Urteil des OLG Hamm vom 12.02.2008

OLG Hamm: strafvollstreckung, untersuchungshaft, verkündung, anschlussbeschwerde, gebühr, auflage, bauer, unterbringung, rechtsmittelbelehrung, pflichtverteidiger

Oberlandesgericht Hamm, 4 Ws 541/07
Datum:
12.02.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
4. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 Ws 541/07
Vorinstanz:
Landgericht Münster, 1 KLs 63 Js 2997/04 AK 24/05
Tenor:
Unter Verwerfung der Beschwerde des Verteidigers wird der
angefochtene Beschluss auf die Anschlussbeschwerde abgeändert: Die
nach dem Urteil der 1. großen Strafkammer – Jugendkammer – des
Landgerichts Münster vom 4. Oktober 2006 aus der Staatskasse an den
Pflichtverteidiger zu gewährende Vergütung wird auf 3.132,62 €
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
I.
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Der Angeklagte ist durch Urteil der 1. großen Strafkammer – Jugendkammer – des
Landgerichts Münster vom 4. Oktober 2006 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren
9 Monaten verurteilt worden. Das Verfahren ist im Übrigen hinsichtlich Ziffer 1 der
konkretisierten Anklage wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses auf Kosten der
Staatskasse, die insofern auch die notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen
hat, eingestellt worden. Die übrigen Kosten des Verfahrens sind im Umfang der
Verurteilung dem Angeklagten auferlegt worden. Durch Beschluss des Landgerichts
Münster vom 20. Juni 2007 sind die Pflichtverteidigergebühren auf 3.427,26 €
festgesetzt und weiter geltend gemachte Gebühren abgesetzt worden. Der sofortigen
Beschwerde hat die Kammer – Einzelrichter – nicht abgeholfen. Hiergegen richtet sich
das Rechtsmittel des Verteidigers, zu dem der Leiter des Dezernats 10 des
Oberlandesgerichts Stellung genommen und zugleich unselbständige
Anschlussbeschwerde erhoben hat, soweit mehr als 3.132,62 € festgesetzt worden sind.
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II.
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Das zulässige Rechtsmittel des Pflichtverteidigers hat keinen Erfolg. Auf die
unselbständige Anschlussbeschwerde war die Pflichtverteidigervergütung auf 3.132,62
€ herabzusetzen.
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Der Leiter des Dezernats 10 der Verwaltungsabteilung des Oberlandesgerichts Hamm
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hat in der Sache wie folgt Stellung genommen:
"Der Beschluss des Landgerichts Münster vom 30.10.2007 (Bd. III Bl. 812R) –
abgesandt am 05.11.2007 - wurde dem Erinnerungsführer gegen EB am 12.11.2007
(Bd. III Bl. 816) zugestellt. Die sofortige Beschwerde ist am 16.11.2007 bei Gericht
fristgerecht eingelegt worden (Bd. III Bl. 816 f.). Sie ist auch i.Ü. zulässig, m.E. nach den
folgenden Ausführungen aber im Ergebnis ohne Erfolg.
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I. Gebühren in der Strafvollstreckung:
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Die angemeldeten Gebühren Nr. 4205 VV RVG (Bd. III Bl. 756) sind nicht
entstanden.
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Laut Sitzungsprotokoll vom 04.10.2006 wurde nach Verkündung des Urteils der
Haftbefehl mit der Anordnung der Untersuchungshaft verkündet (Bd. III Bl. 516, 555 ff.).
Der Verteidiger erhob am gleichen Tage Haftbeschwerde (Bd. III Bl. 584 f.), bevor er am
09.10.2006 Revision einlegte (Bd. III Bl. 586), die am 21.02.2007 durch den BGH als
unbegründet verworfen wurde (Bd. III Bl. 746). Das erstinstanzliche Urteil wurde daher
erst am 22.02.2007 rechtskräftig (Bd. III Bl. 598).
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Teil 4 Abschnitt 2 VV, in dem die angemeldeten Gebühren enthalten sind, gilt für die
Tätigkeit des Verteidigers in der Strafvollstreckung. Die Aufgaben in der
Strafvollstreckung sind im ersten Abschnitt des 7. Buches der StPO unter dem
Sammelbegriff "Strafvollstreckung" zusammengefasst (vgl. §§ 449 bis 463d StPO).
