Urteil des OLG Hamm vom 21.11.2002
OLG Hamm: wohnung, beweiswürdigung, wiedergabe, eltern, spiel, zeugenaussage, ehepaar, strafzumessung, freiheit, beweismittel
Oberlandesgericht Hamm, 5 Ss 1016/02
Datum:
21.11.2002
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
5. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 Ss 1016/02
Vorinstanz:
Amtsgericht Dortmund, 64 Ls 162 Js 10/02 (23/02)
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten der Revision, an ein anderes Jugendschöffengericht des
Amtsgerichts Dortmund zurückverwiesen.
G r ü n d e :
1
I.
2
1.
3
Das Jugendschöffengericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von
Kindern in zwei Fällen, "in einem Fall: minder schwerer Fall", zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung
ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete
Revision des Angeklagten, mit der er ausschließlich die Verletzung materiellen Rechts
hinsichtlich des Schuldspruchs wie auch des Rechtsfolgenausspruchs rügt.
4
2.
5
Zum Tatgeschehen hat das Jugendschöffengericht festgestellt:
6
"An einem nicht näher bestimmbaren Tag Anfang bis Mitte 1993, eventuell auch
1992, die Zeugin N1 mag 6 oder 7 Jahre alt gewesen sein, hielt sich diese in der
beschriebenen Wohnung der Familie T1 im Hause H Straße auf, weil sie mit ihrer
Freundin T2 zusammen war. Zu diesem Zeitpunkt befand sich auch der Angeklagte
in der Wohnung. Es kam dazu, dass sich der Angeklagte zusammen mit den
beiden Mädchen im Kinderzimmer der Wohnung aufhielt. Die beiden Mädchen
spielten gern mit dem Angeklagten. Ob im Rahmen eines Spiels oder weil der
Angeklagte etwas vorlas, kam es dazu, dass der Angeklagte auf dem Boden saß,
den Rücken an die Heizung gelehnt, die Beine gespreizt. Zwischen seinen
7
gespreizten Beinen saß die Zeugin N1, links oder rechts neben ihr T2. Während
N1 zwischen seinen gespreizten Beinen saß, schob der Angeklagte nun von oben
durch den Hosenbund seine
Hand unter die getragene Oberbekleidungshose sowie die Unterhose der N1 und
manipulierte mit seinen Fingern an der Scheide des Kindes N1. Dabei fragte er
sinngemäß das Kind, ob das gut sei oder ob ihr das gefalle. So handelte der
Angeklagte einige Minuten, bis aus irgendeinem Grund die Situation ein Ende
nahm. Das Kind N1 wehrte sich nicht gegen die Manipulation des Angeklagten. Ihr
war es zwar fremd, dass sie an dieser Stelle angefasst wurde. Da es nicht weh tat,
allenfalls kitzelte, widersetzte sie sich nicht.
8
Allerdings, als sie auf ihre Mutter traf, erzählte sie, dass der Onkel I ohne Bart, der
Angeklagte, sie an der "Muschi gekrault" habe. Die Mutter, die Zeugin N2, stellte
einige Nachfragen und es kam zu einem Gespräch mit Herrn T3, wie aber auch in
der Wohnung N zwischen dem Ehepaar N und dem Ehepaar T4. Der Angeklagte
stritt ab. Ergebnis der Erörterung war, dass das geschilderte Erlebnis der N1 nicht
weiter verfolgt werden sollte. Jedoch wurde N1 untersagt, zu ihrer Freundin T2 zu
gehen, wenn der Angeklagte sich in der Wohnung T1 aufhalte.
9
Einige Zeit später, es mag ein Jahr gewesen sein, die Zeugin N2 meint, es sei vor
den Osterferien 1994 gewesen, kam die Zeugin N1 vom Tennistraining. Sie hatte
ihrer Freundin T2 versprochen, dass sie danach zu ihr in die Wohnung kommen
wolle. Das tat die Zeugin N1. Offenbar war sie sich nicht bewusst darüber, dass der
Angeklagte sich in der Wohnung T1 aufhielt. Jedenfalls kam es dann im
Kinderzimmer der Zeugin T2 zu einem lustigen Spiel, sodass die Zeugin N1 das
Verbot ihrer Eltern beiseite schob. Der Angeklagte krabbelte auf allen Vieren hinter
den Mädchen über den Boden. Es mag sein, dass sich das Spiel um die
Geschichte von Tarzan und Jane drehte. Jedenfalls kam es dazu, dass der
Angeklagte die vor ihm krabbelnde Zeugin N1 mit er Hand von hinten um den
Bauch fasste, fest- und hochhielt, bei dieser Gelegenheit wiederum unter ihre
Kleidung und ihre Unterhose von oben hineinfasste und
10
mit der Hand die Scheidengegend berührte. Diesmal reagierte die Zeugin N1
sofort, indem sie sich dem Griff des Angeklagten entzog und das Haus verließ.
