Urteil des OLG Hamm vom 01.07.2008
OLG Hamm (sache, verteidiger, hauptverhandlung, rechtliches gehör, widersprüchliches verhalten, antrag, anwesenheit, aufklärung, begründung, verhandlung)
Oberlandesgericht Hamm, 5 Ss OWi 415/08
Datum:
01.07.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
5. Bußgeldsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 Ss OWi 415/08
Vorinstanz:
Amtsgericht Soest, 21 OWi 120 Js 209/08 – 221/08
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Soest
zurückverwiesen.
Gründe:
1
I.
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Die Landrätin des Kreises T hat gegen die Betroffene mit Bußgeldbescheid vom 06.
November 2007 eine Geldbuße in Höhe von 50,00 € sowie ein Fahrverbot von einem
Monat festgesetzt. In dem Bußgeldbescheid ist der Betroffenen zur Last gelegt worden,
als Führerin des Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ##-## ### am 06. September
2007 in T auf der B ### außerorts die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70
km/h um 28 km/h überschritten zu haben. Die Anordnung des Fahrverbotes ist mit dem
Vorliegen eines Regelfalles nach § 4 Abs. 2 BKatV begründet worden.
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Auf den form- und fristgerecht eingelegten Einspruch der Betroffenen gegen diesen
Bußgeldbescheid hat das Amtsgericht Soest Termin zur Hauptverhandlung auf den 03.
April 2008 bestimmt. Nach Zugang der Ladung bei der Betroffenen und ihrem
Verteidiger hat dieser mit Schriftsatz vom 06. März 2008 beantragt, die Betroffene von
der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden und zur
Begründung ausgeführt, die Betroffene räume ein, zur Tatzeit Fahrerin des Fahrzeugs
gewesen zu sein, werde aber zur Sache keine (weitere) Einlassung abgeben. Mit
Beschluss vom 10. März 2008 wies das Amtsgericht Soest den Antrag der Betroffenen
zurück und führte zur Begründung aus, die Anwesenheit der Betroffenen sei zur
Aufklärung des Sachverhalts insbesondere auch im Hinblick auf ein etwaiges
Fahrverbot erforderlich. Mit Schriftsatz vom 13. März 2008 beanstandete der Verteidiger
der Betroffenen diesen Beschluss mit näheren Ausführungen als verfahrensfehlerhaft.
Mit weiterem Schriftsatz vom 20. März 2008 erhob der Verteidiger Einwendungen gegen
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die Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung und kündigte verschiedene
Beweisanträge, jeweils gerichtet auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, an.
In der Hauptverhandlung vom 03. April 2008 war lediglich der Verteidiger der
Betroffenen, nicht aber diese selbst erschienen. Das Amtsgericht hat daraufhin den
Einspruch der Betroffenen mit Urteil vom selben Tage nach § 74 Abs. 2 OWiG ohne
Verhandlung zur Sache verworfen. In den Gründen des Verwerfungsurteils heißt es u.
a., dass die von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Termin nicht
entbundene Betroffene im Hauptverhandlungstermin ohne genügende Entschuldigung
ausgeblieben sei. Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG für eine Entbindung der
Betroffenen von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung hätten nicht
vorgelegen. Zwar habe der Verteidiger der Betroffenen mit Schriftsatz vom 06. März
2008 erklärt, dass die Betroffene die Fahrereigenschaft nicht bestreite. Im Widerspruch
dazu sei jedoch weiter erklärt worden, dass die Betroffene zur Sache keine Einlassung
abgeben werde. Im letzteren Fall hätte eine Inaugenscheinnahme der Person der
Betroffenen zur Feststellung der Fahrereigenschaft erfolgen müssen. Auch bei
Einräumung der Fahrereigenschaft wäre die Anwesenheit der Betroffenen zur
Aufklärung wesentlicher, insbesondere persönlicher Umstände im Hinblick auf das in
Betracht kommende Fahrverbot erforderlich gewesen.
