Urteil des OLG Hamm vom 02.10.2001
OLG Hamm (unfall, bundesrepublik deutschland, interdisziplinäres gutachten, überwiegende wahrscheinlichkeit, schmerzensgeld, gutachten, zpo, höhe, erfahrung, verkehrsunfall)
Oberlandesgericht Hamm, 27 U 41/01
Datum:
02.10.2001
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
27. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
27 U 41/01
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 21 O 113/99
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 15. November 2000
verkündete Urteil der 21. Zivilkammer des Land-gerichts Dortmund wird
zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsmittels werden der Klägerin auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Es beschwert die Klägerin mit mehr als 60.000 DM.
Die Klägerin darf die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung
i.H.v. 22.000,00 DM abwenden, wenn nicht die Beklagten zuvor in
gleicher Höhe Sicherheit leisten.
Die jeweiligen Sicherheiten können auch durch Prozessbürg-schaft
eines in der Bundesrepublik Deutschland als Zoll- oder Steuerbürge
zugelassenen Kreditinstituts geleistet werden.
Tatbestand:
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Die 1939 geborene Klägerin begehrt restlichen Schadensersatz für ihre Verletzung bei
einem Verkehrsunfall am 2.2.1997 in G, bei dem sie als Führerin eines Pkw Golf auf der
Straße U-Straße eine Rechtskurve durchfahrend mit dem entgegenkommenden Pkw
Toyota des Beklagten zu 2) - haftpflichtversichert bei der Beklagten zu 1) - frontal
kollidierte. Die volle Haftung der Beklagten ist dem Grunde nach außer Streit. Die
Parteien streiten um das Ausmaß der von der Klägerin erlittenen Unfallverletzungen,
insbesondere die Schwere eines HWS-Traumas und die Unfallursächlichkeit von
angeblichen Dauerbeschwerden.
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Die Klägerin hat, gestützt auf Bescheinigungen der sie behandelnden Ärzte, behauptet,
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sie habe bei dem Unfall neben Hämatomen am linken Unterschenkel ein schweres
HWS-Schleudertrauma mit schmerzhaften Bewegungsbeeinträchtigungen sowie einen
Hartspann der Nackenmuskulatur erlitten.
Seit dem Unfalltage sei sie in ständiger ärztlicher Behandlung. Im Vordergrund der
Beschwerden stünden Kopf- und Nackenschmerzen. Hinzu kämen
Gleichgewichtsstörungen sowie linksseitige Gesichts- und Zahnschmerzen sowie
Ohrenschmerzen. Außerdem sei das Kurzzeitgedächtnis unfallbedingt beeinträchtigt.
Häufig leide sie auf Grund des Unfalles unter Schlaflosigkeit, dem ständigen Gefühl von
Trance und Abwesenheit, Konzentrations- und Reaktionsstörungen, Gedächtnis- und
Sehstörungen. Wegen der Einzelheiten der von ihr geklagten Beschwerden wird auf S.
3 f der Klageschrift Bezug genommen.
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Die Klägerin hat Ersatz selbst getragener Heilbehandlungskosten i. H. v. 4.233,78 DM,
angeblichen Haushaltsführungsschadens in Höhe von noch 4.455,00 DM, ein mit
100.000 DM vorgestelltes Schmerzensgeld abzüglich hierauf gezahlter 4.500,00 DM
und Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für ihre künftigen Schäden begehrt.
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Sie hat beantragt,
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1. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an sie 8.688,78 DM sowie ein
angemessenes Schmerzensgeld unter Berücksichtigung bereits gezahlter 4.500,00
DM jeweils nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung (8.9.9958) zu zahlen,
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2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr
sämtliche materiellen und immateriellen Zukunftsschäden aus dem Verkehrsunfall
vom 02.02.1997 auf der Straße U-Straße in G zu bezahlen, soweit die Ansprüche
nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
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Die Beklagten haben beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie haben behauptet, die Klägerin habe bei dem Unfall lediglich ein leichtes
Schleudertrauma der Halswirbelsäule sowie Hämatome am linken Unterschenkel
erlitten. Eventuelle sonstige Erkrankungen seien nicht unfallursächlich. Ein etwaiger
Schmerzensgeldanspruch sei, so haben sie gemeint, durch die erfolgte Zahlung erfüllt,
ebenso der Haushaltsführungsschaden ausgeglichen.
