Urteil des OLG Hamm vom 08.10.2002

OLG Hamm: vernehmung von zeugen, angemessener zeitraum, haus, winterdienst, schneefall, unfall, abrede, verkehr, gehweg, vollstreckbarkeit

Oberlandesgericht Hamm, 9 U 47/02
Datum:
08.10.2002
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
9. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 U 47/02
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 7 O 292/01
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 22. November 2001
verkündete Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund
abgeändert:
Der Leistungsanspruch der Klägerin wird dem Grunde nach für
gerechtfertigt erklärt. Zur Höhe des Anspruchs wird der Rechtsstreit an
das Landgericht zu-rückverwiesen; diesem wird auch die Entscheidung
der Verteilung der Kosten des Berufungsverfahrens überlassen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
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Die Parteien streiten über die Verantwortlichkeit für einen Glätteunfall, den die Klägerin
nach ihrer Darstellung am 18. November 1999 in E. erlitten hat.
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Die Klägerin behauptet, sie sei an diesem Tage gegen 8:30 Uhr infolge Schneeglätte
auf dem zu diesem Zeitpunkt unstreitig nicht abgestreuten Bürgersteig der K.straße in
Höhe des Zugangs zu dem C-L-Haus ausgerutscht und zu Fall gekommen. Hierbei
habe sie sich am rechten Fuß eine Knöchelfraktur zugezogen. Die Klägerin meint, die
Beklagte hätte den Unfallbereich am Unfalltag vor 8:30 Uhr gegen Glätte sichern
müssen. Sie behauptet hierzu, es habe am Vortag bis gegen 1:00 Uhr des 18.
November 1999 geschneit gehabt und danach sei bis zu ihrem Sturz kein Schnee mehr
gefallen. Die Klägerin wurde wegen der Knöchelfraktur vom 18. November bis 14.
Dezember 1999 stationär in einem Krankenhaus behandelt und war nach ihrem
Vorbringen auch anschließend bis September 2000 unfallbedingt so sehr in ihren
Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, dass sie zu ihrer Pflege und Führung ihres
Haushaltes die Hilfe ihrer Schwester und ihres Schwagers V.H. habe in Anspruch
nehmen müssen. Diesen habe sie hierfür Beträge in Höhe von 20.525,00 DM gezahlt.
Mit der Klage hat die Klägerin Ersatz ihres mit 21.711,54 DM bezifferten Schadens
(Fahrtkosten, Eigenanteil an Krankheitskosten, Haushaltsführungsschaden) begehrt.
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Die Beklagte ist diesem Begehren entgegengetreten. Sie bestreitet mit Nichtwissen,
dass der Sturz auf dem Bürgersteig vor dem C-L-Haus erfolgt ist und behauptet zu den
Witterungsverhältnissen, dass erst gegen 7:30 Uhr am Unfalltag heftiger Schneefall
eingesetzt und den ganzen Tag angedauert habe, so dass in dem gesamten Stadtgebiet
E. flächendeckend Räum- und Streumaßnahmen durchgeführt worden seien.
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Das Landgericht hat nach Vernehmung von Zeugen und Anhörung der Klägerin die
Klage abgewiesen. Es hat als bewiesen angesehen, dass der Schneefall erst gegen
6:30 Uhr begonnen und bis 8:30 Uhr angedauert habe, und bei derartigen
Wetterverhältnissen ein Abstreuen des behaupteten Unfallbereichs vor dem Unfall für
unzumutbar erachtet.
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Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung, wobei sie insbesondere
die Beweiswürdigung des Landgericht angreift.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung ist begründet.
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I.
9
Die Klägerin kann wegen ihres Sturzes vom 18. November 1999 von der Beklagten
gemäß den § 823 Abs. 1 BGB vollen Ersatz ihrer hierbei entstandenen Schäden fordern.
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1.
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Zwar war die Beklagte für die Winterwartung auf dem Bürgersteig der K.straße in Höhe
des C-L-Hauses nicht nach der polizeilichen Reinigungsvorschrift des § 1 Abs. 2
Straßenreinigungsgesetz Nordrhein-Westfalen (StrReinG NW) hoheitlich zuständig, da
sie - wie gerichtsbekannt ist - Reinigungs- und Winterdienstpflicht für die Gehwege
durch ihre Reinigungssatzung auf der Grundlage des § 4 StrReinG NW rechtswirksam
auf die "Anlieger", d.h. die Eigentümer der angrenzenden Grundstücke, übertragen hat.
