Urteil des OLG Hamm vom 12.06.2009

OLG Hamm: freies ermessen, fahrverbot, geschwindigkeitsüberschreitung, ausnahmefall, härte, verkehrsmittel, geschwindigkeitsbeschränkung, erfüllung, scheidung, fahren

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss OWi 68/09
Datum:
12.06.2009
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss OWi 68/09
Vorinstanz:
Amtsgericht Herford, 11 OWi 217/08
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung
und Ent-scheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das
Amtsgericht Herford zurückverwiesen.
Gründe
1
I.
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Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen "einer fahrlässigen außerörtlichen
Geschwindigkeitsüberschreitung von 27 km/h" zu einer Geldbuße von 400 Euro
verurteilt. Von der Verhängung des Regelfahrverbots nach § 4 Abs. 2 BKatV hat es unter
Erhöhung der Regelgeldbuße abgesehen.
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Gegen das Urteil hat die Staatsanwaltschaft Rechtsbeschwerde eingelegt. Sie rügt die
Verletzung materiellen Rechts.
4
II.
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Die – ausweilich ihrer Begründung und der Antragstellung der
Generalstaatsanwaltschaft als auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt
anzusehende - Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 79 Abs. 1 Nr. 3 OWiG), zulässig und
begründet.
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1.
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Die Erwägungen, mit denen das Amtsgericht von der Verhängung eines Fahrverbots
abgesehen hat, halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.
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a) Das Amtsgericht meinte, das Regelfahrverbot nach § 4 Abs. 2 BKatV bei Erhöhung
der Geldbuße wegfallen lassen zu können, weil die vorliegende
Geschwindigkeitsüberschreitung nur 2 km/h über der Grenze nach § 4 Abs. 2 S. 2
BKatV läge, die des recktskräftig gehandeten, relevanten Vorverstoßes gar nur um 1
km/h. Vorliegend habe es sich bei dem Tatort um einen autobahnmäßig ausgebauten
Teil einer Bundesstraße gehandelt und das Ende der Ausbaustrecke sei noch einige
hundert Meter entfernt gewesen, so dass Kraftfahrer in Höhe des stationären
Geschwindigkeitsmessgeräts "nicht unbedingt Veranlassung sehen" gemäß der
Beschilderung langsamer zu fahren. Mangels näherer Erkenntnisse sei hinsichtlich der
Vorbelastungen (neben der geschilderten noch eine weitere
Geschwindigkeitsüberschreitung von 23 km/h) anzunehmen, dass sich diese ebenfalls
auf gut ausgebauten Ausfallstraßen ereignet hätten. Schließlich gebe es auch
erhebliche berufliche Gründe für den Wegfall des Fahrverbots, da der Betroffene als
leitender Angestellter eines Autohauses mehrere Standorte zu betreuen habe und
flexibel einsetzbar sein müsse.
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b) Dass der Umstand, dass sich die im Rahmen des § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV relevanten
Geschwindigkeitasverstöße im unteren Bereich aufhalten, nicht ausreicht, um das
Absehen von einem Fahrverbot zu begründen, ist ständige obergerichtliche
Rechtsprechung, auch des Oberlandesgerichts Hamm. So hat der 5. Strafsenat in
seinem Beschluss vom 30.06.2008 – 5 SsOWi 387/08 - (juris) Folgendes ausgeführt:
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"Die Erfüllung eines der in § 4 Abs. 1 Nr. 1 - 4 BKatV geregelten Tatbestände
indiziert das Vorliegen eines groben Verstoßes i. S. v. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, der
zugleich ein derart hohes Maß an Verantwortungslosigkeit im Straßenverkehr
offenbart, dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines
Fahrverbotes bedarf (vgl. BGH St 38, 125 = NZV 1992, 117). Dabei betrifft die
Indizwirkung - soweit keine gegenteiligen Anhaltspunkte erkennbar sind - auch die
subjektive Seite des Vorwurfs (vgl. BGH NJW 1997, 3252; OLG Hamm NZV 1999,
92; OLG Karlsruhe DAR 2002, 229). Allerdings hat der Tatrichter, was das
Amtsgericht nicht verkannt hat, dabei auch stets zu prüfen, ob außergewöhnliche
Umstände vorliegen, die ausnahmsweise, insbesondere unter Beachtung des
Übermaßverbotes, das Absehen vom (Regel-) Fahrverbot rechtfertigen (vgl. BGH
St 38, 231, 237; OLG Hamm NZV 2003, 103; 1997, 185). Dabei steht dem
Tatrichter allerdings kein rechtlich ungebundenes, freies Ermessen zu. Von der
Anordnung eines nach § 4 BKatV indizierten Fahrverbotes kann im Einzelfall nur
dann abgesehen werden, wenn erhebliche Härten oder eine Vielzahl für sich
genommen gewöhnlicher und durchschnittlicher Umstände vorliegen, die einen
Ausnahmefall begründen (vgl. BGH NZV 1992, 117, 119; OLG Hamm DAR 2003,
398; NZV 1997, 281; BayObLG NZV 1996, 374; Hentschel, Straßenverkehrsrecht,
39. Aufl., § 25 StVG Rdnr. 24), wobei das Abweichen von der Regelahndung in
jedem Fall einer eingehenden, auf Tatsachen gestützten Begründung bedarf (vgl.
