Urteil des OLG Hamm vom 16.08.2000

OLG Hamm: satzung, fahrbahn, schnee, eis, stadt, miteigentümer, hausordnung, mieter, gehweg, wohnung

Oberlandesgericht Hamm, 13 U 32/00
Datum:
16.08.2000
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
13. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 U 32/00
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 7 O 315/98
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 28. Oktober 1999 verkündete
Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund wird
zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der Ko-sten der
Streithelfer trägt die Klägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Es beschwert die Klägerin in Höhe von 38.516,00 DM.
Tatbestand
1
Die (damals 33 Jahre alte) Klägerin kam am 8. Januar 1997 gegen 16.10 Uhr als
Fußgängerin bei Schnee- und Eisglätte zu Fall. Sie begehrt Schadensersatz, ein
Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige materielle und
immaterielle Schäden.
2
Die Klägerin wohnt in L in der I-Straße im Haus Nr. #1. Von der I-Straße zweigt eine
gemeindeeigene Stichstraße ab, die zu dem Haus Nr. #2 führt. An dieser Stichstraße
befindet sich auch das Haus I-Straße #3. Die Beklagten sind Miteigentümer dieses
Hauses. Eine Erdgeschoßwohnung des Hauses ist an die Streithelfer vermietet. Die
Klägerin stürzte auf der Fahrbahn in der Nähe des Hauses Nr. #3. Einen Gehweg gibt
es hier nicht.
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Die Winterwartung der Straße ist in der Straßenreinigungs- und Gebührensatzung der
Stadt L i.d.F. v. 14. Dezember 1990 geregelt.
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In § 1 der Satzung heißt es u.a.:
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"(1) ... Die Reinigungspflicht umfaßt die Reinigung der
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Fahrbahnen und der Gehwege...
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(2) Zur Reinigung gehört auch die Winterwartung. Diese
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umfaßt insbesondere das Schneeräumen auf den
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Fahrbahnen und Gehwegen sowie das Bestreuen der
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Gehwege, Fußgängerüberwege und gefährlichen Stellen
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auf den Fahrbahnen bei Schnee- und Eisglätte.
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(3) ..."
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Die zu den Haus I-Straße #2 führende Stichstraße ist in dem Teil A des
Straßenverzeichnisses der Straßenreinigungs- und Gebührensatzung der Stadt L
aufgeführt. Nach § 2 Abs. 1 dieser Satzung ist die Reinigung aller Gehwege und
Fahrbahnen der dort genannten Straßen den Eigentümern der angrenzenden und durch
sie erschlossenen Grundstücke auferlegt.
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§ 3 der Satzung hat folgenden Wortlaut:
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"§ 3
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Art u d Umfang der Reinigungspflicht nach § 2 Abs. 1
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(1) Die Fahrbahnen und Gehwege sind einmal wöchentlich zu
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reinigen...
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(2) Die Gehwege sind in einer für den Fußgängerverkehr
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erforderlichen Breite von Schnee freizuhalten. Bei
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Eis- und Schneeglätte sind die Fußgängerüberwege und
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die gefährlichen Stellen auf den von den
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Grundstückseigentümern zu reinigenden Fahrbahnen zu
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bestreuen...
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(3) Auf Gehwegen ist bei Eis- und Schneeglätte zu
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streuen...
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(4) In der Zeit von 7.00 - 20.00 Uhr gefallener Schnee
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und entstandene Glätte sind unverzüglich nach
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Beendigung des Schneefalles bzw. nach dem Entstehen
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der Glätte zu beseitigen..."
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Zum Zeitpunkt des Unfalls befanden sich auf der Fahrbahn festgefahrener Schnee und
Eis. Die Klägerin machte mit ihrer damals zweijährigen Tochter einen Spaziergang.
Wegen der Glätte hatte sie das Kind auf den Arm genommen.