Erfasst wird daher die unter den Abschnitt "Strafvollstreckung" der StPO fallende
Tätigkeit des Verteidigers. Strafvollstreckung bedeutet die Herbeiführung und
Überwachung der Durchführung des Urteilsinhalts und beginnt daher frühestens ab
Rechtskraft des Urteils, vgl. § 449 StPO (Burhoff (Hrsg.) / Volpert, RVG Straf- und
Bußgeldsachen, Vorbemerkung 4.2 Rn 3, 5, 8, Gerold / Schmidt / Madert, RVG, 17. Aufl.
VV 4200 – 4207 Rn 2, 4; Riedel / Sußbauer, RVG-Kommentar, 9. Aufl. VV Teil 4
Abschn. 2 Rn 2, 5).
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Die Entscheidung der Anordnung der Untersuchungshaft, die Anlass für die
Beschwerde des Rechtsanwalts war, ist daher auch nicht in dem unter Rn 4 der o.a.
Fundstelle im Kommentar Burhoff/Volpert und in dem unter Rn 5 der o.a. Fundstelle im
Kommentar Gerold / Schmidt enthaltenen Katalog von Maßnahmen und Anordnungen
enthalten.
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Anderslautende Meinungen aus Literatur und Rechtsprechung sind mir nicht bekannt.
Die angemeldeten Gebühren sind somit m.E. für die ausweislich der Akten erfolgten
Tätigkeiten nicht entstanden.
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I.Ü. ist zu diesem Komplex auch den weiteren Ausführungen des Bezirksrevisors bei
dem Landgericht Münster bzw. den bereits ergangenen Entscheidungen beizupflichten.
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Es bleibt m.E. auch kein Raum für die Sichtweise des Beschwerdeführers, die
Untersuchungshaft praktisch als Strafhaft zu werten und daraus eine Grundlage für
einen anderen Gebührenansatz herzuleiten (vgl. Ausführungen des Rechtsanwalts in
seinem Schreiben vom 10.04.2007 (Bd. III Bl. 763)). Insoweit liegt keine
verfassungswidrige Ungleichbehandlung vor, denn die die Untersuchungshaft während
eines laufenden Verfahrens betreffenden Tätigkeiten unterscheiden sich grundsätzlich
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von denen im Strafvollzug.
Abschließend ist zu erwähnen, dass die tatrichterliche Bestellung eines Verteidigers nur
bis zur Urteilsrechtskraft gilt (Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 140 Rn 7) und somit für
das Strafvollstreckungsverfahren zusätzlich ausgesprochen werden müsste. Für eine
Erstattung von Gebühren nach Teil 4 Abschnitt 2 VV RVG aus der Landeskasse fehlt es
daher schon an einer Rechtsgrundlage.
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II. Einzeltätigkeit:
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Auch die angemeldeten Gebühren Nr. 4302 VV RVG (Bd. III Bl. 764) sind nicht
entstanden.
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Der Beschwerdeführer hebt hervor, dass im VV RVG eigens Gebühren des gerichtlich
bestellten und beigeordneten Rechtsanwalts für Beschwerdetätigkeiten vorgesehen
sind, wozu der Gesetzgeber keine Veranlassung gehabt hätte, wenn im Falle der
Pflichtverteidigerbestellung dafür keine Gebühren ansatzfähig wären (Bd. IV Bl. 764).
Der Verteidiger verkennt aber die gesetzliche Trennung zwischen vollumfänglicher
Beauftragung und Beauftragung für eine Einzeltätigkeit .
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Nach Vorbemerkung 4.3 Abs. 1 VV RVG entstehen die Gebühren dieses Abschnitts für
einzelne Tätigkeiten, ohne dass dem Rechtsanwalt sonst die Verteidigung übertragen
ist.