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Das Landgericht hat nach Anhörung der Klägerin und Einholung des fachchirurgischen
Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. N2 und dessen Oberarztes Dr. N vom
21.07.2000 (Bl. 111 ff GA) die Klage abgewiesen. Es hat dem Gutachten folgend die von
der Klägerin vorgebrachten Dauerbeschwerden als nicht unfallbedingt, sondern durch
eine erhebliche degenerative Vorschädigung ihrer Halswirbelsäule, die auch nicht
richtunggebend verschlimmert worden sei, verursacht erachtet. Die nur zeitweise etwa
über fünf Monate seit dem Unfall währenden Beschwerden seien mit dem gezahlten
Schmerzensgeld ausgeglichen, ebenso der ohnehin nicht messbare
Haushaltsführungsschaden mit den gezahlten 900 DM. Die entstandenen
Behandlungskosten seien nicht mehr der Unfallverletzung zuzuordnen, aus jener seien
auch keine Folgeschäden mehr zu erwarten. Dem Antrag der Klägerin auf Einholung
eines neuen Gutachtens sei nicht zu folgen, da er, soweit er eine Ablehnung des
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Sachverständigen wegen Befangenheit beinhalte, verspätet gestellt sei und das
Gutachten N2/N überzeugend sei, ohne dass die Klägerin überlegene Forschungsmittel
oder Erfahrung eines anderen Sachverständigen dargelegt habe.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlichen Anträge weiter. Sie rügt
weiterhin Unzulänglichkeit des vom Landgericht eingeholten
Sachverständigengutachtens. Es setze sich nicht mit dem konkreten Unfallgeschehen
auseinander, beurteile insbesondere nicht die bei dem Frontalzusammenstoß auf den
Körper der Klägerin einwirkenden Kräfte. Insoweit hat sie zunächst ein interdisziplinäres
Gutachten für erforderlich gehalten, das die aus dem Schadensgutachten bezüglich
ihres Pkw abzuleitenden Anstoßgeschwindigkeiten, die sie ursprünglich für ihr
Fahrzeug mit 40 km/h und das klägerische Fahrzeug mit mindestens 65 km/h behauptet
hat, und die dabei wirkenden Beschleunigungskräfte berücksichtige. Nach Vorlage der
Fotos mit den - vergleichsweise geringen - Beschädigungen ihres Pkw ( Bl. 235 ff GA )
hat die Klägerin in der Berufungsverhandlung an ihrem Vorbringen zu den
Kollisionsgeschwindigkeiten nicht mehr festgehalten.
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Auch die Annahme der Gutachter, die bei ihr, der Klägerin, erhobenen Befunde und
dargelegten Beschwerden beruhten nicht auf dem Unfall, sondern auf einer
degenerativen Vorschädigung der Halswirbelsäule, sei unrichtig. Sie widerspreche
allen vorausgegangenen aktenkundigen medizinischen Bewertungen, insbesondere der
des Dr. O vom 16.11.99. "Gewisse" altersbedingt degenerative Erscheinungen im
Wirbelsäulenapparat hätten vor dem Unfall zu keinerlei Beschwerden geführt gehabt (
Zeugnis ihres Ehemanns ). Die im Arztbrief des Hausarztes Dr. L vom 1.11.1999
mitgeteilte vorübergehende Behandlung von Verschleißerscheinungen der Hals- und
der Lendenwirbelsäule sei seit Dezember 1994 nicht mehr notwendig gewesen. Alle
nunmehr befundeten Beschwerden seien erst mit dem Unfall aufgetreten. Deshalb sei
der Beklagte zu 2) dafür auch insoweit verantwortlich, als sie auf einer bis dahin
"stumm" verlaufenen Vorschädigung beruhen sollten. Eine von den Gutachtern
vermisste röntgenologisch nachweisbare Veränderung des Skeletts durch das
Unfallereignis sei für die Feststellung der Kausalität der seitdem aufgetretenen
Beschwerden nicht erforderlich.