Sie war jedoch als Eigentümerin des an die behauptete Unfallstelle angrenzenden
Grundstücks selbst Anliegerin in dem vorbezeichneten Sinne und daher in diesem
Bereich für die Durchführung gebotener Streu- und Räummaßnahmen privatrechtlich
verantwortlich.
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2.
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Gegen diese Streupflicht hat die Beklagte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
verstoßen und hierdurch schuldhaft eine Gesundheitsschädigung der Klägerin
herbeigeführt.
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a)
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Der Senat hat zunächst keine Zweifel daran, dass die Klägerin tatsächlich an der von ihr
bezeichneten Stelle - auf dem Bürgersteig der K.straße in Höhe des Zuganges zu dem
C-L-Haus - bei Schneeglätte gestürzt ist und sich dabei die ärztlich festgestellte
Knöchelfraktur zugezogen hat. Sowohl der Zeuge H. als auch die Klägerin selbst haben
diesen Unfallort bei ihrer Befragung im Berufungstermin detailliert und glaubhaft
angegeben; Anhaltspunkte für eine wahrheitswidrige Ortsangabe sind nicht ersichtlich.
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b)
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Der Gehweg der K.straße in Höhe des C-L-Hauses gehört räumlich zu den
Verkehrsflächen, die bei winterlicher Glätte abgestreut und erforderlichenfalls geräumt
werden müssen. Nach gefestigter Rechtsprechung sind bei Glätte innerhalb
geschlossener Ortslagen diejenigen Gehwege zu bestreuen, auf denen ein nicht
unerheblicher Verkehr stattfindet (vgl. etwa BGH VersR 1995, 221). Dass dies auch in
dem von der Klägerin angegebenen Unfallbereich der Fall ist, folgt bereits aus der Lage
der K.straße in der Nähe des Stadtkerns von E. und wird im übrigen auch von der
Beklagten selbst nicht in Abrede gestellt.
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c)
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme waren am Morgen des 18. November 1999
auch die zeitlichen Voraussetzungen einer Streupflicht für den Unfallbereich gegeben.
Die Beklagte hätte dafür sorgen müssen, dass dieser Bereich zum Unfallzeitpunkt -
gegen 8:30 Uhr - bereits abgestreut war.
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aa)
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Nach anerkannter Rechtsprechung setzt die Streupflicht in der Regel erst bei Vorliegen
einer konkret - aktuellen Glättegefahrenlage ein; eine Pflicht zu vorbeugendem Streuen
besteht grundsätzlich nicht (BGHZ 40, 379, 381). Mit dieser Maßgabe müssen
Winterdienstmaßnahmen morgens so rechtzeitig begonnen werden, dass glatte und
streupflichtige Verkehrsflächen zu Beginn des Hauptberufsverkehrs, d.h. an Werktagen
in der Regel spätestens um 07.00 Uhr, abgestreut sind (BGH VersR 1985, 271). Tritt die
Glätte im Laufe des Tages ein, muss dem Streupflichtigen ein angemessener Zeitraum
zugebilligt werden, um die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Glätte zu
treffen (BGH VersR 1985, 973).
