Urteil des OLG Hamm vom 06.10.2003
OLG Hamm: höhere gewalt, unfall, selbsttötung, bahn, begriff, aufwand, realisierung, naturereignis, einwirkung, kauf
Oberlandesgericht Hamm, 6 U 102/03
Datum:
06.10.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 U 102/03
Vorinstanz:
Landgericht Bielefeld, 6 O 536/02
Tenor:
Die Berufung der Kläger gegen das am 11. März 2003 verkündete Urteil
der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.
Die Kosten des zweiten Rechtszuges werden der Klägerin auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe:
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Während die Klägerin am 15.02.2002 gegen 16.00 Uhr auf dem Bahnsteig des
Hauptbahnhofes H auf ihren Zug wartete und ein ICE der Beklagten mit planmäßiger
Geschwindigkeit von ca. 200 km/h den Bahnhofsbereich durchfuhr, warf sich der 24
Jahre alte vermögenslose L in Selbsttötungsabsicht vor diesen ICE. Sein Körper wurde
von dem ICE auf den Bahnsteig geschleudert und traf die Klägerin, die sich hierdurch
erhebliche Beinverletzungen zuzog.
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Das Landgericht hat die auf materiellen Schadensersatz gerichtete Klage abgewiesen,
weil der Unfall der Klägerin auf höherer Gewalt beruhe und eine Haftung der Beklagten
daher gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 HPflG ausgeschlossen sei.
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Mit näheren Ausführungen zur Rechtslage verfolgt die Klägerin ihr Begehren im
Berufungsverfahren weiter.
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Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung.
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Die Berufung hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Landgericht die Klage abgewiesen.
Denn der – wie zwischen den Parteien außer Streit steht – einzig in Betracht zu
ziehende Schadensersatzanspruch aus § 1 Abs. 1 HPflG scheitert daran, dass der
Unfall der Klägerin im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 HPflG durch höhere Gewalt
verursacht worden ist.
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Höhere Gewalt im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 HPflG ist ein betriebsfremdes, von außen
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durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes
Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung außergewöhnlich und
unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste nach der
Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich
gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom
Betriebsunternehmer in Kauf zu nehmen ist (BGH VersR 88, 910 = NZV 88, 100 = DAR
88, 238; OLG Hamm VersR 90, 913).
Der Senat folgt der Auffassung der Beklagten, dass es sich bei Unfällen, die wie der
Unfall der Klägerin durch Selbsttötungsaktionen ausgelöst werden, um Ereignisse
handelt, die mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln nicht verhütet werden können.
Zutreffend weist die Klägerin zwar darauf hin, dass der Unfall vom 15.02.2002 verhindert
worden wäre, wenn der ICE z.B. im Bahnhofsbereich deutlich langsamer gefahren wäre
oder auf ein vom Bahnsteig weiter entferntes Gleis umgeleitet worden wäre. Zu
berücksichtigen ist aber, dass zur Selbsttötung entschlossene Personen, die die
Gefahren des Bahnbetriebs in ihre Überlegungen einbeziehen, praktisch nur durch ein
lückenloses Schutzsystem an der Realisierung ihres Vorhabens gehindert werden
können, und dass folglich auch nachteilige Auswirkungen auf dritte Personen nur durch
ein solches Schutzsystem unterbunden werden können. Der Aufwand für solche
umfassende Schutzvorkehrungen wäre aber unvertretbar hoch (vgl. dazu Filthaut,
Haftpflichtgesetz, 5. Aufl. 1999 § 1 Rn. 189 m.w.N.).
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In der Selbsttötung des 24-jährigen Herrn L, die den Unfall der Klägerin ausgelöst hat,
liegt auch ein von außen herbeigeführtes außergewöhnliches und unvorhersehbares
Ereignis. Obwohl es in den letzten Jahren zu jeweils etwas mehr als 900 Suizidfällen im
Bereich des Streckennetzes der Deutschen Bahn gekommen ist, muss der Vorfall vom
15.02.2002 als außergewöhnlich betrachtet werden. Für das Abgrenzungskriterium der
Außergewöhnlichkeit darf nicht allein entscheidend auf die numerische Häufigkeit
abgestellt werden (vgl. BGH a.a.O.; Filthaut a.a.O. Rn. 179, 180). Trotz der numerischen
Häufigkeit behalten die nach Zeit und Ort nicht genau vorhersehbaren Fälle bewußter
Selbsttötung den Charakter von Ereignissen, die als Schicksalsschlag empfunden
werden und auf die sich ein Bahnbetriebsunternehmen ebensowenig einrichten kann
wie auf ein elementares Naturereignis.
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Darüber hinaus geht es bei dem Vorfall vom 15.02.2002 um ein Ereignis, das von außen
auf den Bahnbetrieb eingewirkt hat. Selbstmordversuche sind typische Einwirkungen
von außen, bei denen der Bahnbetrieb nur als Mittel zum Zweck eingeschaltet wird (vgl.
OLG Köln r+s 95, 414, 415; NZV 89, 73; OLG Frankfurt VersR 79, 451, 452; OLG
Karlsruhe VersR 59, 569, 570). Veranlassung zu einer anderen Sicht besteht nicht
deswegen, weil der Selbstmörder zunächst wie andere Bahnkunden auf dem Bahnsteig
gestanden hat und die Strecke des ICE unmittelbar an dem Bahnsteig entlanggeführt
hat. Denn die Frage, ob es um eine Einwirkung von außen geht, ist nicht rein räumlich
zu verstehen, sondern stets vor dem Hintergrund, dass der Begriff der höheren Gewalt
ein wertender Begriff ist, der die Risiken ausschließen will, die mit dem Bahnbetrieb
nichts zu tun haben und bei einer rechtlichen Bewertung nicht mehr dem Betrieb der
Bahn, sondern allein dem Drittereignis zugerechnet werden können (vgl. BGH a.a.O.).
Bei dem Risiko, dass jemand gezielt den Bahnbetrieb zu einer Selbsttötung nutzt, geht
es aber um ein Risiko, das mit dem eigentlichen Betrieb einer Bahn nichts zu tun hat.
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Die Berufung war daher mit den prozessualen Nebenentscheidungen aus §§ 97, 708
Nr. 10, 543 ZPO zurückzuweisen. Die Voraussetzungen einer Revisionszulassung
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liegen nicht vor. Die Entscheidung des Senats stimmt überein mit der gefestigten
Rechtsprechung mehrere Oberlandesgerichte. Einer Entscheidung des BGH bedarf es
hier weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung.