Urteil des OLG Hamm vom 19.01.2004

OLG Hamm: recht auf akteneinsicht, verbot des rechtsmissbrauchs, elterliche sorge, justizbehörde, einsichtnahme, glaubhaftmachung, bindungswirkung, hauptsache, verfahrensbeteiligter, rechtspflege

Oberlandesgericht Hamm, 15 VA 4/03
Datum:
19.01.2004
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
15. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 VA 4/03
Tenor:
Es wird festgestellt, dass die Unterbindung der Akteneinsicht des
Beteiligten zu 1) durch den Beteiligten zu 2) am Morgen des 29.04.2003
rechtwidrig war.
Dem Beteiligten zu 1) wird für den auf diese Feststellung gerichteten
Antrag Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt C
bewilligt.
Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten des Verfahrens findet nicht
statt.
Der Gegenstandswert des Verfahrens wird im Umfang der bewilligten
Prozesskostenhilfe auf 500,00 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
1
I.
2
Der Beteiligte zu 1) ist Verfahrensbeteiligter in einer Vielzahl familiengerichtlicher
Verfahren, die bei dem Amtsgericht Essen anhängig sind. Diese Verfahren betreffen u.a.
die elterliche Sorge und das Umgangsrecht für seine aus einer geschiedenen Ehe
hervorgegangenen Kinder. Im März 2003 hatte der Beteiligte zu 1) zwei weitere
Verfahren anhängig gemacht, die die Erteilung von Auskünften über die persönlichen
Verhältnisse der genannten Kinder sowie die Feststellung des Bestandes einer
Elternvereinbarung betrafen und unter 101 F 128/03 bzw. 101 F 133/03 AG Essen
geführt wurden. In der Folgezeit nahm der Beteiligte im Raum der Geschäftsstelle des
Familiengerichts mehrfach Einsicht in diese wie andere Akten. Am Vormittag des
29.04.2003 erschien der Beteiligte zu 1) dort erneut, um wiederum Akteneinsicht zu
nehmen. Die Geschäftsstellenbeamtin, die sich durch das Verhalten des Beteiligten zu
1) bei seiner häufigen Akteneinsicht psychisch belastet fühlte, wandte sich an den
Beteiligten zu 2) um Hilfe. Über den weiteren Verlauf der Angelegenheit zitiert der Senat
aus dem Vorbringen des Beteiligten zu 2):
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"Ich begab mich in das Dienstzimmer, nachdem ich vorher vergeblich versucht hatte, die
richterliche Dezernentin zu erreichen. Es erschien dann der mir bis dahin persönlich
unbekannte Antragsteller. Ich stellte mich ihm mit Namen und Funktionsbezeichnung
vor. Frau T hielt für mich eine Akte hoch, die der Antragsteller dann blitzschnell ergriff.
Ich nahm sie ihm aus der Hand und frug ihn nach seinem Begehren. Er antwortete, er
wolle Akteneinsicht nehmen. Ich frug ihn, weshalb er dies tun wolle, obwohl er - wie ich
am Aktendeckel sah - von einem Rechtsanwalt vertreten sei. Er konnte darauf keine
richtige Antwort geben. Ich erklärte daraufhin, ihm könne heute keine Akteneinsicht
gewährt werden, sein Verhalten sei rechtsmissbräuchlich, er könne nur einmal im Monat
nach vorheriger telefonischer Anfrage Akteneinsicht erhalten. Er bekomme hierüber
noch schriftlich Bescheid. Auf meinen Wunsch verließ er dann das Dienstzimmer."
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Der Beteiligte zu 1) hat mit Schreiben vom 29.04.2003 bei dem Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen Klage gegen den Beteiligten zu 2) u.a. mit dem Antrag erhoben, ihm,
dem Kläger, persönlich und ohne willkürliche Einschränkung Akteneinsicht in
Gerichtsakten von Verfahren zu gewähren, bei denen er Partei oder
Verfahrensbeteiligter ist, und zwar unabhängig davon, ob er, der Kläger, anwaltlich
vertreten ist oder nicht. Zur Begründung hat er mit näheren Ausführungen geltend
gemacht, der Beteiligte zu 2) habe ihm zu Unrecht das Recht auf Akteneinsicht
entzogen.
