Urteil des OLG Hamm vom 22.05.2003

OLG Hamm: angeklagter, willenserklärung, anschluss, rechtsmittelbelehrung, befragung, amt, fürsorgepflicht, anzeichen, verzicht, beweiswürdigung

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ws 188/03
Datum:
22.05.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ws 188/03
Vorinstanz:
Landgericht Essen, 31 Ls 121/02
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die den Angeklagten
dadurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
G r ü n d e :
1
I.
2
Die Angeklagten sind durch Urteil des Amtsgerichts Bottrop vom 11.10.2002 des
gemeinschaftlichen Betruges in zwei Fällen schuldig gesprochen worden; gegen die
angeklagte Ehefrau ist eine Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 5,- € und
gegen ihren Ehemann eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten unter
Strafaussetzung zur Bewährung verhängt worden.
3
In dem von der erkennenden Richterin und der Protokollführerin unterzeichneten
Protokoll der Hauptverhandlung befindet sich am Ende nach der protokollierten
Belehrung der Angeklagten über die Möglichkeit der Einlegung der Berufung und der
Revision folgender im Wesentlichen gestempelter Vermerk:
4
Nach Rechtsmittelbelehrung erklärten die Angeklagte: "Ich verzichte auf die
Einlegung eines Rechtsmittels gegen das soeben verkündete Urteil" vorgelesen
und genehmigt.
5
Am 18.10.2002 erklärten beide Angeklagte zur Niederschrift auf der Geschäftsstelle des
Amtsgerichts Bottrop, dass sie gegen das Urteil vom 11.10.2002 Berufung einlegen.
6
Durch den angefochtenen Beschluss hat das Landgericht Essen die Berufung der
Angeklagten vom 18.10.2002 im Hinblick auf den protokollierten Rechtsmittelverzicht
als unzulässig verworfen.
7
Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde beider Angeklagter.
8
II.
9
Die gemäß §§ 322 Abs. 2, 311 Abs. 2 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige
sofortige Beschwerde hat in der Sache zumindest vorläufigen Erfolg.
10
Ein wirksamer Rechtsmittelverzicht beider Angeklagter ist trotz des Protokollvermerks
nicht anzunehmen.
11
Zwar kann bereits in der Hauptverhandlung unmittelbar im Anschluss an die
Urteilsverkündung ein Rechtsmittelverzicht wirksam erklärt und in der Sitzungsnieder-
12
schrift protokolliert werden (vgl. Löwe-Rosenberg, 24. Aufl., Rdnr. 13 zu § 302, BGH
NStZ 86, 277). Im Hinblick auf die damit verbundene Unwiderruflichkeit der Prozess-
13
erklärung ist es jedoch geboten, den Angeklagten unmittelbar im Anschluss an die
Urteilsverkündung nicht zu einer Erklärung, ob Rechtsmittelverzicht erklärt werde, zu
veranlassen (Nr. 142 Abs. 2 RiStBV). Wird indes eine Erklärung abgegeben, so ist für
einen wirksamen Rechtsmittelverzicht eine eindeutige vorbehaltslose und ausdrückliche
Erklärung zu verlangen. Eine solche kann vorliegend von beiden Angeklagten nicht
festgestellt werden.
14
Aus dem Protokollvermerk hinsichtlich der abgegebenen Erklärung ergibt sich eine
Beweiswirkung i.S.d. § 274 StPO bereits deshalb nicht, weil der Protokollvermerk nicht
eindeutig ist. Der Vermerk, der lautet: "Nach Rechtsmittelbelehrung erklärten die
Angeklagte ...", ist grammatikalisch nicht korrekt; ihm kann nicht mit Eindeutigkeit
entnommen werden, ob beide Angeklagte jeder für sich und jeweils oder nur die
angeklagte Ehefrau die Verzichtserklärung abgegeben haben. Aufgrund der objektiven
Mehrdeutigkeit fällt die Beweiskraft des Protokolls im vorgenannten Punkt weg. Die
Frage des Rechtsmittelverzichts ist mithin in freier Beweiswürdigung zu beurteilen. Die
dienstlichen Äußerungen der erkennenden Richterin und der Protokollführerin sind
jedoch nicht geeignet, eine unmissverständliche Willenserklärung der beiden
Angeklagten zur Frage des Verzichts auf eine Anfechtung des soeben verkündeten
Urteils festzustellen.