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Die Bestimmungen kommen also dann zur Anwendung, wenn dem Rechtsanwalt die
Verteidigung nicht umfassend, sondern nur eine Einzelaufgabe aus dem Arbeitsbereich
des Verteidigers übertragen worden ist. Sie sind also für den Vollverteidiger
unanwendbar (vgl. Gerold/Schmidt/Madert, RVG, 17. Aufl. VV 4300 – 4304 Rn 1;
Burhoff, RVG, Abschnitt C., Vorb. 4.3 Rn 1, 6, 7 und Nr. 4301 Rn 1, 2; AnwK-RVG,
Gebauer/Schneider, 3. Aufl., VV Vorb. 4.3 Rn 2; Riedel / Sußbauer, RVG-Kommentar, 9.
Aufl. VV Teil 4 Abschn. 3 Rn 1).
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Grundsätzlich und somit unausgesprochen erfolgt die Bestellung für das gesamte
Verfahren, wenn sie nicht ausdrücklich beschränkt wird (Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl.,
§ 140 Rn 5 ff.).Die Pflichtverteidigerbestellung vom 26.09.2005 (Bd. I Bl. 260R)
beinhaltet keine Einschränkung und ist damit nicht auf eine Einzelaufgabe beschränkt.
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Durch die Verfahrensgebühr für den ersten Rechtszug Nr. 4112, 4113 VV RVG bei
uneingeschränkter Bestellung werden gerade alle Tätigkeiten des Rechtsanwalts im
gerichtlichen Verfahren abgegolten, soweit dafür keine besonderen Gebühren (in
diesem Abschnitt) vorgesehen sind. Die Tätigkeiten im Zusammenhang mit der
Beschwerde sind mangels anderweitiger Einordnung als Tätigkeiten im
Zusammenhang mit der Untersuchungshaft bzw. Haftprüfung zu sehen, die auch im
Katalog der der Verfahrensgebühr Nr. 4112, 4113 VV RVG unterliegenden Tätigkeiten
enthalten ist (Burhoff (Hrsg), Straf- und Bußgeldsachen, Nr. 4112 Rn 4 mit Hinweis u.a.
auf Nr. 4106 Rn 3, 7; Gerold / Schmidt / Madert, RVG, 17. Aufl. VV 4106 – 4123 Rn 4;
AnwK-RVG, Gebauer/Schneider, 3. Aufl., VV 4112 – 4115 Rn 1 mit Hinweis u.a. auf VV
4106 – 4107 Rn 1, 4). Auch wenn Madert im Abschnitt über die Verfahrensgebühr vor
der Strafkammer keinen ausdrücklichen Bezug zu den amtsgerichtlichen Vorschriften
herstellt (a.a.O. Rn 15, 16), ist dies jedoch als unausgesprochen entsprechend der
Ausführung von u.a. Burhoff (a.a.O. Nr. 4112 Rn 4) anzunehmen, wonach sich die
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landgerichtliche Verfahrensgebühr von der amtsgerichtlichen Verfahrensgebühr nur
durch die Ordnung des Gerichts und die Höhe der Gebühr unterscheidet. Dies belegt
auch der gleiche Aufbau bzw. die gleiche Reihenfolge der amts- und landgerichtlichen
Vorschriften.
III. Terminsgebühr mit Zuschlag für den letzten Termin:
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Die angemeldete Gebühr Nr. 4115 VV RVG (Bd. III Bl. 770) ist dagegen entstanden.
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Ausweislich des Protokolls vom 04.10.2006 wurde nach Verkündung des Urteils
zunächst der Haftbefehl verkündet, bevor die Rechtsmittelbelehrung bzgl. der Revision
und des Haftbefehls erteilt wurde (Bd. III Bl. 516).
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Gem. § 160 Abs. 1 StPO schließt die Hauptverhandlung mit der auf die Beratung
folgenden Verkündung des Urteils. Ohne die Rechtsmittelbegründung ausdrücklich
auszuschließen, übernimmt dies auch Schmahl in Riedel/Sußbauer, RVG-Kommentar,
9. Auflage, VV Teil 4 Abschnitt 1 Rn 56.
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Nach Hartmann, Kostengesetze, 37. Auflage VV 4112 - 4115 Rn 4 mit Hinweis auf u.a.
VV 4108, 4109 Rn 13 und Gerold / Schmidt / Madert, RVG, 17. Aufl. VV 4106 – 4123 Rn
10 gehört zur Hauptverhandlung auch noch die vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung.
