Urteil des OLG Hamm vom 05.12.2005

OLG Hamm: vergütung, ermittlungsverfahren, gebühr, rechtspflege, pflichtverteidiger, rückwirkung, unzumutbarkeit, vertreter, geständnis, mitarbeit

Oberlandesgericht Hamm, 2 (s) Sbd. VIII – 221/05
Datum:
05.12.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 (s) Sbd. VIII – 221/05
Vorinstanz:
Landgericht Detmold, 4 KLs 6 Js 197/04
Tenor:
Der Antragstellerin wird anstelle ihrer gesetzlichen Gebühren in Höhe
von 1.634,00 EURO eine Pauschgebühr in Höhe von 2.000,00 EURO
(in Worten: zweitausend EURO) bewilligt.
Der weitergehende Antrag wird abgelehnt.
Gründe:
1
I.
2
Die Antragstellerin begehrt für ihre Tätigkeit als gerichtlich bestellte Verteidigerin die
Gewährung einer Pauschgebühr, die die Wahlverteidigerhöchstgebühren noch
übersteigt.
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Sie ist dem ehemaligen Angeklagten in dem führenden Verfahren durch Beschluss vom
04. Februar 2005 als Pflichtverteidigerin beigeordnet worden, mithin vor der am 26. April
2005 erfolgten Anklageerhebung. Erstmals tätig geworden ist sie am 31. Januar 2002. In
dem verbundenen Verfahren ist sie erstmals am 15. Februar 2005 tätig geworden; die
Anklageschrift ist in jenem Verfahren am 4. Juli 2005 beim Landgericht Detmold
eingegangen. Die Bestellung zur Pflichtverteidigerin erfolgte gleichfalls am 4. Juli 2005.
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Hinsichtlich der Tätigkeiten der Antragstellerin im Einzelnen wird auf die Stellungnahme
des Leiters des Dezernats 10 vom 10. November 2005 Bezug genommen, die der
Antragstellerin bekannt ist und in der deren Tätigkeitsumfang zutreffend dargestellt ist.
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Auf die Sache ist das am 1. Juli 2004 in Kraft getretene RVG anwendbar, da die
Beiordnung der Antragstellerin erst im Februar 2005 erfolgte, so dass gemäß § 61 Abs.
1 Satz 1 2. Alternative RVG das RVG und nicht (mehr) die BRAGO anwendbar ist.
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II.
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Der Antragstellerin war nach § 51 RVG eine Pauschgebühr zu bewilligen.
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1.
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Das Verfahren war zum einen "besonders schwierig" im Sinne von § 51 Abs. 1 RVG.
Zur Frage, wann ein Verfahren "besonders schwierig" ist, hält der Senat an seiner
bisherigen Rechtsprechung zu § 99 Abs. 1 BRAGO fest. Das RVG hat insoweit keine
Änderung gebracht (vgl. Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, § 51 Rn. 18), so dass
die bisherige Rechtsprechung anwendbar bleibt. "Besonders schwierig" im Sinne des §
51 Abs. 1 RVG ist also ein Verfahren, das aus besonderen tatsächlichen oder
rechtlichen Gründen über das Normalmaß hinaus erheblich verwickelt ist (vgl. dazu zu §
99 BRAGO Burhoff in StraFo 1999, 261, 264). Der Senat schließt sich vorliegend der
Einschätzung des Vorsitzenden der Wirtschaftsstrafkammer an (vgl. dazu grundlegend
Senat in AnwBl. 1998, 416 = ZAP EN-Nr. 609/98 = AGS 1998, 104 und Senat in JurBüro
1999, 194 = AGS 1999, 104 = AnwBl. 2000, 56). Die Einschätzung des Vorsitzenden
des Gerichts ist nach wie vor i.d.R. maßgeblich.
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2.
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Das Verfahren war für die Antragstellerin zum anderen "besonders umfangreich" im
Sinne des § 51 Abs. 1 RVG.
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Auch insoweit bleibt, da die Formulierung des § 51 Abs. 1 RVG dem bisherigen § 99
Abs. 1 BRAGO entspricht, die bisherige Rechtsprechung des Senats zum "besonderen
Umfang" weitgehend anwendbar. Allerdings muss sie jeweils sorgfältig darauf
untersucht werden, inwieweit Tätigkeiten, für die das RVG einen besonderen
Gebührentatbestand geschaffen hat, jeweils für die Annahme des "besonderen
Umfangs" mitbestimmend gewesen sind (Burhoff/Burhoff, a.a.O., § 51 RVG Rn. 11).
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"Besonders umfangreich" ist eine Strafsache danach nach wie vor dann, wenn der von
dem Verteidiger erbrachte zeitliche Aufwand erheblich über dem Zeitaufwand liegt, den
er in einer "normalen" Sache zu erbringen hat (allgemeine Meinung zu § 99 BRAGO;
vgl. die Nachweise bei Burhoff in StraFo 1999, 261, 263 in Fn. 30 und die ständige
Rechtsprechung des Senats).