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Die Klägerin erlitt eine distale Unterschenkelmehrfragment-Fraktur links mit Abbruch
eines kleinen hinteren Volkmannschen Dreiecks sowie eine distale
Fibulatrümmerfraktur links mit Ausriß der vorderen Syndesmose. Sie wurde vom 8. bis
22. Januar 1997, vom 20. bis 22. Februar 1997 sowie vom 9. bis 19. März 1998 stationär
behandelt. Nach dem Arztbericht des Chefarztes Q der Chirurgischen Abteilung des T-
Krankenhauses in L vom 23. Oktober 1997 hat folgende Erwerbsminderung vorgelegen:
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vom 8. 1. bis 21. 1.1997 100 %,
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vom 22. 1. bis 19. 2.1997 80 %,
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vom 20. 2. bis 3. 3.1997 100 %,
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vom 4. 3. bis 26. 5.1997 50 %,
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vom 27. 5. bis 29. 7.1997 30 %,
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ab 30. 7. "bis heute u. weiterhin" 20 %.
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Die Klägerin behauptet, sie sei unmittelbar an der Ecke des Hauses Nr. #3 auf einer
geschlossenen Schnee- oder Eisdecke gestürzt. Die Fahrbahn dort sei weder geräumt
noch gestreut gewesen.
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Die Klägerin verlangt mit näheren Darlegungen Ersatz eines
Haushaltsführungsschadens. Sie beziffert die fiktiven Kosten einer Ersatzkraft auf
insgesamt 11.016,49 DM. Daneben begehrt sie ein angemessenes Schmerzensgeld.
Der Haftpflichtversicherer der Beklagten hat vorprozessual 5.000 DM gezahlt. Die
Klägerin stellt sich einen Betrag in der Größenordnung von (weiteren) 20.000 DM vor.
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Die Beklagten machen geltend, die Räum- und Streupflicht sei gem. § 19 Nr. 4 des
Mietvertrages vom 25. Mai 1987 i.V.m. Ziff. 3 der diesem Vertrag angehefteten
Hausordnung auf die
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Mieter der Erdgeschoßwohnung, die Zeugen X (Streithelfer), übertragen. In Ziff. 3 der
Hausordnung heißt es:
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"...Dem Erdgeschoßmieter obliegt die Reinhaltung der Hauszugänge und
Zufahrten, der Haus- und Hoftür, der vor dem Hauseingang befindlichen Treppe
und des Erdgeschoßflures, sowie die Reinigung des Bürgersteigs und der Straße
einschließlich der Beseitigung von Schnee und Eis und falls erforderlich
wiederholtes Streuen der Straße, der Bürgersteige und der Zuwegungen zum
Haus mit Asche oder Sand. Der Erdgeschoßmieter hat sich hierfür der
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zuständigen Ordnungsbehörde gegenüber zu verpflichten.
...
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Wohnen mehrere Parteien in einem Geschoß, so haben diese die Reinigung
abwechselnd vorzunehmen..."
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Die Streithelfer hätten sich stets nach dieser Hausordnung gerichtet, auch am Unfalltag.
Die Einhaltung der Räum- und Streupflicht sei durch das Immobilienverwaltungsbüro K
in unregelmäßigen Abständen von zwei bis vier Wochen (stichprobenartig) im Winter
kontrolliert worden. Dabei sei nicht einmal aufgefallen, daß im Bereich der Häuser I-
Straße #3 und #2 die Räum- und Streupflicht nicht eingehalten worden sei.
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Die Streithelfer der Beklagten sind der Auffassung, die Räum- und Streupflicht sei von
der Stadt L nicht wirksam auf die Beklagten übertragen worden. Für den Bereich der
Fahrbahn fehle eine klare Regelung. Sie behaupten, die Klägerin sei nicht vor dem
Haus Nr. #3 in der Nähe der Gebäudeecke, sondern mitten auf der Straße einige Meter
hinter dem Haus Nr. #3 in Richtung N-Bach zu Fall gekommen. Sie habe die geräumten
Wege ignoriert und sei querfeldein über die Straße gelaufen. Die Streithelfer bestreiten,
daß eine Eis- oder Schneeglätte
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unfallursächlich gewesen sei. Sie wenden - ebenso wie die Beklagten - überwiegendes
Mitverschulden ein und bestreiten die Schadenshöhe.