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Der Beteiligte zu 2) ist der Klage entgegengetreten, indem er die Unzulässigkeit des
Rechtswegs zu den Verwaltungsgerichten gerügt sowie im Übrigen mit näheren
Ausführungen geltend gemacht hat: Die Akteneinsicht sei dem Kläger nicht generell,
sondern nur deshalb verwehrt worden, weil das Recht auf Akteneinsicht von ihm durch
eine Häufung von Einsichtnahmen und Störung des Geschäftsablaufs der räumlich
beengt ausgestatteten Geschäftsstelle des Familiengerichts rechtsmissbräuchlich
ausgeübt werde. Im Übrigen sei der Beteiligte zu 1) wegen psychischer Störungen als
partiell prozessunfähig anzusehen, die Klage sei daher unzulässig.
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Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat durch Beschluss vom 27.05.2003 den
Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten für unzulässig erklärt und die Sache an das
Oberlandesgericht zur Entscheidung im Verfahren nach den §§ 23 ff. EGGVG
verwiesen.
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Im weiteren Verlauf des Verfahrens hat der Beteiligte zu 1) seine Anträge teilweise
zurückgenommen sowie in der Hauptsache für erledigt erklärt. Aufrechterhalten hat er
folgenden Antrag in zwischenzeitlich geänderter Fassung:
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"Es wird festgestellt, dass der Antragsgegner dem Antragsteller zu Unrecht die durch die
zur Sachentscheidung berufene Richterin am Amtsgericht C für den Morgen des 29.
April 2003 bewilligte Akteneinsicht in die Gerichtsakten der Verfahren 101 F 128/03 und
101 F 133/03 des AG Essen unterband, indem er dem Antrag-steller die bereits
übergebenen Akten abnahm und ihn des Gebäudes verwies."
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Der Beteiligte zu 2) beantragt weiterhin die Zurückweisung dieses Antrags.
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II.
11
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig. Die Rechtswegzuständigkeit des
Oberlandesgerichts im Verfahren nach § 23 EGGVG folgt bereits aus der
12
Bindungswirkung der vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen durch Beschluss vom
27.05.2003 ausgesprochenen Rechtswegverweisung (§ 17 a Abs. 2 S. 3 GVG). Infolge
dieser Bindungswirkung kann für die Zulässigkeit des Antrags auch nicht mehr in
Zweifel gezogen werden, dass es sich bei der von dem Beteiligten zu 2) am 29.04.2003
getroffenen Maßnahme im Sinne des § 23 Abs. 1 EGGVG um eine solche handelt, die
von dem Beteiligten zu 2) als Justizbehörde zur Regelung einer einzelnen
Angelegenheit auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit getroffenen worden ist.
Ob diese Maßnahme als Justizverwaltungsakt im technischen Sinne des § 35 VwVfG
oder lediglich als sonstige hoheitliche Maßnahme zu qualifizieren ist, kann offen
bleiben. Denn das Verfahren nach § 23 EGGVG findet auch zur Überprüfung schlicht
hoheitlichen Handelns bis hin zum Realakt statt (vgl. Kissel, GVG, 3. Aufl., § 23 EGGVG,
Rdnr. 29 m.w.N.).
Das für den Feststellungsantrag erforderliche Rechtsschutzbedürfnis des Beteiligten zu
1) ist zu bejahen. Denn der Beteiligte zu 2) nimmt auch im Rahmen des vorliegenden
Verfahrens ausdrücklich das Recht für sich in Anspruch, in seiner Funktion als
Justizbehörde den Umfang der von dem Beteiligten zu 1) tatsächlich genommenen
Akteneinsicht einzuschränken und - wie am 29.04.2003 geschehen - deren Fortsetzung
im Einzelfall zu unterbinden, wenn sich der Gebrauch des Rechts auf Akteneinsicht als
rechtsmissbräuchlich darstellt. Da der Beteiligte zu 1) somit mit einer Wiederholung der
Maßnahme durch den Beteiligten zu 2) rechnen muss, hat er ein berechtigtes Interesse
an einer feststellenden Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der getroffenen
Maßnahme.
