Urteil des OLG Hamm vom 13.07.2010

OLG Hamm (kläger, tinnitus, schmerzensgeld, überwiegende wahrscheinlichkeit, geschütztes rechtsgut, höhe, boden, zpo, verdienstausfall, kausalität)

Oberlandesgericht Hamm, I-9 U 89/09
Datum:
13.07.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
9. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
I-9 U 89/09
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 3 O 564/07
Tenor:
Auf die Berufungen der Beklagten wird - unter Zurückweisung der
weitergehenden Berufungen - das am 20. Januar 2009 verkündete Urteil
der 3. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund abgeändert.
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger
4.668,- Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 24. September 2005 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger als
Gesamt-schuldner zukünftige immaterielle und materielle Schäden aus
dem Vorfall in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 2005 gegen 1.30 Uhr in
dem ZUG D von B nach N vor-behaltlich eines Anspruchsübergangs auf
Sozialversicherungsträger oder Dritte zu ersetzen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 30%
und die Be-klagten als Gesamtschuldner zu 70%. Die Kosten des
Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 20 % und die Beklagten als
Gesamtschuldner zu 80%.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe:
1
I.
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Der Kläger nimmt die Beklagten auf materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld
sowie Feststellung künftiger Einstandspflicht für materielle wie immaterielle Schäden in
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Anspruch. Der Kläger war in der der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 2005 Fahrgast in dem
Nachtzug D von B nach N. Er hatte sich zum Schlafen in das Fahrradabteil des Zuges
begeben und war auf dem Boden liegend in seinem Schlafsack eingeschlafen, als ihn
die Beklagte zu 1), die bei der Beklagten zu 2) als Zugbegleiterin beschäftigt ist, gegen
1.30 Uhr durch Pfiffe mit einer Trillerpfeife aufweckte; in welcher Entfernung zum Kläger
die Beklagte zu 1) die Pfiffe abgegeben hat, ist streitig.
Der Kläger hat behauptet, die Beklagte zu 2) habe sich zu ihm auf den Boden herunter
gebeugt und ihm dann aus unmittelbarer Nähe mit der Trillerpfeife in sein linkes Ohr
gepfiffen, dadurch habe er dauerhafte und sein Hörvermögen beeinträchtigende
Innenohrschäden, insbesondere einen Tinnitus erlitten.
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Demgegenüber haben die Beklagten sich darauf zurückgezogen, die Beklagte zu 1)
habe lediglich im Stehen und also aus einiger Entfernung gepfiffen, weil der Kläger
auch nach Ansprache nicht erwacht sei, jedoch aus Sicherheitsgründen nicht auf dem
Boden des Fahrradabteils habe nächtigen können. Sie haben Hörverletzungen des
Klägers in Abrede gestellt, hilfsweise die Kausalität der Pfiffe hierfür bestritten und
behauptet, etwaige Hörschäden seien entweder durch die Lärmbelastung im
Fahrradabteil des Zuges oder auch durch Arbeitsgeräusche verursacht, denen der
Kläger als Schreiner ausgesetzt sei.
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Das Landgericht hat die Klage weitgehend zuerkannt, lediglich das beanspruchte
Schmerzensgeld von 3.500,- Euro mit Blick auf die seitens der Beklagten zu 1) im
Strafverfahren in Anrechnung auf das Schmerzensgeld gezahlten 1.000,- Euro nur in
Höhe von 2.500,- Euro zugesprochen. Es hat nach Anhörung des Klägers und der
Beklagten zu 1) sowie Einholung eines medizinischen Gutachtens zu den behaupteten
Innenohrverletzungen des Klägers für erwiesen gehalten, dass der Kläger aufgrund der
Pfiffe der Beklagten zu 1) mit der Trillerpfeife einen dauerhaften Tinnitus zu beklagen
hat.
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Hiergegen richten sich die Berufungen beider Beklagter. Beide Beklagte rügen die
Beweiswürdigung des Landgerichts zu der Frage des Bestehens eines Tinnitus beim
Kläger wie auch zur Frage der Kausalität der Trillerpfeifenpfiffe für den behaupteten
Tinnitus. Außerdem halten sie das zuerkannte Schmerzensgeld für unangemessen
hoch und den geltend gemachten Verdienstausfall für nicht schlüssig dargetan.
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II.
