vor dem Unfall keine derartigen
Beschwerden hatte, hat der Senat auf der Grundlage der Primärsymptomatik, unfallnah
erhobenen klinischen und radiologischen Befunde und des Gutachtens des
Sachverständigen Prof. Dr. D die volle Überzeugung gewonnen (§ 286 ZPO; vgl. dazu
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BGH 87, 705; Lemcke NZV 96, 337), daß sich die Klägerin bei dem Unfall eine
Distorsion der HWS zugezogen hat. Zwar hat der erstinstanzlich hinzugezogenen
medizinische Sachverständige Dr. X in seiner ergänzenden Stellungnahme vom
21.10.1997 ausgeführt, es falle schwer, einen Unfallzusammenhang herzustellen. Er ist
dabei aber von einer Auffahrgeschwindigkeit von 5 bis 14 km/h ausgegangen. Diese
kann jedoch nach den insoweit im wesentlichen übereinstimmenden Gutachten der
Sachverständigen Dipl.-Ing. I2 und Dipl.-Ing. T bis zu 23 bis 25 km/h betragen haben.
Der Senat gibt deswegen in dieser Frage dem medizinischen Gutachten des Prof. Dr. D
den Vorzug vor demjenigen des Dr. X, weil Prof. Dr. D als entscheidenden Parameter
die stoßbedingte Geschwindigkeitsänderung des Pkw Audi zugrundegelegt hat, die bis
zu 14 km/h betragen haben kann, und nicht die Auffahrgeschwindigkeit, als deren
mögliche Obergrenze Dr. X in nicht zutreffender Weise 14 km/h angenommen hat.
2.
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Infolge der verletzungsbedingten Beschwerden konnte die Klägerin für ein Jahr ihrer
Aushilfstätigkeit als Krankenpflegehelferin nicht nachgehen und hat dadurch einen
Verdienstausfall erlitten.
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2.1
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Das Beweismaß für die weiteren Schadensfolgen einer wie hier feststehenden
Primärverletzung richtet sich nach § 287 ZPO (vgl. BGH VersR 70, 924; 87, 310; 93, 55;
Senat VersR 94, 1322; Lemke NZV 96, 337); es genügt also hinreichende
Wahrscheinlichkeit.
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Nach diesem Maßstab ist es hinreichend gesichert, daß die Klägerin aufgrund der
unfallbedingten von den behandelnden Ärzten als glaubhaft befundenen Beschwerden
zunächst ihrer Aushilfstätigkeit nicht mehr in zumutbarer Weise ausüben konnte. Daß
sie gleichwohl ca. 3 Wochen nach dem Unfall noch vier Nachtdienste verrichtet hat,
steht dieser Beurteilung nicht entgegen. Es leuchtet vielmehr ein, daß - wie Dr. X es
plausibel beschrieben hat - sie trotz bestehender deutlicher Restbeschwerden
Nachtwachen angenommen hat, weil sie darauf angewiesen war, ihr Studienbudget zu
verbessern. Er hat es aufgrund der zu einem späteren Zeitpunkt festgestellten
neurologischen und radiologischen Veränderungen als glaubhaft beurteilt, daß es bei
diesen Arbeitsversuchen zu einer heftigen Zunahme der Beschwerden gekommen ist,
so daß weitere Nachtwachen der Klägerin vorerst nicht mehr möglich waren.
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Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit konnte naturgemäß von dem Sachverständigen nicht
exakt angegeben werden. Als Eckpunkt kann jedoch mit dem Sachverständigen Prof.
Dr. D aufgrund der Erfahrungen auf orthopädischem Fachgebiet der Ablauf von zwei
Jahren nach dem Unfall festgelegt werden; danach war die HWS-Distorsion jedenfalls
folgenlos ausgeheilt.