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Das RVG sieht bei den Gebühren des Strafverteidigers in Teil 4 VV RVG im
Wesentlichen eine verfahrensabschnittsweise Vergütung vor, die - so der Gesetzgeber
in der Gesetzesbegründung (vgl. dazu BT-Dr. 15/1971, S. 220) - eine bessere
Honorierung der Tätigkeiten des Rechtsanwalts im Strafverfahren ermöglicht. Dem hat
er bei der Neufassung des § 51 RVG dadurch Rechnung getragen, dass nunmehr
ausdrücklich in § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG die Bewilligung einer Pauschgebühr für einen
Verfahrensabschnitt möglich sein soll (vgl. dazu BT-Dr. 15/1971, S. 201). Dem hat nach
Auffassung des Senats die Rechtsprechung auch dann Rechnung zu tragen, wenn eine
Pauschgebühr nicht nur für einen einzelnen Verfahrensabschnitt beantragt wird,
sondern – wie vorliegend - für das gesamte Verfahren. Grundsätzlich wird auch in
diesen Fällen zunächst zu untersuchen sein, inwieweit der besondere Umfang der
anwaltlichen Tätigkeit hinsichtlich einzelner Verfahrensabschnitte zu bejahen ist (so
auch OLG Jena in den Beschlüssen vom 11. Januar 2005, AR (S) 185/04 und 14. Juni
2005, AR(S) 61/05, http://www.burhoff.de). Die bislang von der Rechtsprechung der
Oberlandesgerichte in der Regel vorgenommene Gesamtbetrachtung des Verfahrens
(vgl. dazu u.a. OLG Hamm StraFo 1997, 286 = AnwBl. 1998, 220) kann unter Geltung
des RVG erst in einem zweiten Schritt vorgenommen werden, wenn nämlich zu
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entscheiden ist, ob zwar nicht ein einzelner Verfahrensabschnitt "besonders
umfangreich" gewesen ist, ggf. das Verfahren aber "insgesamt" als "besonders
umfangreich" einzustufen ist (so auch OLG Jena, a.a.O.). Das wird z.B. dann der Fall
sein können, wenn die einzelnen Verfahrensabschnitte jeweils noch nicht den Grad des
"besonderen Umfangs" erreicht haben, sie aber jeweils so umfangreich sind, dass in der
Gesamtschau unter Berücksichtigung der Kriterien des RVG ein "besonderer Umfang"
anzunehmen ist. In dem Zusammenhang ist aber unter Anwendung des RVG zu
berücksichtigen, dass dieses nunmehr für einige Tätigkeiten des Pflichtverteidigers
besondere eigenständige Gebühren vorsieht, wie die Nr. 4102 VV RVG und die so
genannten Längenzuschläge für besonders lange Hauptverhandlungen. Diese
Tätigkeiten haben in der Gesamtschau nicht mehr das Gewicht, das sie bei der
Bewilligung einer Pauschgebühr nach § 99 BRAGO noch hatten (so auch
Burhoff/Burhoff, a.a.O., Nr. 4114 VV RVG Rn. 1, Nr. 4110 VV RVG Rn. 2). In
Übereinstimmung mit dem Leiter des Dezernats 10 ist der Senat der Auffassung, dass
die Tätigkeiten, die die Antragstellerin im vorgerichtlichen Verfahren (Verfahrensgebühr
Nr. 4104 mit Zuschlag Nr. 4105 VV RVG) erbracht hat, noch nicht als besonders
umfangreich zu bewerten sind. Zwar hat die Antragstellerin vorgetragen, sie habe sich in
umfangreiches Aktenmaterial einarbeiten müssen und habe ihren Mandanten zur
Vorbereitung der Hauptverhandlung sieben Mal in der JVA E besucht, wobei die reine
Besuchsdauer jeweils ca. zwei Stunden betragen habe. Jedoch haben lediglich vier
dieser Besuche während des Vorverfahrens stattgefunden, die weiteren drei Besuche
erfolgten hingegen nach Anklageerhebung. Soweit von "ca. weiteren fünf Besuchen" die
Rede ist, fehlen hierzu Angaben zu den Zeitpunkten und zur Dauer der Besuche; es
wird lediglich vorgetragen, dass anlässlich dieser Besuche auch andere Mandanten
aufgesucht worden seien. Die Haftbesuche einschließlich der aufgewandten Fahrzeiten
sind aber noch nicht von einem solchen Umfang, dass sie die Tätigkeit der Verteidigerin
im Ermittlungsverfahren schon als besonders umfangreich erscheinen lassen (vgl.
hierzu auch den Beschluss des OLG Karlsruhe vom 23. August 2005 –1 AR 36/05–).
Denn die nach der Anklageerhebung erfolgten Besuche wirken sich allein auf die
Verfahrensgebühr Nr. 4118 mit Zuschlag Nr. 4119 VV RVG aus und sind demzufolge
nicht geeignet, eine Erhöhung der Verfahrensgebühr Nr. 4104 mit Zuschlag (Nr. 4105
VV RVG) zu begründen.