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Die Berufungen haben in der Sache nur teilweise Erfolg. Die Beklagte zu 1) haftet dem
Kläger gemäß § 823 Abs.1 und §§ 823 Abs.2 BGB, 229 StGB und die Beklagte zu 2)
gemäß §§ 280 Abs.1, 278 BGB und § 831 BGB dem Grunde nach auf materiellen
Schadensersatz und Schmerzensgeld; der Kläger kann daneben die Feststellung
künftiger Einstandspflicht der Beklagten beanspruchen. Der Höhe nach ist das
Schmerzensgeld allerdings auf 2.500,-Euro begrenzt, an materiellen Schadensersatz
kann der Kläger bisher einen Betrag von 2.168,- Euro geltend machen.
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1.
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Die Beklagte zu 1) hat in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 2005 bei Ansichtigwerden des
auf dem Boden des Fahrradabteils des Zuges D nächtigenden Klägers unstreitig Pfiffe
aus ihrer Trillerpfeife abgegeben. Der Senat hat nach der erneuten persönlichen
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Anhörung des Klägers in dem Senatstermin am 27.November 2009 keinen Zweifel
daran, dass die Beklagte zu 1) diese Pfiffe aus unmittelbarer Nähe zu dem Kläger
abgegeben hat. Der Kläger schildert gleich bleibend, dass er Speichel auf seinem
Gesicht wahrgenommen und deshalb starken Ekel empfunden hat, das ist
wirklichkeitsgetreu und für den Senat ohne weiteres nachzuvollziehen.
2.
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Diese Pfiffe aus der Trillerpfeife haben zu einer dauerhaften Schädigung der
Hörfunktion des Klägers geführt. Der Senat stützt seine Überzeugung – ebenso wie
schon das Landgericht – auf das gerichtliche Gutachten des Sachverständigen Dr. O
vom 21. Oktober 2008. Zwar hat der Sachverständige bei seiner ausführlichen
Untersuchung des Klägers rund drei Jahre nach dem Vorfall im Nachtzug keine
Einschränkung seines Hörvermögens in Form einer Hochtonschwerhörigkeit mehr
festzustellen und auch eine Haarzellenschädigung nicht mehr zu lokalisieren vermocht.
Er hat aber bestätigt, dass der Kläger glaubhaft Auftreten und Verlauf einer
Innenohrfunktionsstörung in Form eines Tinnitus schildert. Soweit die Beklagten
hiergegen einwenden, dass der Gutachter das Symptom "Tinnitus" nicht habe
objektivieren können, so liegt das in der Natur der Sache. Der Tinnitus ist eine
akustische Wahrnehmung, der zusätzlich zum Schall, der auf das Ohr wirkt,
wahrgenommen wirkt. Der Hörgeschädigte hört nur scheinbare Geräusche, die für Dritte
nicht wahrzunehmen sind, man spricht deshalb auch von subjektivem Tinnitus. Der
untersuchende Mediziner kann daher lediglich sagen, ob nachvollziehbar und plausibel
derartige Geräusche geschildert werden, genau das aber hat der Sachverständige Dr. O
dem Kläger bescheinigt. Hinzu kommt, dass der Sachverständige bestätigt hat, dass
Trillerpfeifenpfiffe in einem geschlossenen Raum Lärmtraumata auslösen können
unabhängig davon, ob sie nun aus unmittelbarer Nähe in das Ohr oder auch aus einiger
Entfernung abgegeben werden. Ein Lärmtrauma ist aber eine mögliche Ursache für
(subjektiven) Tinnitus. Berücksichtigt man schließlich, dass der Kläger nur rund 1 ½
Tage nach den Pfiffen einen Facharzt für HNO-Heilkunde aufgesucht hat und anlässlich
dieses Besuches eine Hochtonschwerhörigkeit festgestellt wurde, spricht alles dafür,
dass der Kläger tatsächlich ein Lärmtrauma durch die Pfiffe erlitten hat. Soweit die
Beklagten demgegenüber geltend machen, ein etwa bestehender Tinnitus sei auf laute
Arbeitsgeräusche zurück zuführen, denen der Kläger bei seiner Schreinertätigkeit
ständig ausgesetzt sei, so spricht hiergegen entscheidend, dass der Kläger vor dem
Vorfall vom 8/9. Mai 2005 nie in ohrenärztlicher Behandlung war und es daher kein
Anhalt für einen derartigen Ursachenzusammenhang gibt. Dies gilt in gleicher Weise für
die seitens der Beklagten zu 2) angeführte Lärmbelastung in dem Fahrradabteil ihres
Zuges. Dass diese Lärmbelastung allein geeignet wäre, einen Tinnitus hervorzurufen,
ist schon zweifelhaft, jedenfalls handelt sich um eine theoretische Möglichkeit, die der
Senat mit Blick auf die belastenden Pfiffe aus der Trillerpfeife ausschließt.