BGH a.a.O.; OLG Hamm NZV 2003, 103; VRS 91, 67; BayObLG VRS 88, 303).
Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht. Den diesbezüglichen,
äußerst knapp gehaltenen Ausführungen des Amtsgerichts sind keine Umstände
zu entnehmen, die allein oder im Zusammenspiel einen Ausnahmefall begründen
könnten, bei dem ein Absehen vom Regelfahrverbot gerechtfertigt oder geboten
erscheint. Allein der Umstand, dass die für die Indizierung eines Fahrverbotes
maßgebliche Grenze einer Geschwindigkeitsüberschreitung nur knapp (hier um 1
km/h) überschritten wurde, begründet noch keinen Ausnahmefall (vgl. OLG Köln,
VRS 105, 296; OLG Düsseldorf VRS 94, 282; OLG Hamm, Beschluss vom 09. Mai
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2006 - 4 SsOWi 896/05 - zum Atemalkoholgrenzwert; Hentschel a.a.O., § 25 StVG
Rdnr. 25). Im Falle der Geschwindigkeitsüberschreitung innerhalb geschlossener
Ortschaften hat der Verordnungsgeber die maßgebliche untere Grenze, ab der ein
Fahrverbot eingreift, mit 31 km/h festgesetzt, so dass allein der Umstand, dass der
abzuurteilende Verstoß am untersten Rand dieser Grenze liegt, ein Absehen von
der Verhängung des Regelfahrverbots nicht zu rechtfertigen vermag. Auch der
daneben vom Tatrichter zur Begründung herangezogene Umstand, dass der
Betroffene bislang noch nicht einschlägig straßenverkehrsrechtlich in Erscheinung
getreten ist, stellt für sich gesehen keine tragfähige Begründung für die Bejahung
eines Ausnahmefalles dar. Die Regelahndung nach der BKatV geht nämlich
gerade nicht davon aus, dass der Betroffene vorbelastet ist (vgl. OLG Hamm,
Beschluss vom 09. Mai 2006 - 4 SsOWi 896/05 -; NZV 2003, 103; 1995, 366;
BayObLG NZV 1994, 487; OLG Düsseldorf VRS 94, 282). Dies folgt für die Höhe
des Bußgeldes aus § 1 Abs. 2 BKatV, wonach etwaige Eintragungen des
Betroffenen im Verkehrszentralregister nicht berücksichtigt sind, und für das
Fahrverbot wegen grober Pflichtverletzung aus der Fassung des § 4 Abs. 1 BKatV,
der die Verwirklichung dort aufgeführter Tatbestände unabhängig davon als grobe
Pflichtverletzungen i. S. d. § 25 Abs. 1 S. 2 StVG qualifiziert, ob der Betroffene
straßenverkehrsrechtlich vorbelastet ist oder nicht."
Hiervon abzuweichen, hat der Senat keinen Anlass.
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Auch in Zusammenschau mit den anderen vom Amtsgericht aufgeführten Umständen,
ergeben sich keine Gründe, von dem Regelfahrverbot abzusehen. Der Umstand, dass
Kraftfahrer "nicht unbedingt Veranlassung" sehen, wegen des guten Ausbaus der
Strecke einer Geschwindigkeitsbeschränkung Folge zu leisten, ist offensichtlich nicht
geeignet, zum Wegfall eines Regelfahrverbots beizutrafen.
Geschwindigkeitsbeschränkungen sind unabhängig davon, ob der einzelne Kraftfahrer
sie nachvollziehen kann, von diesem zu beachten. Dem einzelnen fehlt gerade
regelmäßig der hinreichende Überblick, der zur Aufstellung der Beschränkung geführt
hat (z. B. Unfallschwerpunkt, vorher nicht erkennbare Gefahrenstelle etc.).
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Die vom Amtsgericht aufgeführten beruflichen Gründe sind ebenfalls nicht geeignet, das
Entfallen des Regelfahrverbots zu begründen. Dazu müsste es sich um eine
unzumutbare Härte handeln. Bloße berufliche oder wirtschaftliche Schwierigkeiten, die
bei einer Vielzahl von Berufen regelmäßig Folge eines Fahrverbots sind, reichen für ein
Absehen nicht aus, sondern sind grundsätzlich als selbstverschuldet hinzunehmen (st.
Rspr., vgl. OLG Hamm a.a.O. m.w.N.). Einen als unzumutbare Härte in Betracht
kommenden drohenden Verlust des Arbeitsplatzes hat das Amtsgericht gerade nicht
sicher festgestellt, sondern nicht geklärt, ob die entsprechend geäußerten Ängste des
Betroffenen berechtigt ist. Dies wird es in der erforderlichen neuen Hauptverhandlung
nunmehr nachzuholen haben. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, inwieweit dem
Betroffenen beruflich und wirtschaftlich zumutbar ist, sich eines Taxis oder öffentlicher
Verkehrsmittel zu bedienen und inwieweit bei ihm die Möglichkeit besteht, das
Fahrverbot bei Anwendung des § 25 Abs. 2a StVG ganz oder teilweise in dem ihm
zustehenden Jahresurlaub "zu legen".
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2.
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Da der Sachverhalt insoweit noch weiterer Aufklärung bedarf, war das angefochtene
Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben und insoweit an das Amtsgericht
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zurückzuverweisen. Eine eigene Sachentscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts
nach § 79 Abs. 6 OWiG schied aus.