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Im Streitfall hatten die für den Winterdienst auf den Fahrbahnen zuständigen
Bediensteten am Unfalltag bereits seit etwa 6:30 Uhr Glättemeldungen aus dem Bereich
E. erhalten und kurze Zeit danach mit Streueinsätzen begonnen. Der Zeuge K., der
lediglich für die Sicherung der Fahrbahnen zuständig war, hat ausgesagt, am Morgen
des 18. November 1999 sei es gegen 6:30 Uhr zu ersten Meldungen über Straßenglätte
gekommen. Die Fahrzeuge seien zwischen 6:30 und 7:00 Uhr auf Streueinsatz
umgerüstet worden. Die Fahrbahn der K.straße (Revier Nr. 8) sei von 7:40 bis 7:50 Uhr
und von 7:50 bis 8:00 Uhr abgestreut worden. Nach den zu den Akten gereichten
"Tagesberichten Winterdienst" wurden in dem Streubereich 3, zu dem auch die K.straße
gehört (Revier Nr. 8), seit 6:50 Uhr Streueinsätze gefahren (Bl. 35 d.A.). In Anbetracht
dieses tatsächlichen Verhaltens der für die Sicherung der Fahrbahnen zuständigen
Personen wäre es auch den für den Winterdienst auf den städtischen Grundstücken und
den angrenzenden Gehwegen verantwortlichen Bediensteten der Beklagten möglich
gewesen, am Morgen des 18. November 1999 den Bürgersteig der K.straße in Höhe der
Zugänge zu dem C-L-Haus abzustreuen. Es ist nicht dargetan und auch nicht
ersichtlich, weshalb an die Winterdienstverpflichtung der Beklagten als Anlieger
geringere Anforderungen als an die Sicherung für Fahrbahnen gestellt werden sollten.
Hiernach hat die Beklagte durch das Unterlassen einer Glättesicherung des
Unfallbereich vor 8:30 Uhr die ihr obliegende Streupflicht schuldhaft verletzt.
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bb)
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Hiergegen kann auch nicht eingewandt werden, ein rechtzeitiges Abstreuen des
Unfallbereiches sei wegen eines am Unfalltag bis 8:30 Uhr herrschenden Schneefalles
unzumutbar gewesen und die Beklagte habe aus diesem Grunde die Streumaßnahmen
aufschieben dürfen. Diese vom Landgericht für ausschlaggebend erachtete Erwägung
geht fehl. Zwar sind Streumaßnahmen - ausnahmsweise - während eines Zeitraumes
nicht geboten, in dem sie wegen außergewöhnlicher Witterungsverhältnisse sinn- und
zwecklos sind. Ein solcher Fall ist jedoch nur dann gegeben, wenn das aufgebrachte
Streugut binnen kurzer Zeit wirkungslos würde (vgl. BGH NJW 1985, 484 (485)). Dies
hat die insoweit darlegungspflichtige Beklagte nicht dargetan. Es ist nicht ersichtlich,
weshalb Streumittel wegen des Schneefalls in kurzer Zeit wirkungslos hätten werden
sollen. Die von dem Zeugen K. bekundete Schneehöhe von nur 1 - 3 cm und die
entsprechende Schätzung des Deutschen Wetterdienstes in dem Gutachten vom 3.
September 2002 legen im Gegenteil die Annahme nahe, dass Streugut jedenfalls eine
Zeitlang die Rutschgefahr vermindert hätte.
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d)
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Da der Sturz der Klägerin nach dem Vorstehenden in streupflichtiger Zeit an einer
streupflichtigen Stelle erfolgt ist, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er
durch winterliche Glätte verursacht worden ist (vgl. BGH 1984, 432).
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3.
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Die Beklagte hat nicht den ihr obliegenden Beweis erbracht, dass die Klägerin an ihrem
Sturz ein Mitverschulden trifft. Die bloße Tatsache des Sturzes stellt noch kein
hinreichendes Indiz für eine Unachtsamkeit der Klägerin dar. Daher kommt eine
Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens (§ 254 Abs. 1 BGB)
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hier nicht in Betracht.
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II.
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Der Rechtsstreit ist bezüglich der Schadenshöhe noch nicht entscheidungsreif und es
bedarf wegen der geforderten und ungewöhnlich hoch bezifferten Betreuungskosten
noch einer eingehenden Beweisaufnahme. Dabei werden genaue Feststellungen über
das Maß der unfallbedingten Hilfsbedürftigkeit der Klägerin, den Umfang der von ihr vor
dem Unfall ausgeführten Haushaltstätigkeiten und der Mithilfe ihrer Angehörigen
getroffen werden müssen. Der Senat hält es daher für sachgerecht, den Rechtsstreit
wegen der Höhe gemäß § 538 Abs. 1 Nr. 4 ZPO an das Landgericht
zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden
haben wird.
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III.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10,
711 und 713 ZPO. Anlass für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO n.F.
ist nicht gegeben.
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