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Der Beteiligte zu 1) ist in dem vorliegenden Verfahren als verfahrensfähig zu behandeln,
ohne dass den von dem Beteiligten zu 2) eingehend vorgetragenen Bedenken gegen
dessen Verfahrensgeschäftsfähigkeit im Einzelnen nachzugehen ist. Der Senat geht
dabei von dem Vorbringen des Beteiligten zu 2) aus, dass sich der 2. Familiensenat des
Oberlandesgerichts in einem der zahlreichen familien-gerichtlichen Verfahren durch
Einholung von Gutachten um eine nähere Aufklärung der Verfahrensgeschäftsfähigkeit
des Beteiligten zu 1) bemüht. In dem dort anhängigen Verfahren ist der Beteiligte zu 1)
nach gefestigter Rechtsprechung als verfahrensfähig bis zu dem Zeitpunkt zu
behandeln, in dem seine mangelnde Verfahrensgeschäftsfähigkeit rechtskräftig
festgestellt ist (vgl. BGH NJW 1990, 1734; 2000, 289; Zöller/Vollkommer, ZPO, 24. Aufl.,
§ 56, Rdnr. 13 m.w.N.). Entsprechendes wäre anzunehmen für den Fall, dass in den
beiden in erster Instanz anhängigen familiengerichtlichen Verfahren, auf die sich der
Antrag des Beteiligten zu 1) bezieht, die Verfahrensgeschäftsfähigkeit des Beteiligten zu
1) in Zweifel gezogen würde. In dem vorliegenden Verfahren kann die
Verfahrensgeschäfts-fähigkeit des Beteiligten zu 1) jedoch nicht anders behandelt
werden, als sie in den genannten familiengerichtlichen Verfahren zu beurteilen wäre.
Denn Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Umfang des dem Beteiligten zu
1) zustehenden Rechts auf Akteneinsicht, das ihm dem Grunde nach unzweifelhaft
zusteht, um in den genannten beiden familiengerichtlichen Verfahren seine Rechte als
Verfahrens-beteiligter wahrnehmen zu können. Dieses Recht auf Akteneinsicht steht
ihm deshalb auch zu, solange er als verfahrensfähig zu behandeln ist, weil seine
Verfahrensgeschäftsunfähigkeit noch nicht rechtskräftig festgestellt ist. Dann muss aber
auch ein Verfahren nach § 23 EGGVG, dessen Gegenstand die Rechtmäßig-
keitskontrolle von Eingriffen einer Justizbehörde in die konkrete Ausübung des
Akteneinsichtsrechts ist, hinsichtlich der Beurteilung der Verfahrensgeschäfts-fähigkeit
als Annex dieses anderen Verfahrens behandelt werden.
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In der Sache ist der zuletzt aufrechterhaltene Feststellungsantrag begründet, weil dem
Beteiligten zu 2) in seiner Eigenschaft als Justizverwaltungsbehörde die Befugnis fehlte,
die Ausübung des Akteneinsichtsrechts durch den Beteiligten zu 1) einzuschränken.
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Der Sachbezeichnung nach handelt es sich bei denjenigen Verfahren, auf die sich der
Antrag auf gerichtliche Entscheidung bezieht, um Familiensachen im Sinne des § 621 a
Abs. 1 ZPO. Für diese beurteilt sich die Gewährung von Akteneinsicht infolge der dort
vorgenommenen Verweisung nach § 34 Abs. 1 S. 1 FGG, setzt also die
Glaubhaftmachung eines berechtigten Interesses an der Einsichtnahme voraus. Die
Vorschrift behandelt - insoweit abweichend von § 299 ZPO - die Gewährung der
Akteneinsicht einheitlich unabhängig davon, ob sie von einem Verfahrensbeteiligten
oder einem Dritten begehrt wird. Aus dem grundgesetzlichen Anspruch auf Gewährung
des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs. 1 GG) folgt jedoch, dass den Verfahrensbeteiligten
ein Akteneinsichtsrecht zusteht, ohne dass es einer näheren Glaubhaftmachung eines
berechtigtes Interesses bedarf (Keidel/Kahl, FG, 15. Aufl., § 34, Rdnr. 1). Die
Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht ist im Rahmen des
Anwendungsbereichs des § 34 Abs. 1 FGG allgemein, im Rahmen der Vorschrift des §
299 ZPO, soweit sie gegenüber den Verfahrensbeteiligten zu treffen ist (Abs. 1), ein Akt
der Rechtsprechung, nicht hingegen eine Justizverwaltungs-angelegenheit
(Zöller/Gummer, ZPO, 24. Aufl., § 23 EGGVG, Rdnr. 12; Kissel, a.a.O., § 12, Rdnr. 109).
Demgemäß obliegt die Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht nach § 34
Abs. 1 FGG ausschließlich demjenigen Rechtspflege-organ, das zur Sachentscheidung
in dem jeweiligen Verfahren berufen ist (Keidel/Kahl, a.a.O., § 34, Rdnr. 10), in den hier
in Bezug genommenen Familiensachen nach § 621 a Abs. 1 ZPO also regelmäßig dem
Richter des Familiengerichts.
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Das Recht auf Akteneinsicht unterliegt wie jedes andere Recht Schranken durch das
Verbot des Rechtsmissbrauchs. Ob das Recht auf Akteneinsicht unter diesem
Gesichtspunkt durch nähere Regelungen, etwa über Häufigkeit und zeitlichen Umfang
der Einsichtnahme, einzuschränken ist, ist aber ebenfalls eine allein durch
Rechtsprechungsakt und nicht als Maßnahme der Justizverwaltung zu treffende
Entscheidung. Denn die Einschränkung der Akteneinsicht ist nichts anderes als der
actus contrarius zur Gewährung der Akteneinsicht und muss deshalb zwangsläufig
derselben Entscheidungszuständigkeit folgen. Wäre es anders, müsste die Möglichkeit
sachlich unterschiedlicher Beurteilungen über die Notwendigkeit, das Recht auf
Akteneinsicht unter dem Gesichtspunkt rechtsmissbräuchlichen Verhaltens
einzuschränken, zwischen dem Richter einerseits und der Justizverwaltungsbehörde
andererseits in Betracht gezogen werden, die dann jedoch verfahrensrechtlich nicht
mehr vereinheitlicht werden könnten. Denn das Verfahren nach § 23 EGGVG eröffnet
keine Möglichkeit, die Sachentscheidung des Richters zu überprüfen. Es muss deshalb
dabei bleiben, dass über den Umfang der Akteneinsicht, sei es bereits bei der
Entscheidung über ihre Gewährung, sei es als nachträgliche Einschränkung,
ausschließlich im Wege der Rechtsprechung durch das zur Sachentscheidung berufene
Rechtspflegeorgan zu entscheiden ist; dessen Entscheidung ist nach der jeweiligen
Verfahrensordnung mit dem ggf. statthaften Rechtsmittel anfechtbar.
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Die Anordnung der Erstattung außergerichtlicher Kosten nach § 30 Abs. 2 EGGVG
entspricht nicht der Billigkeit, zumal der Senat dem Beteiligte zu 1) im Umfang seines
erfolgreichen Feststellungsantrags Prozesskostenhilfe bewilligt hat.
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Die Wertfestsetzung für das Verfahren beruht auf §§ 30 Abs. 3 EGGVG, 30 Abs. 3 und 2
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KostO. Der Senat hat im Hinblick auf die bewilligte Prozesskostenhilfe lediglich den
zuletzt aufrechterhaltenen Feststellungsantrag bewertet, weil hinsichtlich der weiteren
Anträge ein Kostentatbestand nach § 30 Abs. 1 S. 2 EGGVG nicht in Betracht kommt.
Der zurückgenommene Antrag zu 1 c) hat gegenüber demjenigen zu 1 a) erkennbar
keine eigenständige Bedeutung und fällt deshalb wertmäßig nicht ins Gewicht. Den
Antrag zu 1 b) hat der Beteiligte zu 1) im Hinblick auf die während des Verfahrens
getroffene Regelung zur organisatorischen Durchführung der Akteneinsicht in der
Hauptsache für erledigt erklärt.