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Die Betroffene hat gegen dieses Urteil form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde
eingelegt und das Rechtsmittel mit der erhobenen Verfahrensrüge des Verstoßes gegen
§ 73 Abs. 2 OWiG und der Verletzung rechtlichen Gehörs begründet.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil mit den
zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Soest zurückzuverweisen.
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II.
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Die gem. § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und in zulässiger Weise erhobene
Rechtsbeschwerde hat in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg.
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1.
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Die (allein) erhobene Verfahrensrüge der Betroffenen, mit der diese die Gesetzwidrigkeit
der Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG und eine damit verbundene
Versagung des rechtlichen Gehörs geltend macht, entspricht den formellen
Anforderungen der §§ 79 Abs. 3, 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Die Betroffene hat in der
Rechtsbeschwerdebegründungsschrift dargelegt, welcher Verkehrsverstoß ihr zur Last
gelegt wurde, wie sich die Beweislage darstellte, dass und mit welcher Begründung sie
einen Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im
Hauptverhandlungstermin gestellt hatte und mit welcher Begründung das Amtsgericht
diesen Antrag abgelehnt hat. Ferner ist der Begründungsschrift zu entnehmen, in
welcher Weise sich die Betroffene zur Sache geäußert und eine darüber
hinausgehende Erklärung zur Sache abgelehnt hat. Die den behaupteten
Verfahrensverstoß begründeten Tatsachen sind damit so vollständig und genau
mitgeteilt worden, dass dem Rechtsbeschwerdegericht aufgrund der
Rechtfertigungsschrift die Prüfung ermöglicht wurde, ob - sofern die behaupteten
Tatsachen erwiesen sind – der gerügte Verfahrensmangel vorliegt.
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2.
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Die erhobene Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Verwerfung des Einspruchs der
Betroffenen ohne Verhandlung zur Sache nach § 74 Abs. 2 OWiG war
verfahrensfehlerhaft, weil das Amtsgericht den Antrag der Betroffenen auf Entbindung
von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 2 OWiG
zu Unrecht abgelehnt hat. Die Einspruchsverwerfung stellt sich damit gleichzeitig als
eine Verletzung des Rechts der Betroffenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
dar, auf der die angefochtene Entscheidung beruht (vgl. OLG Hamm VRS 113, 362;
Beschluss vom 04. Dezember 2006 – 4 SsOWi 804/06 -; Beschluss vom
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20. September 2005 - 3 SsOWi 626/05 -; OLG Köln VRS 105, 207).
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Das Amtsgericht hätte dem Entbindungsantrag der Betroffenen stattgeben müssen.
Nach § 73 Abs. 2 OWiG entbindet das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von
der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung, wenn er sich
zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur
Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher
Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Die Entscheidung über den
Entbindungsantrag ist im Gegensatz zur früheren Rechtslage nicht (mehr) in das
Ermessen des Gerichts gestellt; das Gericht ist vielmehr verpflichtet, dem
Entbindungsantrag zu entsprechen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen des § 73
Abs. 2 OWiG vorliegen (zu vgl. OLG Hamm VRS 113, 362, 363; Beschluss vom 20.
September 2005 – 3 SsOWi 626/05 -). Allenfalls im Rahmen der Frage, ob die
Anwesenheit des Betroffenen zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des
Sachverhalts erforderlich bzw. nicht erforderlich ist, ist dem Tatrichter ein gewisser
Beurteilungsspielraum zuzubilligen (zu vgl. Göhler, OWiG, 14. Aufl., § 74 Rdnr. 45 c).