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Die Klägerin beantragt, abändernd
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1. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an sie
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a) 8.688,78 DM nebst 4% Zinsen seit Klagezustellung (8.9.1999),
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b) ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4% Zinsen seit
Klagezustellung abzüglich hierauf bereits gezahlter 4.500 DM
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zu zahlen,
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2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr
sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem
Verkehrsunfall vom 2. Februar 1997 auf der Straße U-Straße in G zu ersetzen,
soweit Ansprüche daraus nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige
Dritte übergegangen sind.
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Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigen das landgerichtliche Urteil und das ihm zugrunde liegende
Sachverständigengutachten.
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Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen Bezug genommen.
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Der Senat hat die Klägerin gemäß § 141 ZPO angehört; ferner hat der Sachverständige
Dr. N das schriftliche Gutachten vom 21.7.2000 mündlich erläutert. Wegen des Inhalts
ihrer Äußerungen wird auf den Berichterstattervermerk zum Protokoll der
Berufungsverhandlung vom 2.10.2001 verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist unbegründet, denn das Landgericht hat die Klage zu Recht
abgewiesen. Die Klägerin hat nicht, auch nicht mit bei der Schadensermittlung nach §
287 ZPO ausreichender, deutlich höherer, jedenfalls überwiegender Wahrscheinlichkeit
( vgl. dazu BGH NJW-RR 1996, 781; NJW 1995, 1023; NJW 1992, 3298/9) bewiesen,
dass ihre jedenfalls mit der Berufungserwiderung nicht mehr bestrittenen Beschwerden
durch das Unfallereignis vom 2.2.1997 verursacht sind.
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Der Annahme einer auch nur wahrscheinlichen Unfallursächlichkeit steht die
gegenteilige Feststellung des Sachverständigen entgegen. Danach sind die über fünf
Monate seit dem Unfall hinaus bestehenden Beschwerden der Klägerin nicht durch den
Unfall verursacht, für dessen Mechanismus auch nicht spezifisch, sondern auf
ausgeprägte degenerative Veränderungen der vorgeschädigten Halswirbelsäule zurück
zu führen. Letztere sind durch den Zusammenstoß der Fahrzeuge auch nicht
richtunggebend verschlimmert worden.
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Das Sachverständigengutachten ist jedenfalls nach seiner mündlichen Erläuterung in
der Berufungsverhandlung überzeugend. Das Vorliegen eines Frontal- an Stelle des
meist vorliegenden Heckanstoßes haben die Gutachter entgegen dem Angriff der
Klägerin erklärtermaßen erfasst. Hinsichtlich der bereits 1998 durchgeführten
Kernspintomographie der Halswirbelsäule hat Dr. N vor dem Senat klargestellt, dass
eine damals beschriebene "nicht ganz eindeutige Situation im Bereich des rechten
Ligamentum alare" ( S. 7 des Gutachtens ) keinen Hinweis auf eine unfallursächliche
Schädigung des Bandapparates als Auslöser der heute geklagten Beschwerden gibt.