Auch hierüber berichtete sie ihren Eltern. Gleichwohl wurde damals entschieden,
dass es nicht zu einer Anzeige kommen sollte."
11
Nach den Urteilsgründen beruhen diese Feststellungen "auf der Einlassung des
Angeklagten, soweit ihr gefolgt werden konnte, im Übrigen auf den Bekundungen vor
allen Dingen der Zeugin N1, aber auch ihrer Mutter N2, der sich N1 tatzeitnah anvertraut
hat". Wie sich der Angeklagte im Einzelnen zur Sache eingelassen hat, ist den
Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Insoweit heißt es lediglich: "Der Angeklagte
bestreitet sämtliche Vorwürfe und versucht wortreiche Erklärungen".
12
II.
13
Der auf die Sachrüge vorzunehmenden rechtlichen Nachprüfung des angefochtenen
Urteils halten die Darlegungen des Jugendschöffengerichts zur Beweiswürdigung nicht
stand.
14
1.
15
Grundlage jeder Sachentscheidung des Strafrichters ist der Tathergang, von dem der
Richter überzeugt ist. Gemäß § 261 StPO hat das Gericht über das Ergebnis der
Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften
Überzeugung zu entscheiden. Das Ergebnis der Beweisaufnahme zu würdigen, ist
allein Sache des Tatrichters. Allerdings sind dem Gericht bei der ihm nach § 261 StPO
eingeräumten Freiheit der Überzeugungsbildung Grenzen gesetzt, deren Beachtung
das Revisionsgericht prüft.
16
Grundlage dieser revisionsgerichtlichen Beweiswürdigungsprüfung ist das schriftliche
Urteil, mit dem der Tatrichter darüber Rechenschaft gibt, auf welchem Wege er von den
Beweismittelergebnissen zum festgestellten Sachverhalt gelangt ist (vgl. BGH NStZ
1985, 184). Aus der Verfahrensvorschrift des § 267 StPO, die den Inhalt der
Urteilsgründe festlegt, ergibt sich zwar nicht, dass das Gericht verpflichtet ist, eine
Beweiswürdigung im Urteil wiederzugeben, in der die Einlassung des Angeklagten
mitgeteilt und diese Einlassung unter Bewertung der sonstigen Beweismittel gewürdigt
wird. Doch ist eine entsprechende Erörterung und Würdigung dann notwendig, wenn
das Revisionsgericht nur auf dieser Grundlage nachprüfen kann, ob das materielle
Recht richtig angewendet worden ist und ob die Denk- und allgemeinen
Erfahrungssätze beachtet worden sind. Das ist in aller Regel der Fall; nur bei sachlich
und rechtlich einfach gelagerten Fällen kann das Gericht auf die Wiedergabe der
Einlassung und auf eine Auseinandersetzung mit den Angaben des Angeklagten ohne
Verstoß gegen seine materiell-rechtliche Begründungspflicht verzichten (vgl. BGH
NStZ-RR 1997, 217 und StV 1984, 64; Niemöller, Die strafrichterliche Beweiswürdigung
in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, StV 1984, 431 (436/437); OLG
Köln VRS 87, 205 (206); OLG Stuttgart, Die Justiz 1990, 372; OLG Düsseldorf, NStZ
1985, 323; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 45. Aufl., § 267 StPO Rdnr. 12 m.w.N.). Wie von
der Revision mit Recht geltend gemacht wird, genügt das angefochtene Urteil diesen
Anforderungen nicht, weil es an der Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten fehlt,
obwohl die Sache offenkundig weder tatsächlich noch rechtlich einfach gelagert ist.