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Für den dazwischenliegenden Zeitraum gilt, daß sowohl das Ausmaß als auch die
Wahrscheinlichkeit unfallbedingter Beschwerden mit zunehmendem Zeitablauf immer
geringer wurden. Nach Dr. Weyers Einschätzung war die Klägerin in ihrer
Arbeitsfähigkeit als Aushilfsnachtschwester ein Jahr nach dem Unfall nur noch zu 30 %
eingeschränkt. Auf diesen Zeitpunkt setzt der Senat in Ausübung seines
Schätzungsermessens gem. § 287 ZPO die Möglichkeit der Klägerin an, wieder
Aushilfs-Nachtdienste zu leisten, da sie nicht als Krankenschwester, sondern als
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Krankenpflegehelferin eingesetzt wurde. Für eine derartige Tätigkeit hat Dr. X zwar
schon eine frühere Einsatzmöglichkeit in Betracht gezogen (ab dem 17.09.1994), aber
nur, sofern keine schweren körperlichen Tätigkeiten verrichtet werden mußten. Da dies
aber nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden kann, erschien dem
Senat eine Befristung bis zum 17.03.1995, also ein Jahr nach dem Unfall, sachgerecht.
2.2
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Die Feststellung, in welcher Höhe der Klägerin ein Verdienstausfall entstanden ist, ist
wegen ihres unregelmäßigen Einsatzes und der infolgedessen in der Vergangenheit
schwankenden Einkünfte aus der Aushilfstätigkeit mit Schwierigkeiten verbunden. Zwar
ist die Klägerin für die Höhe ihres Verdienstausfalls beweispflichtig. Ihr kommt jedoch
hier die Beweiserleichterung des § 252 S. 2 BGB zugute, d.h. es gilt der Gewinn als
entgangen, der nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge oder nach den besonderen
Umständen mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. In diesem Zusammenhang
ist gem. § 287 I 1 ZPO auch eine Schadensschätzung möglich, soweit die Ermittlung
nach § 252 S. 2 BGB noch nicht zu einem hinreichend klaren Bild führt (vgl. Medicus,
DAR 94, 442; von Hoyningen-Huene/Boemke, NJW 94, 1757, 1760). In Anwendung
dieser Vorschriften und gestützt auf die von der Klägerin beigebrachten Abrechnungen
für ihre Einsätze vor dem Unfall und für ihre Arbeitsversuche in den ersten Wochen
danach schätzt der Kläger den Verdienst, den die Klägerin erzielt hätte, für die Zeit ihrer
unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit auf monatlich 1.000,00 DM im Durchschnitt. Sie
macht Verdienstausfall geltend ab 14.06.1994. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit
bestand bis Mitte März 1995, so daß die Klägerin für 9 Monate zu entschädigen ist.
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3.
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Neben dem Verdienstausfall in Höhe von 9.000,00 DM
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hat die Klägerin weitere materielle Schäden erlitten:
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Sie hat für Krankengymnastik 200,00 DM
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aufgewandt, ferner 1.340,00 DM
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für das von Prof. Dr. L erstattete
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Gutachten, welches sie als Grundlage für die
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Schadensregulierung und für die weitere Behandlung
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für erforderlich halten durfte.
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Die Kosten für Fahrten zur Behandlung, die der
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Klägerin in der Zeit bis Mitte März 1995 entstanden
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sind, schätzt der Senat gem. § 287 ZPO auf 100,00 DM.
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Insgesamt ist damit der Klägerin ein materieller
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Schaden in Höhe von 10.640,00 DM
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entstanden. Die Beklagte zu 2) hat 1.500,00 DM
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darauf gezahlt, so daß noch 9.140,00 DM
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offen sind.
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4.
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Im Hinblick auf Aufmaß und Dauer der unfallbedingten Beschwerden sieht der Senat die
2.500,00 DM, die die Beklagte zu 2) vorprozessual auf das der Klägerin gem. § 847
BGB zustehende Schmerzensgeld gezahlt hat, als angemessen, aber auch als
ausreichend an, und zwar auch bei einem Vergleich mit ähnlichen Fällen.
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5. Der Feststellungsantrag ist nicht begründet. Der Sachverständige Prof. Dr. D hat
überzeugend ausgeführt, daß aus orthopädischer Sicht mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit über das zweite Unfalljahr hinaus nicht mit Dauerfolgen zu rechnen
ist. Bei dieser Sachlage ist trotz der geringen Anforderungen, die nach einer nicht ganz
geringfügigen Verletzung an die Zulässigkeit und die Begründetheit eines
Feststellungsantrags zu stellen sind (vgl. OLG Hamm - 13. ZS - OLGR 94, 227), für
einen Feststellungsausspruch kein Raum.
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6.
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Die Entscheidungen über Zinsen, Kosten und vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf
§§ 284, 288, 291 BGB, §§ 92, 100, 708 Nr. 10, 713, 546 ZPO.
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