15
Die erkennende Richterin hat sich wie folgt dienstlich geäußert:
16
"Der Rechtsmittelverzicht ist nach meiner Erinnerung durch eindeutiges Kopfnicken
beider Angeklagten zustande gekommen, die sich dabei zunächst durch Blicke und
Gesten auf den Rechtsmittelverzicht verständigt hatten. Es ist mir nicht erinnerlich, dass
die Angeklagte psychisch labil war. Etwaige äußere Anzeichen wie etwa Hände vor das
Gesicht schlagen oder Weinen hat es meiner Erinnerung nach nicht gegeben."
17
Die dienstliche Äußerung der Protokollführerin lautet wie folgt:
18
"Da ich das Amt einer Dauerprotokollführerin beim Amtsgericht Bottrop wahrnehme,
kann ich mich konkret an die Aufnahme des Rechtsmittelverzichtes in dem Protokoll
vom 11.10.2002 nicht mehr erinnern.
19
Ich möchte aber sagen, dass ich gerade Rechtsmittelverzichtserklärungen sehr
gewissenhaft protokolliere, und dass speziell in diesem Fall der Rechtsmittelverzicht
20
beider Angeklagter aufgenommen wurde (s. Protokoll vom 11.10.2002, Bl. 47 R d.A.).
Wenn ein Verzicht unklar ist (z.B. durch Kopfnicken der Angeklagten), frage ich noch
einmal genau nach. Mehr kann ich zu dieser Angelegenheit nicht zu sagen."
Ob das bloße Kopfnicken bereits als eindeutige, vorbehaltlose und ausdrückliche
Erklärung angesehen werden kann, ist bereits zweifelhaft (ablehnend Meyer-Goßner,
StPO, 46. Aufl., Rdnr. 20 zu § 302; OLG Zweibrücken VRS 83, 358; OLG Koblenz MDR
81, 956). Angesichts des Umstandes, dass der Sinnzusammenhang des Kopfnickens,
insbesondere der exakte Inhalt der gestellten Frage nicht mitgeteilt worden ist, kann die
nötige Eindeutigkeit der Erklärung, die im Hinblick auf die Unwiderruflichkeit des
Verzichts zu fordern ist, nicht festgestellt werden. Angesichts denkbarer anderer
Deutungsmöglichkeiten eines Kopfnickens gebietet es die richterliche Fürsorgepflicht,
durch eine klare und konkrete Befragung der Angeklagten auf deren jeweils eindeutige
und unmissverständliche Willenserklärung zur Frage eines Rechtsmittelverzichts
hinzuwirken. Feststellungen in dieser Hinsicht sind nicht möglich, da sich die dienstliche
Äußerung der Richterin hierüber nicht verhält und die Erklärung der Protokollführerin
schon deshalb ungeeignet ist, weil es ihr an einer konkreten Erinnerung an die Sache
fehlt.
21
Unklar ist aufgrund der dienstlichen Äußerungen auch geblieben, wie der im Protokoll
befindliche Vermerk nach der Rechtsmittelerklärung "vorgelesen und genehmigt"
zustande gekommen ist. Soweit sich die Erklärung der Angeklagten tatsächlich jeweils
darauf beschränkt haben sollte, mit dem Kopf zu nicken, fragt sich, wie die
entsprechende Erklärung vorgelesen worden sein kann. Auch hierüber geben die
dienstlichen Äußerungen der Richterin und der Protokollführerin keinen Aufschluss.
22
Da nach alledem nicht festgestellt werden kann, dass die protokollierte
Rechtsmittelverzichtserklärung den tatsächlichen Äußerungen beider Angeklagter und
dem jeweils von ihnen wirklich Gewollten entspricht, liegt ein wirksamer
Rechtsmittelverzicht nicht vor.
23
Der angefochtene Beschluss unterliegt daher insoweit mit der Kostenfolge aus §§ 467,
473 StPO der Aufhebung.
24