Die Tätigkeiten, die die Antragstellerin im gerichtlichen Verfahren erbracht hat, sind in
Übereinstimmung mit den Ausführungen des Vertreters der Staatskasse noch nicht als
besonders umfangreich im Sinne des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG zu bewerten. Das Gleiche
gilt für die Tätigkeit in dem Hauptverhandlungstermin.
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In der Gesamtschau war die Tätigkeit der Antragstellerin vorliegend dennoch als
"besonders umfangreich" im Sinne von § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG anzusehen. Dabei war
für die Einordnung des vorliegenden Verfahrens als "besonders umfangreich"
insbesondere von Bedeutung, dass das Verfahren durch die aktive Mitarbeit der
Verteidigerin letztlich erheblich abgekürzt werden konnte. Der ehemalige Angeklagte
hat ein umfassendes Geständnis abgelegt und dadurch die Vernehmung weiterer
Zeugen erspart, die zum Teil eine erhebliche Anfahrt gehabt hätten. Der Senat hat
schon in der Vergangenheit die intensive Vorbereitung der Hauptverhandlung, die zu
einer Verkürzung der Hauptverhandlung führt, bei der Bewilligung einer Pauschgebühr
berücksichtigt (vgl. Senat in StraFo 1997, 30 = JurBüro 1997, 85). Er hält an dieser
Rechtsprechung im weiterhin bestehenden Interesse an einer effektiven, zeit- und
kostensparenden Rechtspflege fest.
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Demgemäß war der Antragstellerin eine Pauschgebühr zu bewilligen. Diese hat der
Senat in Höhe von 2.000,00 € als angemessen aber auch ausreichend angesehen und
in dieser Höhe festgesetzt. Dabei hat der Senat die Gebühr nach Nr. 4118VV RVG mit
Zuschlag (Nr. 4119 VV RVG) wegen des "besonderen Umfangs" und die gesetzlichen
Gebühren des Antragstellers wegen der "besonderen Schwierigkeit" insgesamt auf
2.000,00 € erhöht. Der weitergehende Antrag war demzufolge abzulehnen. Der Senat ist
allerdings – entgegen der Stellungnahme des Vertreters der Staatskasse – der
Auffassung, dass lediglich in dem verbundenen Verfahren 6 Js 447/05 StA Bielefeld
eine Grundgebühr Nr. 4101 VV RVG angefallen ist. In dem führenden Verfahren steht
der Antragstellerin nicht die Grundgebühr nach Nr. 4101 RVG VV, sondern lediglich die
Vorverfahrensgebühr nach BRAGO. § 48 Abs. 5 S. 1 RVG bestimmt, dass der im ersten
Rechtszug bestellte Pflichtverteidiger die Vergütung auch für seine Tätigkeit vor dem
Zeitpunkt seiner Bestellung einschließlich seiner Tätigkeit vor der Anklageerhebung
erhält. Es bleibt aber offen, ob die Vergütung insoweit nach der BRAGO oder dem RVG
zu erfolgen hat. Die Grundgebühr entsteht nach dem RVG für die erstmalige
Einarbeitung in den Rechtsfall. Die Antragstellerin war zum Zeitpunkt ihrer Bestellung
zur Pflichtverteidi-gerin am 4. Februar 2005 bereits in die Materie eingearbeitet. Die
Einarbeitung erfolgte bereits zwischen der Wahlmandatsübernahme am 31. Januar
2002 und dem Inkrafttreten des RVG am 1.7.2004. In der Einarbeitungsphase der
Verteidigerin war das RVG somit noch nicht in Kraft. Die Rückwirkung der Bestellung
führt nach §§ 48 Abs. 5, 61 RVG deshalb auch unter Berücksichtigung der
Gesetzesbegründung, die im Gesetz selbst keinen Niederschlag gefunden hat, nicht
dazu, dass die Antragstellerin ihre Einarbeitungstätigkeit im Ermittlungsverfahren nach
dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Kraft getretenen RVG vergütet erhalten kann. Der
Senat ist deshalb der Ansicht, dass die Antragstellerin in dem führenden Verfahren für
die Einarbeitung in die Sache im Ermittlungsverfahren nicht die Grundgebühr nach Nr.
4101 RVG VV in Höhe von 162,00 EUR, sondern die Vorverfahrensgebühr nach §§ 97
Abs. 1 S. 1, 84 Abs. 1, 83 Abs. 1 Nr. 2 BRAGO in Höhe von 120,00 EUR beanspruchen
kann (vgl. hierzu auch OLG Bamberg, Beschluss v. 13. September 2005, Ws 676/05)
Die gesetzlichen Gebühren betragen daher nicht – wie der Vertreter der Staatskasse
angegeben hat – 1.676,00 EUR, sondern 1.634,00 EUR. Der Senat ist vorliegend davon
ausgegangen, dass die Voraussetzungen der "Unzumutbarkeit" i.S. des § 51 Abs. 1
Satz 1 RVG zu bejahen sind, da das Verfahren als sowohl "besonders schwierig" als
auch "besonders umfangreich" anzusehen ist.
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