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Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich die Entscheidung des Amtsgerichts als
verfahrensfehlerhaft. Der Verteidiger der Betroffenen hatte dem Amtsgericht bereits in
dem Entbindungsantrag vom 06. März 2008 mitgeteilt, dass die Betroffene nicht
bestreite, zur Tatzeit Fahrerin des gemessenen Fahrzeugs gewesen zu sein. Zwar heißt
es in diesem Schriftsatz weiter, dass die Betroffene zur Sache keine Einlassung
abgeben werde. Darin ist jedoch kein widersprüchliches Verhalten der Betroffenen zu
erkennen. Bei der sich aufdrängenden, lebensnahen Auslegung kann die über ihren
Verteidiger abgegebene Erklärung der Betroffenen vom 06. März 2008, von der sie
später auch nicht abgerückt ist, nur dahin verstanden werden, das die Betroffene über
das Einräumen ihrer Fahrereigenschaft hinaus keine weitere Einlassung zur Sache
abgeben werde. Aufgrund des späteren Schriftsatzes des Verteidigers vom 20. März
2008 war weiter klar erkennbar, dass die Betroffene (lediglich) die Ordnungsgemäßheit
der Messung beanstandet, jedoch nicht bereit war, durch weitergehende Angaben zur
Klärung der Frage nach der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit beizutragen. Bei
dieser Sachlage war klargestellt, dass von der persönlichen Anwesenheit der
Betroffenen im Hauptverhandlungstermin keine weitergehende Aufklärung des
Tatvorwurfs – über die Fahrereigenschaft der Betroffenen hinaus – zu erwarten war. Die
Fahrereigenschaft der Betroffenen, die diese ausweislich des Schriftsatzes vom 06.
März 2008 nicht in Abrede stellen wollte, hätte sich ohne Schwierigkeiten durch die
gem. § 74 Abs. 1 S. 2 OWiG zulässige Einführung der schriftlichen Erklärung der
Betroffenen in dem genannten Schriftsatz feststellen lassen. Im Übrigen berechtigte die
dem Verteidiger unter dem 20. November 2007 schriftlich erteilte und zur Akte gereichte
Vollmacht diesen auch zur Abgabe entsprechender Erklärungen für die Betroffene im
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Hauptverhandlungstermin nach § 73 Abs. 3 OWiG.
Auch der Umstand, dass gegen die Betroffene in dem zugrundeliegenden
Bußgeldbescheid vom 06. November 2007 ein einmonatiges Fahrverbot verhängt
worden war, führt vorliegend nicht dazu, dass ungeachtet der Erklärung der Betroffenen
bzw. ihres Verteidigers vom 06. März 2008 die persönliche Anwesenheit der Betroffenen
zur Sachverhaltsaufklärung notwendig erschien. Im Hinblick auf die einschlägige
straßenverkehrsrechtliche Vorbelastung der Betroffenen, gegen die in einer seit dem 12.
Juni 2007 rechtskräftigen, vorausgegangenen Entscheidung wegen Überschreitens der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 26 km/h
bereits ein Bußgeld in Höhe von 60,00 € verhängt worden war, war in dem
Bußgeldbescheid ein Regelfahrverbot nach § 25 StVG i. V. m. § 4 Abs. 2 BKatV
verhängt worden. Die Frage, ob ausnahmsweise von der Verhängung einer
Fahrverbotes unter angemessener Erhöhung des Bußgeldes nach § 4 Abs. 4 BkatV
abgesehen werden kann, rechtfertigt die Ablehnung eines Entbindungsantrages nicht,
weil es dafür grundsätzlich nicht auf den persönlichen Eindruck von dem/der
Betroffenen in der Hauptverhandlung ankommt (zu vgl. OLG Hamm VRS 113, 362, 363;
Karlsruher Kommentar, OWiG, 3. Aufl., § 73 Rdnr. 28). Die Begründung, mit der das
Amtsgericht den Antrag der Betroffenen auf Entbindung von der Verpflichtung zum
persönlichen Erscheinen abgelehnt hat, erweist sich nach alledem als nicht haltbar, so
dass die Verwerfung des Einspruchs der Betroffenen ohne Verhandlung zur Sache nach
§ 74 Abs. 2 OWiG einen Verfahrensverstoß, auch unter dem Gesichtspunkt der
Verletzung des rechtlichen Gehörs, darstellt, der zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils führt, weil dieses auf dem Verfahrensmangel beruht.
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Zu einer Zurückverweisung der Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts
Soest oder an ein anderes Amtsgericht nach § 79 Abs. 6 OWiG bestand keine
Veranlassung.
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