Dies leitet sich wohl auch aus dem Gedanken ab, dass die Belehrung Nebenbestandteil
der Entscheidung ist (vgl. Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Auflage 2003, § 35a Rn 5
unter Hinweis auf u.a. OLG Hamm, Beschluss vom 11.03.1954 - 1 Ws 81/54, veröff.
NJW 1954 Heft 21). Bei dem im Protokoll festgehaltenen zeitlichen Ablauf erfolgte die
Verkündung des Haftbefehls noch vor der Rechtsmittelbelehrung und war damit noch
Bestandteil der Hauptverhandlung. Ich gehe davon aus, dass bei der gegebenen
Sachlage die Freiheitsbeschränkung des Angeklagten mit der Verkündung eingetreten
ist, so dass ab diesem Zeitpunkt schon im Gerichtsgebäude die Voraussetzungen der
Vorbemerkung 4 Abs. 4 VV RVG erfüllt waren und dem Rechtsanwalt m.E. die
Terminsgebühr mit Zuschlag zu gewähren ist.
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In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass der Zuschlag nicht nur
die Schwierigkeiten bzw. Erschwernisse abgilt, die der Rechtsanwalt hat, um Zugang zu
seinem Mandanten zu bekommen, sondern dass sehr wohl auch typischerweise mit
einer Haft oder Unterbringung verbundene zusätzliche Arbeiten des Verteidigers, wie
z.B. Haftbeschwerden, Beschwerden gegen die Unterbringung oder Einwände gegen
die Bedingungen der Untersuchungshaft bzw. die Unterbringung durch die Zuschläge
abgegolten werden sollen (vgl. Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, Vorbemerkung
4, Rn 81; u.a. Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 07.09.2007 (1 Ws
584/07, veröff. in StRR 2007, 283 (Leitsatz) und jurisweb.de).
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IV. Erstinstanzliche Verfahrensgebühr mit Zuschlag:
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Die angemeldete Gebühr Nr. 4113 VV RVG (Bd. III Bl. 770) ist ebenfalls entstanden.
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Zum Zeitpunkt der Inhaftierung bzw. zum Zeitpunkt der Einlegung der Haftbeschwerde
am 04.10.2007 (Bd. 3 Bl. 584) befand sich das Verfahren für den Rechtsanwalt gem. §
19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 RVG noch in der ersten Instanz, da die Revision erst am
06.10.2007 verfasst und am 09.10.2006 eingelegt wurde (vgl. auch Burhoff, RVG Straf-
und Bußgeldsachen, Nr. 4112 Rn.4 mit Hinweis auf Nr. 4106 Rn6).
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V. Verfahrensgebühr für das vorbereitende Verfahren:
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Die angemeldete Gebühr Nr. 4104 VV RVG (Bd. III Bl. 755) ist nicht entstanden.
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Bevor die Anklage bei Gericht am 05.09.2005 einging (Bd. I Bl. 244), hatte zwar der
Sozietätskollege des Beschwerdeführers das Mandat übernommen und Akteneinsicht
erhalten (Bd. I Bl. 78, 110), dieser hatte jedoch das Mandat dann am 19.09.2005
niedergelegt (Bd. I Bl. 250), bevor der Beschwerdeführer am gleichen Tag und somit erst
nach Anklageeingang erstmals mit der Bitte, ihn zum Pflichtverteidiger zu bestellen,
auftrat. Im vorbereitenden Verfahren ist der bestellte Rechtsanwalt ausweislich der
Akten somit m.E. nicht tätig geworden.
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Im Ergebnis wurden dem Beschwerdeführer somit m.E. 44,08 € zu viel festgesetzt, im
Einzelnen (beschränkt auf die Berechnung der streitbefangenen Gebühren):
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Ich rege daher an, die sofortige Beschwerde gegen den angefochtenen Beschluss im
Ergebnis zurückzuweisen. Zugleich erhebe ich für die Landeskasse die
unselbstständige Anschlussbeschwerde mit dem Antrag, die aus der Staatskasse zu
gewährende Vergütung auf lediglich 3.132,62 € (3.176,70 € abzgl. 44,08 €)
festzusetzen."
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Diesen zutreffenden Ausführungen schließt der Senat sich an.
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