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3.
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Ein Notwehrrecht kann die Beklagte zu 1) nicht für sich in Anspruch nehmen. Selbst
wenn sie die Pfiffe zwecks Durchsetzung interner Sicherheitsvorschriften und also
zwecks Wahrung des Hausrechts der Beklagten zu 2) in dem Zug abgegeben hat und
man dieses Hausrecht auch als geschütztes Rechtsgut im Sinne des Notwehrrechts
ansieht ( so OLG Düsseldorf NJW 1997, 3383), so war zur Abwehr eines Angriffs des
Klägers auf das Hausrecht die massive körperliche "Verteidigung" der Beklagten zu 2)
sicher nicht erforderlich. Denn der Kläger hat nach der eigenen Einlassung der
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Beklagten zu 1) "friedlich" auf dem Boden gelegen, was ihr hätte Anlass geben müssen,
besonders "milde" zu reagieren, beispielsweise hätte sie kräftig neben dem Kläger
auftreten können, ihn auch leicht mit dem Fuß anstupsen können.
4.
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Hinsichtlich des gegen die Beklagten zu 1) gerichteten Anspruchs ist schließlich auch
das Verschulden der Beklagten zu 1) zu bejahen, denn dass sie aus Verwirrung, Furcht
oder Schrecken die Grenzen der erforderlichen Verteidigung überschritten hat (§ 33
StGB), ist nicht ansatzweise dargetan. Selbst wenn sie die Befürchtung hatte, dass der
Kläger beim Anfassen randalieren würde, so gab es für eine derartige Reaktion noch
keinerlei objektiven Anhalt und die Beklagte war nicht ansatzweise einer
unausweichlichen Stresssituation ausgesetzt, die ihre Überschreitung des
Notwehrrechts entschuldigen könnte. Der Beklagten zu 1) war auch bewusst -
mindestens hätte sie dies wissen müssen -, dass sie mit ihren Pfiffen in dem
geschlossenen Fahrradabteil eine erhebliche Verletzungsgefahr für den dort
befindlichen Kläger erzeugte.
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5.
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Ein Mitverschulden des Klägers ist nicht zu berücksichtigen. Selbst wenn er sich ohne
Erlaubnis auf dem Boden des Fahrradabteils zum Schlafen niedergelegt hatte, hat er
damit für die Reaktion der Beklagten zu 1) keinen vorwerfbaren Anlass gegeben oder
diese gar herausgefordert oder provoziert, vielmehr war die Reaktion der Beklagten zu
1) - wie dargestellt - auf das Verhalten des Klägers grob unangemessen. Die Beklagte
zu 1) hat äußerst aggressiv reagiert.
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6.
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Der Höhe nach ist das seitens des Landgerichts zuerkannte Schmerzensgeld nicht zu
beanstanden. Die für Hörschäden zugesprochenen Schmerzensgelder bewegen sich
bereits in leichteren Fällen in einem Rahmen von 1.000,- bis 1.500,- Euro,
(Hacks/Ring/Böhm Schmerzensgeldtabelle 2007 laufende Nr. 523 und Nr. 576). Im
Streitfall ist jedoch nicht nur zu berücksichtigen, dass ein dauerhafter Tinnitus nicht mehr
als leichte Hörschädigung einzuordnen ist, zumal der Kläger glaubhaft geschildert hat,
dass ihn die ständigen Hörgeräusche erheblich belasten. Darüber hinaus liegt dieser
Hörschädigung eine mindestens grob-fahrlässige, wenn nicht bedingt vorsätzliche
Körperverletzung zugrunde, so dass die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes
zu berücksichtigen ist. Im Ergebnis ist daher ein Schmerzensgeld von insgesamt 3.500,-
Euro erforderlich und auch angemessen, nach Anrechnung der seitens der Beklagten zu
1) im Strafverfahren gezahlten Geldauflage von 1.000,- Euro verbleibt dem Kläger ein
Schmerzensgeldanspruch von 2.500,- Euro.
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7.
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Die Kosten der Sauerstoff-Infusionen in Höhe von 1.368,- Euro sind gemäß § 249 BGB
vollständig ersatzfähig. Der Begründung des Landgerichts gibt es nichts hinzuzufügen;
Einwendungen hiergegen haben weder die Beklagte zu 1) noch die Beklagte zu 2)
vorgebracht.