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Das Landgericht hat die Klägerin persönlich gehört und Beweis erhoben durch
uneidliche Vernehmung der Zeugen M, L, T, E und P. Mit dem angefochtenen Urteil hat
es die Klage mit der Begründung abgewiesen, es sei ausreichend gestreut gewesen.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung.
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Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten
Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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Der Senat hat die Klägerin persönlich gehört. Wegen des Ergebnisses der
Parteianhörung wird auf den Inhalt des Berichterstattervermerks Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Die Klage ist nicht begründet.
54
I.
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Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Schadensersatz und
Zahlung eines (weiteren) Schmerzensgeldes.
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1.
57
Die Beklagten haften nicht gem. §§ 823 Abs. 1, 847 BGB wegen Verletzung der
Verkehrssicherungspflicht. Die Klägerin ist auf der I-Straße in der Nähe des Hauses Nr.
#3 gestürzt. Für die Straßenfläche sind die Beklagten nicht schon deshalb
verkehrssicherungspflichtig, weil sie Miteigentümer eines angrenzenden
Hausgrundstücks sind. Die I-Straße ist eine öffentliche Straße. Gem. § 1 StrReinG NW
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obliegt die Pflicht zur Reinigung öffentlicher Straßen innerhalb geschlossener
Ortschaften primär den Gemeinden. Die Reinigung umfaßt als Winterwartung die Räum-
und Streupflicht der Fahrbahnen und Gehwege (§ 1 Abs. 2 StrReinG NW).
2.
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Die Beklagten haften auch nicht gem. §§ 823 Abs. 2, 847 BGB i.V.m. § 3 der
Straßenreinigungs- und Gebührensatzung der Stadt L. Sie waren nicht verpflichtet, im
Bereich des Hauses I-Straße Nr. #3 die Fahrbahn ganz oder teilweise von Schnee und
Eis zu räumen und zu streuen.
60
a)
61
Unter den Voraussetzungen von § 4 StrReinG NW können die Gemeinden die
Reinigung durch Satzung den Eigentümern der an die Straße angrenzenden und durch
sie erschlossenen Grundstücke auferlegen (BGH NJW 1985, 484). Öffentlich-rechtliche
Gemeindesatzungen zur Streupflicht sind Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2
BGB (BGHZ 27, 278, 283; BGH VersR 1998, 604).
62
b)
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Die Klägerin ist auf der Fahrbahn der zu dem Hausgrundstück Nr. #2 führenden
Stichstraße der I-Straße zu Fall gekommen. Die Pflicht zur Reinigung dieses
Straßenteils ist in der Straßenreinigungs- und Gebührensatzung der Stadt L geregelt
und den Eigentümern der angrenzenden und durch die Stichstraße erschlossenen
Grundstücke übertragen. Die Beklagten sind Miteigentümer des an die Stichstraße der I-
Straße angrenzenden und von ihr erschlossenen Hausgrundstücks Nr. #3. Mithin oblag
ihnen nach dem Inhalt der Satzung die Pflicht zur Reinigung der Fahrbahn.
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c)
65
Zur Reinigung gehört grundsätzlich auch die Winterwartung. Diese umfaßt gem. § 1
Abs. 2 der Satzung insbesondere das Schneeräumen auf den Fahrbahnen und
Gehwegen sowie das Bestreuen der Gehwege, Fußgängerüberwege und gefährlichen
Stellen auf den Fahrbahnen bei Schnee- und Eisglätte. § 1 der Satzung richtet sich
jedoch in erster Linie an die Gemeinde selbst. Die Vorschrift enthält nämlich eine
allgemeine Regelung der - in erster Linie der Stadt L obliegenden - Reinigungspflicht.