Erkannt haben die Gutachter auch, dass die bestehende Vorschädigung der
Halswirbelsäule der Klägerin seit 1994 symptomlos gewesen bzw. nicht mehr behandelt
worden sein soll, S. 9 des Gutachtens. Dass dieser Umstand die Feststellung, der Unfall
müsse also die anschließenden Beschwerden verursacht haben, nicht trägt, entspricht
auch der regelmäßig durch medizinische Sachverständige bestätigten Erfahrung des
Senats aus zahlreichen vergleichbaren Fällen. Bei derartigen degenerativen
Vorschädigungen ist der Unfall - gleichsam wie der sprichwörtliche Tropfen, der das
Fass zum Überlaufen bringt, - nur zufälliger Auslöser der auf die Vorschäden
zurückzuführenden Beschwerden, die ohne den Unfall alsbald durch ein beliebiges
Alltagsereignis ausgelöst worden wären. Auch vorliegend hat Dr. N bei seiner Anhörung
durch den Senat festgestellt, dass bei der Klägerin eine Vorschädigung der
Halswirbelsäule vorlag, die jede "Banalität" zur Auslösung ihrer Beschwerden
ausreichen ließ. Diese Konstellation rechtfertigt es nur, diejenigen Beschwerden als
unfallursächlich anzusehen, die in der Zeit auftreten, in der sie auch bei einer nicht
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vorgeschädigten Wirbelsäule nach allgemeiner medizinischer Erfahrung aufgrund des
feststellbaren Anstoßes beobachtet werden. Bei der hier allein befundeten
Verletzungssymptomatik einer unbeeinträchtigten Halswirbelsäule sind laut
sachverständiger Feststellung S. 23 des Gutachtens die unfallursächlichen
Beschwerden in der Regel nach drei bis sechs Monaten abgeklungen. Entscheidend
gestützt wird dies durch die den Gutachtern vorliegenden Befundberichte, wonach sich
die klinische Symptomatik bei der Klägerin in den ersten fünf Monaten nach dem Unfall
verbesserte( S. 25 d. Gutachtens ) und sich erst dann die nunmehrigen Beschwerden
einstellten. Es spricht demnach alles dafür, dass nach fünf Monaten der Besserung die
degenerativen Veränderungen fortgewirkt haben. Keinesfalls besteht eine deutlich
überwiegende Wahrscheinlichkeit für ein Fortwirken der Unfallverletzung.
Ein unfalltechnisches Sachverständigengutachten zur Höhe der aufgetretenen
Beschleunigungskräfte im Rahmen eines interdisziplinären, technisch-medizinischen
Gutachtens könnte keine der Klägerin günstige bessere Erkenntnisgrundlage schaffen.
Die Fotos von dem klägerischen Pkw Golf Bl. 235 GA wie auch die von der Klägerin
dem Senat gegebene Unfallschilderung und die beschriebenen Verletzungen schließen
offensichtlich eine ungebremste Kollisionsgeschwindigkeit mit addierten
Ausgangsgeschwindigkeiten, wie die Klägerin sie zunächst behauptet hatte, aus. Dem
Rechnung tragend hat sie in der Berufungsverhandlung nach Diskussion der Fotos und
ihres Beweisantritts auf Parteivernehmung des Beklagten zu 2) den diesbezüglichen
Vortrag auch fallen gelassen. Tatsächlich kann danach die Aufprallenergie zwar nicht
völlig unerheblich, aber auch nicht sehr groß gewesen sein; hinzu kommt, dass die
Klägerin sie mit kräftigem Abstützen der Arme am Lenkrad teilweise auffangen konnte.
Auch der von den Sachverständigen vermutete Kopfanprall der Klägerin lässt sich nach
ihrer mündlichen Unfallschilderung gegenüber dem Senat nicht verifizieren. Ein
unfalltechnisches Gutachten könnte allenfalls ergeben, dass die Klägerin mechanischen
Kräften ausgesetzt gewesen sein kann, bei denen es zu einem sog.
Halswirbelsäulenschleudertrauma kommen kann, entsprechenden Beweis aber nicht
erbringen. Ob die Klägerin wirklich die behaupteten Verletzungen erlitten hat, kann
letztlich allein ein Mediziner feststellen. Diese Aufklärungsmöglichkeit ist indes
ausgeschöpft.
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Die von der Klägerin in den ersten fünf Monaten nach dem Unfall erlittenen
Beeinträchtigungen sind mit dem vorgerichtlich gezahlten Schmerzensgeld hinreichend
ausgeglichen.
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Die geltend gemachten materiellen Schäden beruhen sämtlich auf den späteren, nicht
durch den Unfall bedingten Gesundheitsstörungen, für die die Beklagten nicht
einzustehen haben.
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Der Feststellungsantrag ist unbegründet, weil die Klägerin nach dem Ergebnis des
Sachverständigengutachtens unfallsbedingte Zukunftsschäden nicht zu befürchten hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
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Das Urteil ist gemäß §§ 708 Nr. 10, 710 ZPO vorläufig vollstreckbar.
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