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8.
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Lediglich Verdienstausfall kann der Kläger nicht in geltend gemachter Höhe von
2.171,75 Euro, sondern lediglich in Höhe von 800,- Euro beanspruchen. Soweit das
Landgericht ihm diesbezüglich im Wege der tatrichterlichen Schätzung den vollen
Betrag zugesprochen hat, haben die Beklagten teilweise durchgreifende Einwendungen
gegen die Grundlagen dieser Schätzung vorgebracht.
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Im Ausgangspunkt ist allerdings die Berechnung des Klägers, der als Selbständiger
Handwerksarbeiten zu einem Stundenlohn von 30,- Euro ausführt und seinen
Verdienstausfall nach Abzug von 25% Betriebskosten auf der Basis der ihm aufgrund
ärztlicher Konsultationen "entgangener" Arbeitsstunden berechnet, nicht zu
beanstanden. Der Verdienstausfall betrifft die haftungsausfüllende Kausalität, hier gilt
nicht der Strengbeweis des § 286 ZPO, vielmehr kommen dem Geschädigten die
Beweiserleichterungen der §§ 252 Satz 2 BGB und 287 ZPO zugute, was bedeutet,
dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen kann. Dazu ist eine Prognose für
die berufliche Entwicklung zu treffen, die der Geschädigte ohne den Vorfall genommen
hätte. Im Streitfall war mithin eine Prognose darüber zu treffen, wie viele Arbeitsstunden
mit einem geschätzten Ertrag von 22,50 Euro der Kläger ohne seine Hörschädigung
hätte ableisten können.
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Festzustellen ist zunächst, dass der Kläger zur Zeit der Verletzung vollständig und also
acht Arbeitsstunden täglich ausgelastet war, denn unstreitig war er durch schriftlichen
Vertrag vom 15. Mai 2005 von seinem Kunden T2 damit beauftragt, dessen Wohnung in
Q zu renovieren. Darüber hinaus ergeben sich aus der zu den Akten gereichten
handschriftlichen Auflistung des Klägers Zeiten für verletzungsbedingte Arztgespräche,
Infusionen, Akupunktur- und Druckkammerbehandlungen von insgesamt 67,5 Stunden,
die bestätigt werden durch die Atteste der behandelnden Ärzte Dr. T vom 1.Juni 2005
und Dr. I vom 21. Juni 2005. Im Einzelnen hat der Kläger diese Stunden aufgewendet für
acht Infusionen, drei Akkupunkturbehandlungen, neun Druckkammerbehandlungen
sowie vier Voruntersuchungen und Arztgespräche. Soweit der Kläger darüber
hinausgehenden Zeitaufwand geltend macht, geht aus seiner Auflistung hervor, dass
dieser nicht ersatzfähigen Aufwand für Internetrecherchen oder Vortragsbesuche zum
Thema Tinnitus, Korrespondenz mit dem Anwalt oder auch dem ADAC betrifft. Selbst
wenn im folgenden davon ausgegangen wird, dass dem Kläger eine Nacharbeitung der
67,5 Stunden Renovierungsarbeiten bei seinem Kunden T2 möglich war -Gegenteiliges
hat er nicht hinreichend substantiiert dargetan -, dann wäre er in dieser Zeit gehindert
gewesen, anderweitige Aufträge durchzuführen. Unter Annahme einer halben
Auslastung des Klägers ergibt sich mithin ein Mindestschaden von 33,75 x 22,50 Euro,
dies sind rund 800,- Euro. In diesem Zusammenhang ist den Beklagten zuzugeben,
dass der Kläger eine Vollauslastung nicht darlegen kann, wenn er sich auch "subjektiv"
nachvollziehbar als voll ausgelastet empfinden mag und der dahingehende Vorwurf
eines Prozessbetruges durch die Beklagte zu 2) nur als verfehlt bezeichnet werden
kann. Allerdings schätzt der Senat die Auslastung des Klägers auch auf Grundlage der
im Zeitraum vom 1. Mai bis zum 1. Oktober 2005 ungeachtet der Arztbesuche erbrachten
383 abrechenbaren Arbeitsstunden auf vier Stunden täglich, mithin auf eine halbe
Auslastung.
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9.
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Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286, 288 BGB. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92
ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr.10, 713 ZPO.
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Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 543 Abs.2 ZPO.