Demgegenüber ist der Umfang der den Anliegern gem. § 2 Abs. 1 der Satzung
übertragenen Reinigungspflicht in § 3 der Satzung speziell geregelt. Dort heißt es
zunächst, daß die Fahrbahnen und Gehwege einmal wöchentlich zu reinigen sind (§ 3
Abs. 1). Hinsichtlich der Winterwartung finden sich in § 3 Abs. 2 und 3 spezielle
Regelungen. Diese sehen eine Räum- und Streupflicht für Gehwege vor und bestimmen
darüber hinaus, daß Fußgängerüberwege und gefährliche Stellen auf den von den
Grundstückseigentümern zu reinigenden Fahrbahnen bei Eis- und Schneeglätte
bestreut werden müssen. Hinsichtlich der Fahrbahnen sind die Anlieger also nur in
beschränktem Umfang zur Winterwartung verpflichtet. Zum einen besteht hier keine
Räumpflicht, sondern lediglich eine Streupflicht. Zum anderen betrifft diese nur
Fußgängerüberwege und gefährliche Stellen.
66
d)
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Die Klägerin ist nicht auf einem Fußgängerüberweg zu Fall gekommen. Ihrem Vortrag
ist auch nicht zu entnehmen, daß sie auf einer "gefährlichen Stelle" der Fahrbahn
gestürzt ist. Entgegen der von ihr im Senatstermin vertretenen Auffassung kann auch
nicht die gesamte Stichstraße der I-Straße als "gefährliche Stelle" eingestuft werden.
Dabei kann dahinstehen, ob diese Straße, wie die Klägerin behauptet, ein Gefälle
aufweist und deswegen bei Glätte gefährlicher ist als andere (ebene) Straßen. Zum
Bestreuen der Fahrbahn wären die Anlieger nur verpflichtet, wenn dies in der Satzung
mit hinreichender Deutlichkeit bestimmt wäre. Nach § 4 Abs. 2 StrReinG NW sind Art
und Umfang der übertragenen Reinigungspflicht in der Satzung zu bestimmen. Wird die
Winterwartung auf die Anlieger abgewälzt, so muß der Pflichtenumfang so klar
umschrieben werden, daß die betroffenen Anwohner darüber nicht im Zweifel sein
können (OLG Köln, VersR 1988, 827; OLG Düsseldorf VersR 1993, 577). Der Anlieger
muß wissen, wo er bei Glätte streuen muß. Das kann er hier der Satzung nicht
entnehmen. Aus der Regelung, daß "gefährliche Stellen" zu bestreuen sind, kann er
nicht den Schluß ziehen, daß die Fahrbahn der Stichstraße entweder insgesamt oder
aber wenigstens auf einem für den sicheren Fußgängerverkehr notwendigen Streifen
von 1 bis 1,2 m (vgl. dazu Senatsurt. v. 1. Februar 1989, 13 U 252/88) oder 1,5 m (wie §
1 Abs. 1 S. 5 der Satzung für Fußgängerzonen bestimmt) bestreut werden muß. Eine
solche Regelung findet sich auch nicht in § 3 Abs. 4 der Satzung. Diese Vorschrift
befaßt sich nicht mit dem räumlichen Umfang der Winterwartung, sondern definiert
ausschließlich den zeitlichen Pflichtenkreis. Hinsichtlich der Räum- und Streupflicht der
Fahrbahn der zu dem Haus I-Straße Nr. #2 führenden Stichstraße enthält die Satzung
der Stadt L mithin keine wirksame Delegation der Winterwartung, denn es ist nicht klar
geregelt, inwieweit eine Räum- und Streupflicht (außerhalb von Fußgängerüberwegen
und gefährlichen Stellen) besteht, wenn eine Straße - wie hier die Stichstraße der I-
Straße - keinen Gehweg hat.
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II.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, diejenige über die vorläufige
Vollstreckbarkeit auf § 708 Ziff. 10 ZPO.
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