17
Schon dieser sachlich-rechtliche Mangel nötigt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils, da der Senat nicht prüfen kann, ob die Überzeugung des
Jugendschöffengerichts auf rechtlich fehlerfreien Erwägungen beruht. Das
angefochtene Urteil war deshalb mit den zugrunde liegenden Feststellungen
aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an ein anderes
Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Dortmund zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2
StPO), das auch über die Kosten der Revision zu befinden haben wird, da deren Erfolg
im Sinne des § 473 StPO noch nicht feststeht.
18
2.
19
Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass gegen die Beweiswürdigung in dem
angefochtenen Urteil weitere rechtliche Bedenken bestehen. Das
Jugendschöffengericht hat (auch) den Inhalt der Aussage der Zeugin N1, auf die es sich
bei ihrer Entscheidung maßgeblich gestützt hat, nicht mitgeteilt, sondern insoweit
lediglich ausgeführt:
20
"Die Zeugin N1 hat das Gericht mit ihrer Schilderung, die das Gericht den
Feststellungen zu Grunde gelegt hat, absolut überzeugt. Die jetzt 15 Jahre alte
21
Zeugin ist Gymnasiastin, jetzt der 10. Klasse. Ihre Aussage zeichnete sich durch
ihre aufmerksame und offene Art aus. Sie war bemüht,
ihre Erinnerung genau offen zu legen. Auf Nachfragen versuchte sie, soweit die
Erinnerung dies hergab, zu antworten. Ihre Antworten waren jedenfalls stets
stimmig und plausibel. Diese Zeugin hat auf das Gericht einen absolut
verlässlichen und überzeugenden Eindruck gemacht. Das Gericht hatte daher nicht
den Hauch eines Zweifels hinsichtlich der Schilderung dieser Zeugin."
22
Damit hat das Jugendschöffengericht lediglich das Ergebnis seiner Bewertung der
Glaubwürdigkeit der Zeugin mitgeteilt, ohne im Einzelnen nachvollziehbar darzutun,
warum die Zeugin und nicht der Angeklagte glaubwürdig ist. Gerade in einem Fall von
Aussage gegen Aussage, wie er hier vorliegt, bedarf es aber einer lückenlosen
Gesamtwürdigung aller Indizien (ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs: vgl.
BGH StV 1995, 5; 1997, 360 und 245; 1998, 250). Es versteht sich von selbst, dass
hierzu die Mitteilung des Inhalts der Zeugenaussage und eine eingehende
Auseinandersetzung mit ihr erforderlich ist.
23
3.
24
Für die neue Hauptverhandlung ist vorsorglich ferner darauf hinzuweisen, dass auch die
Strafzumessung in dem angefochtenen Urteil in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft ist.
25
Hinsichtlich der Verhängung der Einzelstrafe von acht Monaten für die "erste Tat" hat
das Jugendschöffengericht ausgeführt:
26
"Wenn die Staatsanwaltschaft eine Einsatzstrafe von acht Monaten beantragt hat,
so war dies zur Überzeugung des Gerichts in keiner Weise zu beanstanden. Diese
Einsatzstrafe wurde gegen den Angeklagten festgesetzt."
27
Diese Ausführungen, die sich nicht im Ansatz an den Grundsätzen der Strafzumessung
gemäß § 46 StGB orientieren, stellen eine tragfähige und für das Revisionsgericht
nachprüfbare Begründung für die Verhängung der ausgesprochenen Strafe nicht dar,
was die Revision zu Recht beanstandet.
28
Was die Verhängung der Freiheitsstrafe von fünf Monaten für die "zweite Straftat" betrifft,
hat das Jugendschöffengericht strafschärfend verwertet, dass der Angeklagte "auch trotz
der beeindruckenden Zeugenaussage N1 bei seinem Bestreiten" blieb, was zeige,
"dass er sein Fehlverhalten nicht einräumen kann". Auch dies ist rechtlich fehlerhaft.
Zwar hätte die Einsicht des Angeklagten in von ihm begangenes Unrecht einen
Strafmilderungsgrund darstellen können. Das Fehlen eines solchen Umstandes ist aber
nicht umgekehrt ein strafschärfender Gesichtspunkt (vgl. BGH MDR 1980, 240; Stree in
Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., § 46 Rdnr. 45 b).
29